Was sich ändert und was bleibt
Zum Ausgang der Bundestagswahl 2005
Von Peter Strutynski
JournalistInnen und Politologen haben zuweilen die Fähigkeit, mit ein oder zwei neuen Begriffen, die sie in die Debatte werfen, den politischen Diskurs zu bestimmen. Das war am Abend nach der Bundestagswahl der Fall, als plötzlich am Horizont eine neue Art der Koalition ins Spiel gebracht wurde: die Jamaika-Koalition oder, unappetitlicher, aber dadurch der Sache viel angemessener: Schwampel. Was eine Ampel in der Politik ist, das war dem Wahlvolk schon hinlänglich bekannt, wenngleich die Beispiele hierfür im realen parlamentarischen Alltag nicht sehr zahlreich sind. Auf Bundesebene hat es so etwas noch nicht gegeben, auf Landesebene bisher nur zwei Mal: Von 1990 bis 1994 in Brandenburg und von 1991 bis 1995 in Bremen. Bei der „Schwampel“ würde lediglich die SPD durch die CDU/CSU („Schwarz“) ausgetauscht.
Ampel oder Schwampel: Der Grundkonsens ist da
Sieht man einmal von der Rhetorik der Parteien in dem zurück liegenden Wahlkampf ab, die eine solche Konstellation, aber auch eine Ampel strikt ausschloss (im Fall der FDP sogar auf Grund eines Parteitagsbeschlusses), dürften die sachlichen Hindernisse auf dem Weg in eine solche Koalition nicht wesentlich größer sein als bei jeder anderen Lösung. Was Rot, Grün und Gelb genauso zusammenschweißen könnte wie Schwarz, Gelb und Grün, ist der Grundkonsens in drei zentralen Fragen der Politik: Erstens die Fortsetzung der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik des Staates, zweitens der Ausbau des Überwachungsstaates und der Festung Europa und drittens die weitere Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Lediglich beim zweiten Punkt würden sich die Liberalen mit ihrem rechtsstaatlichen Gewissen namens Leutheusser-Schnarrenberger schwerer tun als der grüne Partner, wie deren Zustimmung zu den Anti-Terror-Gesetzen unter der Ägide Otto Schily zeigt. Doch die Tatsache, dass sich die FDP mit voller Inbrunst an die CDU/CSU gekettet hat, obwohl deren designierter Innenminister Beckstein beim Ausbau des Sicherheitsstaates noch über Schily hinaus geht, weist darauf hin, dass die FDP auch auf ihrem ureigenen Gebiet hart im Nehmen sein und letztlich alles akzeptieren würde.
Ein vierter Konsenspunkt, der bei diesen Wahlen eine große, aber nicht die ausschlaggebende Rolle gespielt hat (sonst hätte die FDP nicht dieses unerwartet hohe Wahlergebnis eingefahren), ist die staatliche Sozialpolitik. Sie hat sich mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV schon unter Rot-Grün in großen Schritten in Richtung Entstaatlichung und Sozialabbau (etwa in der Arbeitslosenversicherung, bei den Renten und im Gesundheitswesen) bewegt und damit das Feld bestellt, das Schwarz-Gelb so gern in Besitz nehmen und weiter bearbeiten wollten. Die Unterschiede, die hier zwischen den potenziellen Regierungspartnern bestehen, sind erst in der letzten Phase des Wahlkampfes aufgetaucht und dem Umstand der zunächst sehr hohen Prognosewerte für die Linkspartei geschuldet. Da wurden plötzlich Schönheitskorrekturen (eigentlich das falsche Wort, es müsste heißen: Hässlichkeitskorrekturen) vorgenommen: hier ein paar soziale Härten abgemildert, dort ein kräftiges Bekenntnis zu einer evtl. neu zu erhebenden „Reichensteuer“! Und es scheint, als sei die Kanzlerkandidatin der Unionsparteien besonders schlecht beraten gewesen zu sein, als sie ihren vermeintlich größten Coup gelandet hat: die Hereinnahme des Steuervereinfachers Paul Kirchhof in ihr „Kompetenzteam“. Dessen Modell einer einheitlichen Steuer von 25 Prozent konnte nur die Redakteure der Wirtschaftsteile der großen Tageszeitungen in Stimmung versetzen. Ansonsten rief er helles Entsetzen beim Gegner und in den eigenen Reihen, insbesondere auch der CSU hervor. Und es nützte auch nichts, dass sich Kirchhof alsbald wieder selbst aus dem Verkehr gezogen hatte: Frau Merkel musste fortan mit dem Makel leben, sich – zumindest vorübergehend – mit einem zutiefst unsozialen, die höheren Einkommen schonenden und die unteren Einkommen nicht verschonenden Steuersytem angefreundet zu haben.
