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"Wie eine lebhafte Nacht in Belfast"

Basra/Irak: Britische Truppen sorgen in ihrer Besatzungszone für Tumult und Unruhe

Folgendes haben wir in unserer Irak-Chronik gemeldet:
Britische Soldaten haben am Abend des 19. Sept. die Mauern des zentralen Gefängnisses in der irakischen Stadt Basra mit Panzern eingerissen und dort festgehaltene zwei Kameraden befreit. Ein Sprecher des britischen Verteidigungsministeriums erklärte in London, die beiden Soldaten seien nach Verhandlungen mit den irakischen Behörden freigelassen worden. Den Berichten über der den Einsatz der Panzer widersprach er aber nicht. Der Gouverneur von Basra sprach von einer barbarischen Aktion. Die irakischen Behörden hatten die beiden Briten am Montag festgenommen, weil sie auf zwei irakische Polizisten geschossen haben sollen, von denen einer später starb. Berichten zufolge handelt es sich bei ihnen um Soldaten, die verdeckt eingesetzt waren. Gouverneur Mohammed al Waili sagte, die Briten hätten zehn gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber bei dem Angriff auf das Gefängnis eingesetzt. Er sprach von einem "barbarischen, primitiven und unverantwortlichen" Akt. Ein Augenzeuge der Vorfälle in Basra, der irakische Kameramann Akuil Dschabbar, berichtete, als die Briten das Gefängnis gestürmt hätten, seien auch rund 150 irakische Häftlinge aus dem Gefängnis geflüchtet. Bereits zuvor hatten Demonstranten Steine und Molotow-Cocktails auf die britischen Panzer geschleudert, nachdem die Soldaten das Gefängnis umstellt hatten. Mindestens vier Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben. Ein brennender britischer Schützenpanzer war zu sehen. Ein britischer Soldat flüchtete vor der aufgebrachten Menschenmenge. Laut britischen Presseberichten wurden drei Soldaten verletzt.
Nach der gewaltsamen Befreiung zweier britischen Soldaten durch die britische Armee in Basra hat die irakische Regierung sich bemüht, die Wogen zu glätten. Trotz des Vorfalls gebe es "keine Krise" zwischen Bagdad und London, erklärte ein Regierungssprecher am 20. Sept. Entgegen den Berichten "einiger Medien" über Spannungen seien die Regierungen beider Staaten in "engem Kontakt". Das irakische Innenministerium werde den Vorfall in Basra aufklären. Die britische Armee hatte am 19. Sept. zwei bei einem Geheimdiensteinsatz von der irakischen Polizei festgenommene und später in die Hände von Schiitenmilizen geratene britische Soldaten gewaltsam befreit. Der Vorfall hatte zu Spannungen mit der irakischen Polizei und der Zivilbevölkerung in Basra geführt.

Zu den Vorfällen in Basra schreibt die Irak-Korrespondentin Karin Leukefeld im "Neuen Deutschland" einen Bericht, den wir im Folgenden dokumentieren.


Erinnerung an Belfast in Basra

Mit der relativen Ruhe in der südirakischen Stadt ist es vorbei

Von Karin Leukefeld

Bislang galt das südirakische Basra, das von britischen Soldaten besetzt gehalten wird, als eine friedliche Stadt. Diese Ruhe endete abrupt in den letzten Tagen.

»Wie eine lebhafte Nacht in Belfast« – so beschrieb der britische Oberst Tim Collins nach einer Medienanfrage die Situation in der südirakischen Stadt Basra in den letzten Tagen. In der im Vergleich zu Bagdad und Nordirak eher ruhigen Hafenstadt Basra waren in der vergangenen Woche mehrere Autobomben explodiert. Mindestens 24 Menschen verloren ihr Leben, darunter vier Personenschützer für US-Diplomaten und drei britische Soldaten.

Am Sonntag [18. September 2005] kam es erneut zu gewaltsamen Protesten der Bevölkerung, als britische Besatzungstruppen versuchten, zwei Männer zu befreien, die kurz vorher von der irakischen Polizei inhaftiert worden waren. Nach Aussage der Iraker habe es sich um Geheimdienstleute gehandelt, die irakische Polizisten erschossen hätten. Die beiden Männer seien wie Araber gekleidet gewesen und hätten auf irakische Polizisten an einem Kontrollpunkt geschossen, als diese ihr Auto überprüfen wollten.

Britische Soldaten haben tatsächlich den Befehl, an Kontrollpunkten der Iraker nicht zu halten, weil es sich auch um einen Hinterhalt von Aufständischen handeln könnte, wie das bereits mehrfach geschehen ist. Nach der Schießerei, so wurde weiter in Basra mitgetilet, seien die Männer festgenommen und inhaftiert worden.

Als britische Panzer das Gefängnis umstellten, bewarfen wütende Iraker die Fahrzeuge mit Steinen und zündeten sie schließlich an. Fernsehaufnahmen zeigten fliehende Soldaten, die von ihren Panzern herunterspringen.

Die Freilassung der beiden Männer wurde schließlich mit Gewalt erzwungen, wobei die Darstellungen des irakischen Innen- und des britischen Verteidigungsministeriums auseinandergehen. Nach britischen Angaben hätten Soldaten eine Kette um das Gefängnis gebildet und bei dem Versuch, die beiden Männer »abzuholen», habe ein Panzer die Mauer beschädigt. Irakischen Angaben zufolge, hätten sechs Panzer die Mauer zerstört, bevor Soldaten das Gefängnis gestürmt und die beiden Männer befreit hätten.

Auch für Journalisten ist Basra unsicherer geworden. Fakher Haydar Al-Tamimi, der als freier Mitarbeiter uunter anderem für die »New York Times« arbeitete, war nach Aussagen seiner Frau von acht maskierten und bewaffneten Männern abgeholt worden. In anderen Darstellungen heißt es, vier zivil gekleidete Männer hätten ihn mitgenommen. In jedem Fall stellten sich die Männer als Polizisten vor und sagten, sie würden ihn nach seiner Befragung zurückbringen. Wenige Stunden später wurde Al-Tamimi mit gefesselten Händen und einer Kugel im Kopf tot aufgefunden. Er ist der 68. Journalist, der seit Beginn der US-Invasion im März 2003 in Irak getötet wurde. Reporter ohne Grenzen forderten die »irakischen Behörden und die britisch-amerikanische Militärkoalition« auf, die letzten Morde an Journalisten »schnell und gründlich zu untersuchen, um weitere Tragödien dieser Art zu verhindern«.

Aus: Neue4s Deutschland, 21. September 2005


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