Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schwere Vorwürfe gegen israelische Streitkräfte / Zahlreiche spontane Proteste

Auch Kritik in den israelischen Medien nimmt zu: Dubioses Sondergremium traf Entscheidung zum Angriff

Wir setzen unsere Berichterstattung über den Überfall der israelischen Streitkräfte auf einen internationalen Hilfskonvoi für Gaza mit vier Beiträgen und Kommentaren fort.

Erste deutsche Gaza-Aktivisten nach Deutschland zurückgekehrt

Abgeordnete der LINKEN erheben schwere Vorwürfe *

Nach ihrer Freilassung aus israelischer Gefangenschaft haben Bundestagsabgeordnete der Linkspartei schwere Vorwürfe erhoben. Die Abgeordnete Inge Höger beschrieb die Aktion des israelischen Militärs gegen einen internationalen Hilfskonvoi am Dienstag (1. Juni) in Berlin mit den Worten: "Wir haben uns wie im Krieg und gekidnappt gefühlt." Ihre Kollegin Annette Groth sprach von einem "barbarischen Akt". Beide äußerten die Vermutung, dass erheblich mehr Menschen getötet wurden als die offiziell neun Toten.

Höger und Groth gehörten zu einer Gruppe von deutschen Gaza-Aktivisten, die mit einer "Solidaritätsflotte" Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen wollten. Die Schiffe wurden in der Nacht zum Montag von israelischen Elite-Soldaten gestoppt. Höger äußerte die Vermutung, dass bei der Kommandoaktion bis zu 19 Menschen starben. Die beiden Politikerinnen waren am Dienstagabend im israelischen Hafen Aschdod freigelassen worden, nachdem die deutsche Botschaft zu ihren Gunsten interveniert hatte.

Zusammen mit den beiden Abgeordneten kehrten auch drei weitere Bundesbürger zurück, darunter der ehemalige Linke-Abgeordnete Norman Paech. Paech hielt Israel sogar ein "Kriegsverbrechen" vor. "Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Brutalität."

Der Weltsicherheitsrat hat indesssen eine sofortige unabhängige Untersuchung gefordert. Diese müsse "unabhängig, glaubwürdig und transparent" sein, hieß es in einer am frühen Dienstag (1. Juni) vom Rat verabschiedeten Präsidentenerklärung.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthielt sich einer Verurteilung Israels und verurteilte nur das Vorgehen, das zu Toten und Verletzten führte. Israel wird im Text der Erklärung nicht namentlich genannt. Der Sicherheitsrat forderte Israel in seiner völkerrechtlich bindenden Erklärung auf, die Aktivisten wieder auf freien Fuß zu setzen und auch die Schiffe wieder freizugeben. Israel solle dafür sorgen, dass die humanitären Güter, die der Hilfskonvoi an Bord hatte, den Gazastreifen erreichen.

Das oberste Weltgremium war auf Antrag der Türkei am Montag (31. Mai) zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen, um das Vorgehen der Israelis gegen die "Gaza-Solidaritätsflotte" zu erörtern. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu, der an der offenen Aussprache im Rat teilnahm, bezichtigte Israel eines "schweren Verbrechens". Es gebe keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung für die Tat, sagte er. Die Mitglieder des 15-Länder-Gremiums erklärten sich "zutiefst besorgt über die humanitäre Situation in Gaza". Sie verlangen die "nachhaltige und ununterbrochene Versorgung der Menschen im Gazastreifen" mit allem Nötigen und die unbehinderte Verteilung aller humanitären Hilfe vor Ort.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juni 2010


Die Welt schreit auf

Nach dem Überfall der israelischen Marine auf Friedensflotte für den Gazastreifen: Regierungen und Bürger protestieren