Außenpolitik kein Wahlthema
Im Unterschied zu den Wahlen 2002 hat die Außen- und Sicherheitspolitik eine nur untergeordnete Rolle gespielt. Es gab zwar Versuche von Seiten des amtierenden Kanzlers und seiner Partei, sowohl in Wahlreden als auch auf Plakaten und in den Wahlwerbespots an die Antikriegs-Rhetorik vor dem Irakkrieg anzuknüpfen. Etwa indem darauf hingewiesen wurde, dass deutsche Truppen auch künftig nicht im Irak eingesetzt würden und eine militärische „Lösung“ im Atomstreit mit dem Iran ausgeschlossen sei. Es hatte etwas Hilflos-Rührendes an sich, als der CSU-Vorsitzende Stoiber sich bemühte, die eindeutig zustimmende Haltung der Union zum Irakkrieg 2003 nun in eine Antikriegshaltung umzuinterpretieren. Eine „Friedenswahl“ wurde die Wahl 2005 aber nicht. Dazu gab es gleichzeitig die anderen Signale: Etwa das wiederholte Insistieren des Verteidigungsministers Peter Struck auf seiner Vokabel von der Landesverteidigung am Hindukusch, sein forsches Verlangen nach einer Aufstockung des Bundeswehrkontingents in Afghanistan oder die fortgesetzten Rufe aus dem Außenministerium (v.a. von Staatsministerin Kerstin Müller), das militärische Engagement in der sudanesischen Provinz Darfur zu verstärken. Bedenkenträger gegen diese Militarisierung der Außenpolitik und gegen die ihr dienende „Transformation“ der Bundeswehr in eine weltweit einsetzbare Interventionsarmee sind in allen Parteien, die für eine (Schw)Ampel in Frage kommen, außerordentlich dünn gesät – jedenfalls gibt es kaum noch Debatten darüber und die entsprechenden Einsatzbeschlüsse im Bundestag fallen in großer Allparteieneintracht. Die Außen- und Sicherheitspolitik ist die Arena, in der es seit der Westintegration in die NATO und der Remilitarisierung die größte Kontinuität in der deutschen Politik gibt. Als Rot-Grün 1998 antrat, hatte sich der designierte Außenminister Fischer erst sein Ticket in Washington abholen müssen und sich - zusammen mit dem SPD-Verteidigungsminister Scharping – dann bei der Vorbereitung des völkerrechtswidrigen NATO-Kriegs gegen Jugoslawien derart moralisch ins Zeug gelegt, dass er alle eventuell noch gehegten Zweifel an seiner transatlantischen Bündnistreue und seiner Bereitschaft, „notfalls“ auch militärisch zuschlagen zu lassen, in Rekordzeit zerstreute. Seines und des Kanzlers Lieblingswort damals hieß: „Kontinuität“.
So lässt sich das Wahlergebnis, das den Weltmacht- und Militärfreunden von Rot-Grün keine Mehrheit mehr und den Weltmacht- und Militärfreunden von Schwarz-Gelb noch keine Mehrheit beschert hat, nicht in ein eindeutiges Votum gegen die herrschende Außen- und Sicherheitspolitik umdeuten. Das Thema war diesmal nicht präsent und seine Wiederbelebung scheiterte – übrigens auch an dem Desinteresse der Medien. Eine künftige Regierungskoalition jedweder Art darf daraus aber auch nicht den Schluss ziehen, die Bevölkerung stehe hinter der Außen- und Sicherheitspolitik aller bisherigen Regierungen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein: Ein Großteil der Bevölkerung hält wenig von Kriegseinsätzen – gleich ob in Afghanistan, im Irak oder im Sudan. Und ein Großteil der Bevölkerung hält nichts von US-Atomwaffen auf deutschem Boden und nichts von immer neuen und kostspieligeren Großwaffensystemen (wie z.B. den „Eurofighter“). Zu beiden Sachverhalten gab es in den letzten Jahren zahlreiche eindeutige Umfrageergebnisse. Zumindest ihre mehr oder weniger ausgeprägte Atomwaffen-Gegnerschaft haben die etablierten Parteien in der Endphase des Wahlkampfs öffentlich unter Beweis stellen wollen, als sie die in den USA diskutierte neue nukleare Einsatzdoktrin kritisierten und teilweise mit der Forderung verknüpften, die US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen.
