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UNO untersucht Überfall auf Konvoi

Menschenrechtsrat beschloss Gaza-Ermittlungsteam / Gysi traf israelischen Botschafter

Zwei Tage nach dem israelischen Überfall auf einen Gaza-Hilfskonvoi hat der UNO-Menschenrechtsrat beschlossen, den Tathergang von einem internationalen Ermittlungsteam aufklären zu lassen.

32 der 47 Mitgliedsländer des UNO-Menschenrechtsrates in Genf stimmten für die Entsendung einer unabhängigen Untersuchungskommission. Die USA, Norwegen und Italien waren dagegen. Neun Länder, darunter auch weitere EU-Mitglieder, enthielten sich.

In der Resolution wird Israel für sein Vorgehen gegen Schiffe mit Hilfsgütern für die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen verurteilt. Der Militäreinsatz hatte neun Todesopfer gefordert. Mehr als 50 Menschen wurden verletzt. Außerdem wurde die Regierung Israels zur vollständigen Aufgabe ihrer Gaza-Blockade aufgefordert.

Einige EU-Länder bedauerten, dass sie sich der Resolution nicht anschließen konnten. Die Niederlande lehnten es ab, mit der Resolution über die Erklärung des Weltsicherheitsrates vom Dienstag (1. Juni) hinauszugehen. Darin war Israel nicht namentlich als Schuldiger genannt worden. Außerdem hatte sich der Sicherheitsrat nur für eine »glaubhafte und transparente« Klärung ausgesprochen. Die USA ließen durchblicken, dass Israel die Untersuchung selbst vornehmen könnte.

Aus diplomatischen Kreisen in Genf hieß es, dass die Türkei bei dem Ringen um die Resolution eine harte Linie gefordert hatte. Nach bisherigen Informationen kamen die meisten Opfer aus der Türkei.

Human Rights Council decides to dispatch independant fact finding mission to investigate Isareli attack on humanitarian boat convoy

2 June 2010

Holds Dialogue with Experts on Independence of Lawyers and Human Rights while Countering Terrorism, Hears Presentation of Joint Study on Secret Detention

The Human Rights Council in its midday meeting adopted a resolution on the attack by Israeli forces against the humanitarian flotilla bound for Gaza in which it condemned in the strongest terms the outrageous attack by the Israeli forces which resulted in the killing and injuring of many innocent civilians from different countries, and decided to dispatch an independent international fact finding mission to investigate violations of international law resulting from the Israeli attack.

The Council adopted a resolution, by a vote of 32 in favour, three against, and nine abstentions, in which it deeply deplored the loss of life of innocent civilians and expressed its deepest sympathy and condolences to the victims and their families. The Council called on Israel to fully cooperate with the International Committee of the Red Cross to seek and provide information on the whereabouts, status and condition of the detained and injured persons and demanded that Israel release all detained men and material and facilitate their safe return to their homelands. It also called on Israel to immediately lift the siege on occupied Gaza and other occupied territories.

Pakistan, on behalf of the Organization of the Islamic Conference and the Arab Group, introduced the resolution. Israel and Palestine spoke as concerned countries. Speaking before and after the resolution was adopted were the United States, France, United Kingdom, Netherlands, Norway and Nicaragua. (...)

Quelle: UN Human Rights Council; www2.ohchr.org



Unterdessen hat Israel alle festgenommenen Aktivisten wieder freigelassen – unter ihnen auch die fünf zunächst noch festsitzenden Deutschen. Die Ausländer würden in ihre Heimatländer zurückgeschickt, kündigte ein Sprecher der Justizvollzugsbehörden am Mittwoch in Jerusalem an. Nach der Erstürmung der Hilfsflottille in der Nacht zum Montag waren 682 Aktivisten festgesetzt worden.

In Berlin traf der Vorsitzende der Linksfraktion des Bundestages, Gregor Gysi, mit dem israelischen Botschafter in Deutschland, Yoram Ben-Zeev, zusammen. Anschließend teilte die Fraktion in einer Presseerklärung mit, dass Gysi »gegen den völkerrechtswidrigen Akt mit Toten und Verletzten gegen die Schiffe, die Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten«, protestiert habe. Weiter hieß es: »Ebenso protestierte er gegen die Seeblockade des Gaza-Streifens durch Israel. Der israelische Botschafter wies darauf hin, dass die Besetzung des Gaza-Streifens beendet wurde, die Hamas aber nach wie vor gegen Israel Krieg erklärt habe und führe. Deshalb sei es Feindesland und man sei zur Blockade berechtigt. Die Blockade könnte sogar weiter gehen, als sie praktisch gehandhabt werde. Es sei den Organisatoren der Hilfs-Flottille auch nicht um die Hilfsgüter gegangen, die man auch anders in den Gaza-Streifen hätte bringen lassen können, sondern um die Durchbrechung der Blockade. Diese könne Israel zur Vermeidung von Waffenlieferungen und einer Unterstützung der Hamas nicht zulassen.«

Gysi hielt dem entgegen, »dass das Internationale Recht immer und für jeden Staat gelte, auch für Israel. Piraterie sei keinem Staat gestattet. Außerdem sei durch die Toten und Verletzten die Verhältnismäßigkeit nicht im Mindesten gewahrt worden. Israel mache eine Politik, die das eigene Ansehen schwer beschädige und das der Hamas erhöhe.«

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2010


"Wir wurden mit Kabelbindern gefesselt"

Brutales Vorgehen des israelischen Militärs bei dem Überfall auf den Hilfskonvoi nach Gaza. Ein Gespräch mit Inge Höger **

Inge Höger ist abrüstungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linkspartei.