Von André Scheer, Christian Bunke und Knut Mellenthin **


Weltweit haben Regierungen, Parteien und einfache Menschen mit Empörung auf den Überfall der israelischen Marine auf die humanitäre Friedensflotte für den Gazastreifen reagiert. Während israelische Medien versuchten, den Piratenakt vom Montag zu rechtfertigen, demonstrierten am Hafen von Aschdod Mitglieder der Israelischen Koalition gegen die Gaza-Blockade ihre Unterstützung für die Teilnehmer des Hilfskonvois. In diesen südlich von Tel Aviv an der Mittelmeerküste gelegenen Hafen waren die gekaperten Schiffe gebracht worden. Der Vorsitzende des israelischen Linksbündnisses Hadash, Mohammad Barakeh, »gratulierte« der israelischen Regierung zu dem »glorreichen Sieg ihrer Piratenarmee gegen die zivilen Freiheitsschiffe«. Die »Tyrannen« Netanjahu und Barak »werden sich auf dem ihnen angemessenen Platz, auf dem Müllhaufen der Geschichte, wiederfinden«, kündigte Barakeh an, der auch führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Israels ist.

Weltweit kam es am Montag und Dienstag (31. Mai, 1. Juni) zu spontanen Protestkundgebungen vor israelischen Botschaften und Konsulaten. In Berlin demonstrierten noch am Montag rund 500 vor allem türkische und arabische Migranten vor der diplomatischen Vertretung Israels. Palästinensische Frauen skandierten dabei »Israel bombardiert, Merkel finanziert!« Zu einer weiteren Demonstration am Dienstag abend in Berlin hatten antifaschistische Gruppen aufgerufen. In München demonstrierten rund 400 Menschen, unter ihnen Vertreter der Palästinensischen Gemeinde, der Linkspartei und der SDAJ. In einer Erklärung forderte der DKP-Vorstand, die Verantwortlichen für die Piraterie und Morde vor unabhängigen Gerichten anzuklagen und alle deutschen Waffenlieferungen an Israel sofort zu beenden. Zugleich warnte er: »Laßt euch durch diese Ereignisse nicht für antisemitische Politik mißbrauchen.« Auch in Bremen, Bonn, Freiburg und anderen deutschen Städten, in Österreich und der Schweiz kam es zu Kundgebungen.

In London belagerten rund 2000 Menschen die israelische Botschaft. Hier ergriffen unter anderem der Labour-Unterhausabgeordnete Jeremy Corbyn und der Historiker und Publizist Tariq Ali das Wort. Auch in Manchester zogen mehrere tausend Menschen durch die Stadt und protestierten vor allem gegen die einseitig pro-israelische Berichterstattung der BBC. Als sie deshalb kurzzeitig die Studios der Rundfunkgesellschaft besetzten, griffen Spezialeinheiten der Polizei ein und gingen gewaltsam gegen die Besetzer vor. Auch Delegationen der Gewerkschaften UNITE und UCU, die derzeit in Manchester ihre Kongresse abhalten, beteiligten sich an der Demonstration, nachdem die Führungsspitzen beider Arbeiterorganisationen die Delegierten offiziell zur Teilnahme aufgerufen hatten. Weitere Demonstrationen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmenden gab es unter anderem in Bristol, Nottingham und Cardiff.

In Lateinamerika reagierten die Regierungen unisono mit heftiger Empörung auf das israelische Vorgehen. Brasiliens Außenministerium betonte, nichts rechtfertige die militärische Intervention gegen einen friedlichen Schiffskonvoi, der strikt humanitären Charakter gehabt habe, und forderte Israel auf, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben, um seinen Bewohnern Bewegungsfreiheit und Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser zu ermöglichen. In Havanna unterstrich die kubanische Regierung noch einmal ihre Unterstützung für den »gerechten Kampf des palästinensischen Volkes um die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt«. In einer am Dienstag von der Tageszeitung Granma unter dem Bild einer von einem israelischen Dolch erstochenen Friedenstaube veröffentlichten offiziellen Erklärung heißt es: »Das Außenministerium verurteilt energisch diesen hinterhältigen und verbrecherischen Angriff der Regierung Israels und ruft die internationale Gemeinschaft und die friedliebenden Völker auf, von den israelischen Behörden die sofortige Aufhebung der gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen gerichteten illegalen, schonungslosen und völkermörderischen Blockade zu verlangen.«