Bindungswirkung des Parteiensystems bleibt erhalten
Die Bundestagswahl 2005 hat aber auch sonst eine ganze Reihe neuer interessanter Fragen aufgeworfen, die genauer analysiert werden müssten. Da ist z.B. die Tatsache, dass es in der größer gewordenen Bundesrepublik offenbar immer schwieriger wird, eine liberal-konservative Mehrheit rechts von der SPD zu bekommen. Die neokonservative Offensive, die gleichsam im Windschatten der neoliberalen Globalisierung versuchte, das Steuer ganz herum zu reißen und den zum Teil noch sozialdemokratisch gezügelten Umbau des Sozialstaats beschleunigt voran zu treiben, ist auf Grund gelaufen. Der ansehnliche Stimmenzuwachs der FDP beruht so eindeutig auf Leihstimmen aus dem CDU/CSU-Lager, dass ein Bekenntnis zur reinen wirtschaftsliberalen Lehre daraus auch nicht unbedingt abzuleiten ist. Bei den nächsten Wahlen wird sich zeigen, dass der Triumph der FDP einer „auf Pump“ war, wie Astrid Hölscher in der Frankfurter Rundschau kommentierte (FR, 19.09.2005).
Demgegenüber kann durchaus davon gesprochen werden, dass es eine gefestigte strukturelle Mehrheit links von der CDU/CSU/FDP gibt (um nicht das irreführende Wort von der „Mitte“ zu gebrauchen). Die neoliberale Demontage des Sozialstaats, die von Rot-Grün selbst mit betrieben wurde, hat keineswegs – wie in Großbritannien zu Zeiten Margret Thatchers - zu einer Auflösung sozialer Solidarstrukturen oder gar zur völligen Delegitimierung der Gewerkschaften geführt. Der gewaltige Mitgliederschwund der DGB-Gewerkschaften ist weniger auf eine Erosion gewerkschaftlichen Bewusstsein (das gleichwohl nicht antikapitalistisch sein muss) als vielmehr auf die Erosion des Arbeitsmarktes und die zunehmende Präkarisierung der Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen. Hinzu kommt allerdings, wie in den Shell-Jugend-Studien der letzten Jahre festgestellt wird, eine fortschreitende Entfremdung jugendlicher Milieus von den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung. Eine Alternative bietet sich zur Zeit nirgendwo an. Der Zustrom, den etwa Attac bis vor kurzem noch zu verzeichnen hatte oder der auf den weltweiten und europäischen Sozialforen erkennbar war, dürfte sich in Deutschland inzwischen verlangsamt haben. Das Sozialforum im Juli 2005 in Erfurt konnte jedenfalls keinen Hinweis darauf geben, dass die „neuen sozialen Bewegungen“ bereits erfolgreich in die Fußstapfen der alten Solidarorganisationen getreten seien.
Auch die Bindungswirkung des politischen Parteienspektrums dürfte längst nicht die dramatischen Einbußen erlitten haben, wie professionelle Zeitgeistforscher und ihre medialen Sprachrohre ihrem Publikum weis zu machen versuchen. Der Hinweis etwa darauf, dass die beiden großen „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl 2005 gerade einmal auf 70 Prozent der Stimmen gekommen seien, kann alles mögliche bedeuten, aber nicht, dass deren Einfluss strukturell schwinden würde. Bei den letzten drei Wahlen (1998, 2002 und 2005) hat es zunächst – 1998 und 2002 – einen stabilen Stimmenanteil der beiden Großen Parteien von 76 Prozent (Zweitstimmen) gegeben. Bei der Bundestagswahl 2005 sank dieser Anteil auf unter 70 Prozent (69,5 %). Sieht man sich die Erststimmenergebnisse der drei Wahlen an, so lauten die Werte: 83, 3 % (1998), 83,0 % (2002) und 79, 3 % (2005). Hier ist also der Rückgang der Zustimmung zu den großen Parteien noch wesentlich geringer als bei den Zweitstimmen. Zudem müssen die „Leihstimmen“ der FDP mit berücksichtigt werden. Dass 2005 CDU/CSU-Wähler ausführlich vom Stimmensplitting Gebrauch gemacht haben, von dem in hohem Maße die FDP profitiert hat, geht aus Tabelle 2 im Anhang hervor.
