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Ein prachtvolles Wort

Stéphane Hessels Streitschrift "Empört Euch!" ist in Frankreich in aller Munde

Von Hansgeorg Hermann *

Ein Text ist aufgetaucht, der die deutschen Feuilletons schwer erregt und unseren Nachbarn, den Franzosen, nun schon seit drei Monaten furchtbares Vergnügen bereitet. Er ist fast so betagt wie der Mann, der ihn ein bißchen modernisiert, noch einmal neu aufgeschrieben und in Druck gegeben hat. Und er ist so kurz, daß ihn auch ein müder Fabrikarbeiter nach Feierabend noch mit wachem Verstand lesen kann. Vierzehn Seiten nur, die Stéphane Hessel, ein Greis von 93 Jahren, im Oktober des vergangenen Jahres unters Volk brachte. Seither ist er mehr als 600000 mal für drei Euro verkauft und von wer weiß wie vielen Millionen Menschen gelesen worden. Ein »Bestseller«, wie Verleger sagen würden, mit dem Titel »Empört Euch!«.

Westlich des Rheins ist seit seiner Veröffentlichung nichts mehr so, wie es Nicolas Sarkozy nach seiner Wahl zum Präsidenten gern gehabt hätte. Auf einmal glauben die Leute wieder zu wissen, daß Solidarität nützlich ist. Sich beim Lesen an die Stirn fassend, entdecken sie, daß in Stein gemeißelte Parolen – wie »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – keine Gerechtigkeit garantieren. Des alten Mannes Erkenntnis schließlich, daß »die Diktatur der Finanzmärkte« nicht nur für den Niedergang demokratischer Staatsformen, sondern auch für Mord und Totschlag auf der Welt mitverantwortlich sei, ist zwar auch nicht neu, sorgte aber während der kalten Weihnachtstage in den kargen Stuben vieler tausend Arbeitsloser für wärmende Genugtuung.

Stéphane wurde 1917 in Berlin als Sohn des Schriftstellers Franz Hessel geboren, der jüdische Vater und die protestantische Mutter Helen Grund entschieden sich schon 1924, nach Frankreich zu ziehen, wo das Ehepaar – das sei am Rande erwähnt – François Truffaut Jahrzehnte später, in den wilden Sechzigern, zu dem bezaubernden Film »Jules et Jim« inspirierte. Stéphane, seit 1939 Staatsbürger, ist dort vor allem als Mann des Widerstands gegen den Faschismus bekanntgeworden. Einer, der als Halbjude (wie Adenauers späterer Kanzleramtschef Hans Globke das für die Nationalsozialisten scharf definiert hatte) von seinen ehemaligen Landsleuten gefangengenommen wurde und in Buchenwald nur knapp dem Tod entging. Aus dieser Zeit, aus dem Gedankengut und der Beschlußlage der weitgehend kommunistisch geprägten Résistance, stammt im Grunde genommen das, was der alte Kämpfer den jungen Franzosen heute zur Aufgabe macht: »Empört Euch!« – denn Empörung sei Pflicht, wenn in der Politik Gerechtigkeit und Menschlichkeit auf der Strecke bleiben.

Was der Rat des Vereinigten Widerstands am 15. März 1944 dem Land für die post-faschistische Zukunft versprach, sind bis in die Gegenwart Hessels Prinzipien geblieben, sie sind Essenz seiner millionenfach gelesenen Schrift: »Eine bis ins Einzelne geregelte Sozialversicherung für alle Bürger minderen Einkommens, gültig für jeden, der sich nicht durch eigene Arbeit ernähren kann. Eine Rente, die es jedem Arbeiter erlaubt, seinen Lebensabend in Würde zu beenden. Die Verstaatlichung der Energiequellen – Gas, Kohle, Elektrizität – und der Banken. Die Errichtung einer veritablen Demokratie, wirtschaftlich und sozial zugleich…«

Hessels Schrift schließt mit einer Warnung, die er und die überlebenden Veteranen des Widerstands am 8. März 2004 aussprachen: »Der Nazismus ist besiegt, weil sich unsere Schwestern und Brüder im Kampf gegen den Faschismus geopfert haben. Aber die Bedrohung ist nicht vergangen, und unser Zorn gegen jede Ungerechtigkeit bleibt intakt.« Sucht danach, verlangen die Alten, sucht nach der Ungerechtigkeit, ihr werdet sie überall finden – erhebt euch gegen sie.