Auch Venezuela verurteilte das »brutale Massaker«. »Präsident Hugo Chávez drückt im Namen seiner Regierung und des venezolanischen Volkes seine tiefe Trauer aus und übermittelt den Familien und Angehörigen der Helden, die Opfer dieses staatlichen Verbrechens wurden, sein Beileid. Er verpflichtet sich, ihr Andenken zu ehren und die notwendige Hilfe zu leisten, damit die Verantwortlichen für diese Morde hart bestraft werden«, heißt es in der vom venezolanischen Außenministerium in Caracas verbreiteten Erklärung.

Der russische Präsident Dmitri Medwedew verurteilte den israelischen Angriff auf den Hilfskonvoi und verlangte eine genaue Untersuchung. Doch auch dadurch würden die »absolut unnötigen« Opfer nicht wieder lebendig, erklärte er am Dienstag nachmittag bei einem Gipfeltreffen von EU und Rußland in Rostow am Don. Sein Außenminister Sergej Lawrow und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderten Israel auf, Hilfs- und Handelstransporte in den Gazastreifen ungehindert passieren zu lassen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der nach den ersten Nachrichten über den israelischen Piratenakt eine Südamerika-Reise abgebrochen hatte, sprach am Dienstag nach einem Krisentreffen der militärischen Führung des Landes von einem »blutigen Massaker«. Es habe sich um einen Angriff »auf das internationale Recht, das Gewissen der Menschheit und den Weltfrieden« gehandelt. Das türkische Außenministerium warnte, der Schaden für die türkisch-israelischen Beziehungen sei »möglicherweise irreparabel«. Libanons Regierungschef Saad Hariri sprach von einer »gefährlichen und wahnsinnigen Aktion« Israels, die die gesamte Region in Brand setzen könne. Ein irakischer Regierungssprecher nannte die Kaperung der Hilfsschiffe »eine weitere humanitäre Katastrophe«, die sich in Israels bisherige Blockadepolitik gegen das Gaza-Gebiet einreihe.

** Aus: junge Welt, 2. Juni 2010


Israels dubiose Siebener-Gruppe

Sondergremium traf Entscheidung zum Sturm auf den Schiffskonvoi

Von Oliver Eberhardt ***


Je mehr Details über den israelischen Truppeneinsatz gegen einen Hilfskonvoi bekannt werden, desto deutlicher wird die Kritik der israelischen Medien. Denn zunehmend ist klar: Die Entscheidung über den Truppeneinsatz wurde außerhalb der üblichen Kanäle getroffen.

Die Mitglieder der ebenso sagenumwobenen wie streng geheimen Eliteeinheit »Schajeteth 13« (Flotte 13) waren jahrzehntelang dafür bekannt, selbst mit den schwersten Situationen unter den widrigsten Umständen fertig zu werden. In der Nacht zum Montag scheiterten sie ausgerechnet an einem alltäglichen Umstand: einem Schiff voller Zivilisten, deren einzige Bewaffnung Knüppel und Küchenmesser waren. Am Ende der Nacht waren mindestens neun von ihnen tot, an die 60 zum Teil schwer verletzt.

Ein »Fiasko auf hoher See« titelte die linksliberale Zeitung »Ha-aretz« am Dienstag (1. Juni), und die Kollegen bei der größten israelischen Zeitung »Jedioth Ahronoth« fragten in einem Kommentar, warum niemand darauf vorbereitet war, dass die Soldaten beim Sturm des Schiffes angegriffen werden könnten. Die Redaktion der konservativen »Maariv« kommentierte, die internationalen Folgen einer solchen Aktion hätten selbst »von einem Sechsjährigen« vorhergesehen werden können: »Die Mitglieder dieser Einheit sind einfach nicht für den Umgang mit Zivilisten ausgebildet.«