Sie waren an Bord des türkischen Schiffes »Mavi Marmara« - wie haben Sie den Überfall israelischer Soldaten auf den Konvoi erlebt, der Hilfsgüter nach Gaza bringen wollte?

Wir hatten damit gerechnet, daß Israel es nicht so einfach hinnehmen wird, daß eine Flotille mit Hilfsgütern und rund 700 Menschen an Bord nach Gaza fährt. Einen so brutalen militärischen Überfall hat aber niemand erwartet.

Was haben Sie davon mitbekommen?

Die Schüsse habe ich nicht gehört, ich war unten im Schiff, im »Frauendeck« - das war anfänglich abgeschlossen, wohl vorsorglich zu unserem Schutz. Über den Bordlautsprecher informierte uns der Kapitän, der Frachter sei von den Israelis übernommen worden. Wir sollten zu den übrigen Passagieren in ein anderes Deck gehen - was wir auch taten.

Verschiedene Leute berichteten mir dann, was sich an Deck abgespielt hatte, wie kriegerisch und brutal die israelischen Spezialkräfte vorgegangen sind. Bei Sonnenaufgang wurde unser Schiff plötzlich von Schnellbooten und anderen Kriegsschiffen umringt, von Hubschraubern ließen sich Soldaten auf das Deck herunter. Dann wurden wohl Tränengasbomben gezündet, und es fielen die ersten Schüsse.

Über die Zahl der Toten gibt es unterschiedliche Angaben - von zehn bis 19. Können Sie zur Aufklärung beitragen?

Wie viele es waren, kann ich aus dem, was ich gehört und gesehen habe, nicht beurteilen. Unser Kollege vom IPPNW, der Arzt Matthias Jochheim, hat vier Leichen gesehen - ich selbst allerdings keine. An vielen Ecken an Bord wurden jedenfalls Verletzte versorgt, es gab auf dem Schiff eine eigene Sanitätergruppe.

Ich habe viele Verletzte gesehen, teils blutüberströmt, teils mit rot durchtränkten Verbänden. Auch die Hemden der Ärzte waren mit Blutflecken übersät.

Wie verlief der erste Kontakt mit israelischen Soldaten?

Wir sahen zunächst nur Uniformen, Gesichtsmasken und die auf uns gerichteten Maschinenpistolen. Die Soldaten verhinderten, daß wir uns auf dem Schiff frei bewegen konnten. Kontakt würde ich das also nicht nennen.

Dann wurden alle Passagiere an Deck einzeln von Soldaten durchsucht, wobei sie vorbereitete Zugriffslisten dabei hatten, mit Porträtfotos vieler Passagiere. Die Bilder - das konnte ich erkennen - waren auf Kreta gemacht worden, bei unserer ersten Besprechung über die Vorbereitungen zur Abfahrt des Hilfskonvois. Bei diesem Treffen war also der israelische Geheimdienst schon mit von der Partie.

Uns wurden dann mit Kabelbindern die Hände gefesselt, bei vielen auch auf dem Rücken. Die Männer mußten sich hinknien, wir Frauen durften uns auf Bänke setzen. So haben wir den ganzen Montag vormittag verbracht.

Währenddessen kreisten ständig Hubschrauber über dem Schiff, es wurden Verletzte abgeholt, immer neue Soldaten herangeschafft. Die gingen dann in voller Bewaffnung unter Deck.

Am Nachmittag durften auch wir runtergehen, um uns was zu essen holen zu können. Da sahen wir die Bescherung: Die Soldaten hatten dort wie die Vandalen gehaust, hatten das gesamte Gepäck der Passagiere zerstört und verstreut, es war ein heilloses Durcheinander.

Aber nachdem Ihr Frachter unter militärischer Bewachung im Hafen Ashdod festgemacht hatte, wurden Sie von den israelischen Behörden übernommen. War die Behandlung dort wenigstens korrekt?

Da war nichts korrekt, angefangen damit, daß dieser Übergriff in internationalen Gewässern stattfand, somit gegen das Völkerrecht verstößt. So, wie man uns behandelt hat, kann man das Ganze nur als Kidnapping bezeichnen.

Man hat Sie gestern morgen ins Flugzeug gesetzt, sie sind aber ohne Gepäck in Berlin-Schönefeld angekommen ...

An mein Reisegepäck kam ich gar nicht erst heran. Aus meiner Handtasche durfte ich lediglich noch den Diplomatenpaß herausnehmen - alles andere wurde einbehalten: Hausschlüssel, Handy, Notizen. Den Ausweis habe ich natürlich bewacht wie nichts. Mit Hilfe dieser Ausweise erreichten meine Kollegin Annette Groth und ich schließlich, daß wir Kontakt zur deutschen Botschaft aufnehmen konnten. Das war uns bis zum späten Abend verweigert worden.

Die Botschaft hatte von sich aus den ganzen Tag lang versucht, uns zu kontaktieren - das wurde aber vom israelischen Militär verhindert.

Interview: Peter Wolter

** Aus: junge Welt, 2. Juni 2010


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