Was Hessel und seine Kameraden womöglich vergessen haben, was auf den 14 Seiten fehlt, ist dies: Der Zusammenhang zwischen der »Repräsentativen Demokratie« und der »Diktatur der Finanzmärkte«. Zu erklären, daß es das eine ohne das andere nicht gibt. Und – woran Hessels Landsmann, der Philosoph Alain Badiou, in einer anderen aktuellen, in Frankreich ebenso beachteten Schrift, »De quoi Sarkozy est-il le nom?« (Was sich hinter dem Namen Sarkozy verbirgt), erinnert – daß »Kommunismus ein altes, prachtvolles Wort« geblieben ist, auch wenn es von beliebiger Geschichtsschreibung zum Symbol von Niederlage und Despotismus gemacht wurde.

* Aus: junge Welt, 18. Januar 2011

Gewaltlosigkeit als Prinzip

Kurze Auszüge aus "Empört euch" ("Indignez-vous")

(...) Den jungen Menschen sage ich: Schaut euch um, dann werdet ihr die Themen finden, die eure Empörung rechtfertigen - die Behandlung der Immigranten, der Illegalen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf Situationen stoßen, die euch drängen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Wenn ihr sucht, werdet ihr finden.

(...)

Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der unterschiedlichen Kulturen. Das ist der nächste Schritt, den die Menschheit wird tun müssen. Und in diesem Punkt bin ich derselben Ansicht wie Sartre: Man kann die Terroristen, die Bomben werfen, nicht entschuldigen, wohl aber verstehen. Sartre schrieb 1947: "Ich gebe zu, dass Gewalt, in welcher Form sie sich auch äußern mag, immer ein Fehlschlag ist. Aber es ist ein unvermeidlicher Fehlschlag, weil wir in einer Welt der Gewalt leben. Und auch wenn es zutrifft, dass der Rückgriff auf Gewalt diese Gewalt nur zu perpetuieren droht, so trifft doch auch zu, dass dies das einzige Mittel ist, ihr ein Ende zu setzen." Dem füge ich hinzu, dass Gewaltlosigkeit ein sichereres Mittel ist, der Gewalt ein Ende zu setzen. Man kann die Terroristen nicht im Namen dieses Prinzips unterstützen. Die Erkenntnis, dass terroristische Gewalt ihre Wirkung verfehlt, ist weitaus wichtiger als das Wissen, ob man Menschen, die zur Gewalt greifen, verdammen oder nicht verdammen sollte.

(...)

Das allein auf die Produktion ausgerichtete Denken, das der Westen propagiert, hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der sie sich nur befreien kann, wenn sie einen radikalen Bruch mit dem Drang nach "immer mehr" vollzieht, im Finanzsektor, in Wissenschaft und Technik. Es ist höchste Zeit, dass die Sorge um Ethik, Gerechtigkeit und ein dauerhaftes Gleichgewicht in den Vordergrund tritt. Denn sonst drohen äußerst große Gefahren. Sie können den Planeten Erde für den Menschen unbewohnbar machen.

(...)

Wie soll ich diesen Aufruf zur Empörung beschließen? Indem ich an die Erklärung erinnere, die wir zum 60. Jahrestag des Programms des Nationalen Widerstandsrats 2004 herausgegeben haben: "Der Nazismus ist besiegt worden dank des Opfers unserer Brüder und Schwestern aus der Résistance und der im Kampf gegen die faschistische Barbarei verbündeten Nationen. Doch die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden, und unser Zorn auf die Ungerechtigkeit ist immer noch da."

Nein, die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden. Und auch weiterhin rufen wir auf zu einem "friedlichen Aufstand gegen die Massenmedien, die unserer Jugend keine anderen Ziele anbieten als Massenkonsum, Verachtung für die Schwächeren und für die Kultur, eine allgemeine Amnesie und eine maßlose Konkurrenz aller gegen alle". (...)

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeit, 9. Januar 2011; im Internet: www.faz.net




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