Die Feststellung der Regierungssprecher, die im persönlichen Gespräch mit zunehmender Ermüdung immer aggressiver vertreten wird, es sei ja wohl so, dass die Soldaten angegriffen worden seien, und dass man sich ja wohl noch zur Wehr setzen dürfe, wenn man attackiert werde, wird von den Medien kaum noch unterschrieben. Das sah in den ersten Stunden nach dem Angriff noch anders aus. Da waren die Medien der Version der Regierung gefolgt, weil jene wegen einer teilweisen Nachrichtensperre und gestörter Telefonverbindungen in der Umgebung der Schiffe die einzig verfügbare war: »Wir haben in Israel Einheiten von Militär und Grenzpolizei, die im Laufe der vergangenen Jahre gelernt haben, unblutig mit gewalttätigen Demonstranten umzugehen«, erklärte ein Experte in den Abendnachrichten des Fernsehsenders Kanal Zwei. »Schajeteth 13 gehört nicht dazu, und es ist sehr wahrscheinlich, dass man das Kommando nicht eingesetzt hätte, wenn die Entscheidung in den üblichen Kanälen und mit der geforderten Sorgfalt getroffen worden wäre.«

Wenige Minuten zuvor hatte der Sender enthüllt, dass der Beschluss, auf diese Weise gegen den Schiffskonvoi vorzugehen, nicht wie üblich nach umfassenden Planungen gefällt wurde. Normalerweise beraten sich Generalstab und das Sicherheitskabinett vor einem Beschluss des Kabinetts. Der blieb aus. Diesmal entschied die »Siebener-Gruppe« eigenmächtig, ein von Premierminister Benjamin Netanjahu gebildeter Stab aus sieben Ministern und engen Beratern, der nicht nur keinerlei Entscheidungsbefugnis hat, sondern auch noch seine Meinung allein auf Informationen von Generalstabschef Gabi Aschkenazi und Mossad-Direktor Meir Dagan stützte. »Diese Vorgehensweise erinnert sehr stark an den Beginn des Libanon-Krieges 2006«, schrieb »Jedioth Ahronoth« in einer Analyse am Dienstag (1. Juni).

*** Aus: Neues Deutschland, 2. Juni 2010


Sprachlos

Von Olaf Standke ****

Nach dem in der jüngeren Geschichte beispiellosen Militärschlag gegen eine humanitäre Hilfsflotte vor der Küste Gazas verschlug es wohl selbst dem eloquenten Medienpräsidenten Barack Obama die Sprache. Er griff lieber nach dem Feigenblatt noch fehlender Fakten zu diesem »blutigen Massaker«, wie es der türkische Regierungschef Erdogan nannte. Von Israels Premier Netanjahu erwartet Obama sie augenscheinlich nicht, denn das für gestern in Washington geplante Gespräch fiel aus. Ungeachtet dessen und trotz mancher Brüskierung durch den Juniorpartner versuchte Israels wichtigster Verbündeter in den Beratungen des Weltsicherheitsrates, das Schlimmste an Verurteilung zu verhindern. Wer wie der dortige USA-Botschafter meint, es gäbe bessere Wege, humanitäre Güter in den von Israel abgeschotteten Gazastreifen zu bringen, kann die auch von UN-Behörden konstatierte katastrophale Lebenslage der palästinensischen Bevölkerung kaum kennen.

Der jüdische Staat hat alles Recht der Welt, seine Bevölkerung zu schützen. Aber daraus lässt sich kein Freibrief für fortgesetzte massive Verletzungen des Völkerrechts ableiten, zumal man sich der internationalen Gerichtsbarkeit vorsorglich entzogen hat. Hier dürfen von einem USA-Präsidenten, der den Friedensprozess im Nahen Osten wiederbeleben und der islamisch-arabischen Welt die Hand reichen will, klare Worte verlangt werden. Sprachlosigkeit ist keine Antwort.

**** Aus: Neues Deutschland, 2. Juni 2010 (Kommentar)


Zurück zur Gaza-Seite

Zur Israel-Seite

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage