Hilferuf aus Gaza
Krankenhäuser und Ärzte können wegen Blockade nicht einmal mehr Minimalversorgung für 1,5 Millionen Palästinenser gewährleisten. Grenzöffnung in Rafah eine Farce
Von Rüdiger Göbel *
Während hierzulande der Streit tobt, ob Linke an einer neuerlichen Solidaritätsflotte für Gaza teilnehmen dürfen, kommt aus den von Israel kontrollierten palästinensischen Gebieten ein eindringlicher Hilferuf. In den Krankenhäusern, Gesundheitszentren und Arztpraxen des Gazastreifens ist mittlerweile die Minimalversorgung der Patienten kaum noch zu schaffen, meldete die Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS) am Dienstag. Es fehle an Medikamenten, Geräten und anderen unentbehrlichen Hilfsmitteln. Gazas stellvertretender Gesundheitsminister Hassan Khalaf erklärte demnach, »wir haben hier eine schwere Versorgungskrise, die außer Kontrolle geraten könnte. Viele Gesundheitsdienste sind nicht mehr verfügbar.«
Konkret sollen Schmerz-, Betäubungs- und Dialysemittel, Antibiotika, Medikamente für Epilepsie- und Krebskranke, Säuglingsnahrung und sogar Gummihandschuhe fehlen. Betroffen sind 1,5 Millionen Palästinenser, die in dem von Israel abgeriegelten Landstreifen am Mittelmeer leben. Eine dieser Tage startende Solidaritätsflotte versucht, die israelische Seeblockade zu durchbrechen, und Hilfsgüter nach Gaza zu bringen.
Beim Krieg vor zwei Jahren, während der israelischen »Operation Gegossenes Blei« 2008/2009, wurden jedes zweite Krankenhaus sowie 44 kleine Kliniken und das medizinische Vorratslager des palästinensischen Roten Halbmonds zerstört. Nach Angaben von Khalaf bombardierte die israelische Armee im Februar in Jabliaya eine Lagerhalle mit Medikamenten. Dem stellvertretenden Gesundheitsminister zufolge müssen Hunderte Patienten, selbst Kleinkinder, auf dringende Operationen warten. In der britischen Medizinfachzeitung The Lancet berichten norwegische Ärzte von den Zuständen in Gazas größtem Krankenhaus, das sie im Februar 2011 besucht hatten. »Nach Auskunft von Onkologen konnten 100 von 260 Krebskranken nicht die benötige Medikamentenkombination erhalten.«
So wenig wie dringend benötigte Hilfe in den Gazastreifen kommt, so wenig dürfen Palästinenser das Gebiet verlassen. Die Wiedereröffnung des wichtigsten Grenzübergangs nach Ägypten vor vier Wochen brachte den Einwohnern in Gaza bisher nicht viel, wie die Nachrichtenagentur dapd berichtet. »200000 Menschen stehen auf der Warteliste, und allmählich wächst die Verzweiflung (…). Noch immer müssen die Einwohner um eine Reisegenehmigung nachsuchen; Termine für den Grenzübertritt gibt es frühestens für Ende August. Tag für Tag versammeln sich Ausreisewillige am Übergang Rafah. Sie halten Arztberichte, ausländische Aufenthaltsgenehmigungen und Aufnahmebestätigungen von Universitäten griffbereit in der Hoffnung, die Grenzer zu überreden, sie durchzulassen«, meldete die Agentur am Dienstag. »Wie es scheint, hat sich nichts geändert, und wir sind immer noch eingesperrt in diesem großen Gefängnis«, sagt einer der Wartenden.
Wohl mit Blick auf die bevorstehende Freedom-Flottille und die damit verbundene Negativpresse für Israel hat das dortige Militär am Dienstag dem Bau neuer Häuser und Schulen im belagerten Gazastreifen zugestimmt. Behördenangaben zufolge sind 1200 Häuser und 18 Schulen genehmigt worden. »Es wäre die größte Initiative zum Hausbau seit Jahren«, urteilt dapd. Zur Erinnerung: Durch das israelische Bombardement 2008/2009 wurden mindestens 22000 private und öffentliche Gebäude beschädigt oder zerstört. Das entsprach seinerzeit 14 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen.
* Aus: junge Welt, 23. Juni 2011
"Die Mitreisenden verpflichten sich zu Gewaltfreiheit"
Bisher größte "Free Gaza"-Solidaritätsflottille will israelische Blockade beenden. Ein Gespräch mit Gisela Siebourg **
Voraussichtlich am 27.Juni startet erneut eine »FreeGaza«-Solidaritätsflottille von internationalen Gewässern nahe Griechenland aus, um die israelische Seeblockade des palästinensischen Gazastreifens zu durchbrechen. Wer trägt das Unternehmen?
Eine breite Koalition aus Friedensaktivisten, säkularen, christlichen und muslimischen Gruppen. Die »Free Gaza«-Bewegung existiert seit 2008 und hat bereits neun Fahrten nach Gaza durchgeführt, von denen fünf auch erfolgreich waren. Vier waren nicht erfolgreich, insbesondere die Flottille im vorigen Jahr, deren Schiffe von der israelischen Marine in internationalen Gewässern geentert wurden. Um die Chancen zu vergrößern, hat man immer mehr Partnerorganisationen einbezogen, die sich in ihren Ländern für die Aufhebung der Blockade einsetzen. Das ist das gemeinsame Ziel, um die Isolation der über 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen zu durchbrechen, und natürlich, bei dieser Gelegenheit Hilfsgüter zu liefern.
Warum spricht ein Teil dieser Organisationen bei dieser Fahrt von der »Freedom Flottilla II«?
Frühere Fahrten haben in einem kleineren Rahmen stattgefunden. Die internationale Koalition hat sich seit 2010 erheblich vergrößert, aber schon bei der ersten Flottille im Vorjahr waren die meisten Organisationen dabei. So auch die »Europäische Kampagne zur Aufhebung der Blockade« und eine schwedisch-griechische Initiative. Eine Reihe von größeren Organisationen stellt Schiffe bereit, die mit der Flottille fahren; die kleineren schließen sich zusammen und beteiligen sich mit einem gemeinsamen Schiff.
Die türkisch-muslimische Hilfsorganisation IHH mit der Fähre »Mavi Marmara« wird dieses Mal nicht teilnehmen. Welche Bedeutung hat das?
Der Grund sind wohl die politischen Spannungen im östlichen Mittelmeerraum; die Türkei will jetzt keine weiteren diplomatischen Komplikationen. Voraussichtlich wird dies aber mit zehn Schiffen trotzdem die bisher größte Solidaritätsflottille.
Welche Rolle spielen dabei jüdische oder israelische Friedensaktivisten?
Vor allem EJJP, die »Europäischen Juden für einen gerechten Frieden«, sind stark beteiligt, aber auch jüdische Organisationen aus den USA und Kanada. Sie sind Bündnispartner in den Palästina-Solidaritätskoordinationen der jeweiligen Länder, deshalb tauchen ihre Namen nicht immer als eigenständige Partner im internationalen Lenkungsausschuß der Flottille auf.
Beim vorigen Schiffskonvoi dieser Art hat es neun Tote auf seiten der Palästina-Solidaritätsbewegung gegeben, als die israelische Marine angriff. Wie soll eine solche Eskalation dieses Mal vermieden werden?
Die Organisatoren wollen gewaltfrei agieren und alle Mitreisenden verpflichten sich schriftlich dazu. Zudem haben sie ihre Regierungen aufgefordert, auch auf Israel dahingehend einzuwirken, daß die Schiffe nicht mit Gewalt aufgehalten werden. Eine absolute Garantie gibt es leider nicht. Dessen sind sich die Mitreisenden bewußt.
Wer trifft Entscheidungen für die Flottille, wenn sie von der israelischen Marine aufgefordert wird, umzukehren oder einen israelischen Hafen anzulaufen?
Der Lenkungsausschuß wird sich schon vorher darüber einigen. Im allerletzten Moment ist aber jeder einzelne Kapitän gefordert, die Entscheidung zu treffen, weil der nun mal für sein Schiff verantwortlich ist. Aber man muß wohl damit rechnen, daß die israelische Marine ihnen diese Entscheidung abnehmen wird und die Schiffe in einen israelischen Hafen umleitet.
Das Auswärtige Amt und diverse Kritiker der »FreeGaza«-Bewegung verweisen darauf, daß es andere Wege gibt, Hilfsgüter zu den Palästinensern zu bringen. Die israelische Seite würde sie in diesem Fall entgegennehmen und verteilen. Wo liegt dabei das Problem?
Abgesehen davon, daß es nicht nur um die Hilfsgüter geht, sondern um eine Grundsatzentscheidung für das Ende der Blockade, haben wir die Erfahrung gemacht, daß man solchen Zusagen von israelischer Seite nicht hundertprozentig glauben kann. Nachdem die letzte Flottille gewaltsam gestoppt worden war, gelangten die Hilfsgüter in israelische Hand. Sie sind zwar zum größten Teil von israelischen Organisationen und der UNO nach Gaza eingeführt worden, aber zum Beispiel fehlten die Batterien der Rollstühle für Kriegsverletzte, die in großer Zahl auf den Schiffen transportiert worden waren. Sie waren somit leider unbrauchbar.
Interview: Claudia Wangerin
** Aus: junge Welt, 23. Juni 2011
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