Die FDP, so lässt sich pauschal sagen, hat in etwa die Zweitstimmen geliehen bekommen, die CDU und CSU abgegeben haben. Nach der Wählerwanderungsanalyse der von Infratest erhielt die FDP 1,1 Millionen Zweitstimmen von der CDU/CSU. Das entspricht ziemlich genau ihrem Stimmenzuwachs 2005 gegenüber 2002. Die Stimmübertragung der SPD bzw. der sog „taktischen Wähler“ ging wohl zum größeren Teil zugunsten der Grünen, zu einem kleineren Teil aber auch an die Linkspartei. Für die FDP, die ihren Wahlsieg so überschwänglich gefeiert haben, könnte es spätestens bei den nächsten Wahlen auf Landes- und in vier Jahren auf Bundesebene ein böses Erwachen geben: Wenn CDU/CSU „ihre“ geliehenen Stimmen mit Zins und Zinseszins zurückfordern, dann bewegt sich die FDP wieder in der Nähe der Fünf-Prozent-Klausel. Erinnern wir uns an die Berg- und Talfahrt der FDP in den letzten 25 Jahren: 1980: 10,6 %, 1983: 6,9 %, 1987: 9,1 %, 1990: 11,0 %, 1994: 6,9 %, 1998: 6,2 %, 2002: 7,4 % und 2005: 9,8 %.
Linkspartei.PDS: die wahre Siegerin
Das Gerede über die schwindende Bindungswirkung der (großen) Parteien verkennt auch, dass die kleinen Parteien in ihrem Wesen nichts anderes sind als outgesourcte oder abgespaltene Segmente der großen. Die FDP war zwar von Anfang an eine selbstständige Parteiformation, sie befand sich aber fast immer in einer Position des Mehrheitsbeschaffers und der ideologischen Ergänzung einer der beiden großen Parteien. Insofern wäre es auch nicht weiter verwunderlich, wenn sich die FDP demnächst doch noch in die Arme der SPD flüchten würde – falls eine Schwampel nicht zustande kommt. Opposition war nämlich nie sehr beliebt in den Reihen der Liberalen. Die Grünen sind recht eigentlich ein Kind der sozialliberalen Koalition, das flügge geworden ist, als die Koalition 1982 von innen gesprengt und von einer schwarz-gelben Konstellation abgelöst wurde. Mit ihrer ökologisch und anfangs pazifistischen Programmatik und ihrer links-alternativen Attitüde konnte sie sich in studentischen und intellektuellen Milieus einnisten, zunehmend aber auch für kritische Gewerkschafter und Vertreter/innen anderer sozialer Bewegungen interessant werden – zumal es im altbundesrepublikanischen Parteienangebot keine nennenswerte und gesellschaftlich akzeptierte (alt)linke Kraft mit Aussicht auf parlamentarische Beteiligung gab.
Diese privilegierte Stellung scheinen die Grünen heute zu verlieren, wozu sowohl die selbst gewählte siebenjährige Gefangenschaft in Form der Regierungsbeteiligung als auch das Erstarken der PDS (im Osten) und der Aufstieg der jungen WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit) beitrugen. Die Linkspartei.PDS ist die wahre Gewinnerin dieser Wahl. Zwar hat sie ihr selbst gestecktes Ziel, drittstärkste Kraft im Bundestag zu werden, wegen des Höhenflugs der FDP nicht erreicht, sie hat aber ein in vieler Beziehung bemerkenswertes Ergebnis erzielt. Als historisch könnte sich herausstellen, dass es gelungen ist, in den alten Bundesländern insgesamt an die 5-Prozent-Hürde heran zu kommen (Westergebnis: 4,9 %; im Osten erhielt die Linkspartei.PDS 25,4 %). Dies geht zweifellos auf die Leistung der WASG zurück, die es vermochte, Gewerkschaftslinke und Anhänger neuer sozialer Bewegungen zu mobilisieren. Dabei kam ihr zweifellos die desaströse Bilanz der rot-grünen Regierung in der Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik entgegen. Die Bewegung gegen die Agenda 2010 und Hartz IV, die nach den Großdemonstrationen vom 3. April 2004 mit einer halben Million Teilnehmer/innen vom DGB und seinen Einzelgewerkschaften nur noch halbherzig unterstützt wurde, hat sich offenbar in Scharen von Rot-Grün ab- und der neuen Wahlformation zugewandt. Sieht man sich die Wählerwanderungsstatistik an – die gleichwohl mit einem großen Fragezeichen ob ihrer Treffgenauigkeit zu versehen ist – so hat die Linke Stimmen aus allen politischen Lagern erhalten. SPD-Traditionswähler (970 Tausend), sozial orientierte CDU/CSU-Anhänger (290 T), Ökologen (240 T) und konsequente linke Liberale (100 T) haben in unterschiedlicher Stärke den Weg zu Linken gefunden. Dabei handelt es sich nicht um „Leihstimmen“. Unsere Tabelle über das Auseinanderfallen von Erst- und Zweitstimmen belegt eindrucksvoll, dass Wähler der Linkspartei am bewusstesten gewählt haben: Die meisten Listenwähler haben auch ihre Erststimme der Linken gegeben, auch wenn – mit Ausnahme einiger Wahlkreise in den neuen Bundesländern – klar war, dass diese Stimmen rechnerisch nicht ins Gewicht fallen.
Die Linke konnte auch aus der Masse der bisherigen „Nichtwähler“ 430 Tausend Menschen zur Stimmabgabe für sie überzeugen. Alle anderen Parteien haben nicht nur keine Menschen aus der Gruppe der Nichtwähler mobilisieren können, sie haben sogar dazu beigetragen, dass der Nichtwähleranteil bei dieser Wahl noch größer geworden ist: Er liegt 2005 bei 22,3 Prozent gegenüber 20,9 Prozent im Jahr 2002. Wer also den modernen Trend zur Wahlenthaltung aus demokratiepolitischen Gründen beklagt, muss der Linken geradezu dankbar sein, denn sie war die einzige Kraft, die diesen Trend wenigstens etwas abbremsen konnte. Hinter dieser Tatsache verbirgt sich aber noch etwas anderes: In die Wahlabstinenz wurden in der Vergangenheit vor allem Menschen getrieben, die der „hohen Politik“ und insbesondere der Parteiendemokratie nicht (mehr) zutrauen, dem Arbeitsmarkt neue Impulse zu geben, die Solidarsysteme des Sozialstaates zu erhalten und somit zur substanziellen Verbesserungen der sozialen Lage von Arbeitslosen, Rentnern und Sozialhilfeempfängern beizutragen. Genau diese Themen hat die Linkspartei bei dieser Bundestagswahl angesprochen und alternative Vorschläge gemacht, die sich deutlich von den Rezepten der anderen Parteien unterscheiden. Dies scheint in von Arbeitslosigkeit besonders stark betroffenen Regionen und in sog. sozialen Brennpunkten verstanden worden zu sein. Hierauf deutet die Tatsache hin, dass in Wahlkreisen mit hoher Arbeitslosigkeit der Anteil der linken Stimmen überproportional hoch ist, laut Infratest liegt er dort bei über 20 Prozent. Wenn man das Wahlergebnis nach der Kaufkraft der Wähler/innen differenziert, so wird es noch deutlicher: Die Linke wurde laut Infratest von 21,7 Prozent der Wähler/innen mit „niedriger Kaufkraft“ gewählt. Und eine Forsa-Umfrage hat ergeben, dass von den Arbeitslosen sogar jeder Vierte (25 %) die Linkspartei.PDS gewählt hat (nach Infratest waren es nur 22 %).
Wichtig ist hierbei, dass dies nicht nur auf die ostdeutschen Länder zutrifft. Ein Blick auf die Landkarte der alten Bundesrepublik zeigt, dass die Linke dort gute Ergebnisse erzielte, wo die sozialen Probleme besonders ausgeprägt sind, beispielsweise in Duisburg, Oberhausen-Wesel, Essen II, Gelsenkirchen, Bottrop-Recklinghausen III, in Herne und Bochum sowie in Dortmund. In Bremen konnte die Linke mit 8,3 Prozent ein außergewöhnlich hohes West-Wahlergebnis einfahren (nur das Saarland war mit 18,5 % besser), und innerhalb des Stadtstaates sticht der Wahlkreis Bremen II-Bremerhaven mit 8,6 Prozent der Zweistimmen noch einmal besonders hervor. Beispiele aus anderen Bundesländern sind etwa das nordhessische Kassel (6,8 %), Kaiserslautern und Pirmasens in Rheinland-Pfalz (8,8 bzw. 8,6 %) oder – um auch den Blick in den politisch noch etwas anders gestrickten Süden zu werfen – Mannheim (6,6 %) in Baden-Württemberg (landesweit 3,8 %) sowie Nürnberg (5,2 %) oder Schweinfurt (5,3 %) in Bayern (landesweit 3,3 %).
Bei einer noch kleinteiligeren Betrachtung der Wahlergebnisse bestätigt sich dieser Befund. In Kassel beispielsweise hat die Linke sowohl in den Stadtteilen mit einem ausgeprägt studentischen und intellektuellen Milieu (wo vor allem die Grünen sehr stark sind), als auch in den „sozialen Brennpunkten“ ihre besten Ergebnisse erzielt: Zweistellige Ergebnisse gab es ausschließlich in den traditionellen Arbeitervierteln – die mittlerweile aber auch schon studentisch „durchmischt“ sind.
Andere Strukturdaten über die Wählerpopulation und deren parteipolitische Präferenzen sind weniger aussagekräftig. Immerhin zeigt etwa die Untersuchung der Wählerschaft nach Altersgruppen, dass bei Grünen und der Linken die älteren Menschen (60 plus) stark bzw. leicht unterdurchschnittlich vertreten sind (4 % bei den Grünen, 7 % bei der Linken). Die jüngeren Jahrgänge wählen überproportional die Grünen und die FDP, wogegen bei der Linken die Gruppe der 45-bis-59-Jährigen besonders stark vertreten ist. Letzteres ist sicherlich ein Hinweis auf das Engagement vieler in die Jahre gekommener Alt-68er und Gewerkschaftslinken, derjenigen also, die in der 70er und 80er Jahren entweder noch in oder schon außerhalb der SPD nach Alternativen zum kapitalistischen System suchten, denen die damaligen Politikangebote etwa der DKP oder von sog. K-Gruppen nicht attraktiv genug erschienen, um ihnen auch ihre – verlorene – Stimme zu geben.
Fazit
Die Bundestagswahl könnte insofern Geschichte machen, als das bisherige Parteiensystem aus den beiden Großparteien SPD und CDU/CSU sowie aus den kleineren Parteien FDP und Grüne eine Bereicherung am linken Rand erfährt. Die Linkspartei.PDS hat eine Reihe von Voraussetzungen, die ihr auch auf längere Frist eine Chance zur parlamentarischen Beteiligung auf allen Ebenen geben. Der typische linke Wähler (die männliche Form ist angebracht, weil überdurchschnittlich mehr Männer als Frauen die Linkspartei gewählt haben) ist mittleren Alters, wohnt in einer Großstadt mit sozialen Brennpunkten, ist Arbeiter oder arbeitslos und ist sehr stark an sozial- und wirtschaftspolitischen Themen interessiert. Die ausgesprochene Westschwäche der PDS wurde durch die WASG ganz entscheidend korrigiert, ohne dass die Linke im Osten schwächer geworden ist (das Gegenteil ist der Fall). In sechs westlichen Bundesländern, darunter auch im größten Land NRW hat die Linke auf Anhieb die 5-Prozent-Marke übersprungen, dabei im Saarland (Lafontaine-Faktor!) mit 18,5 Prozent fast ein Ostergebnis erreicht. Die Programmatik der Linkspartei auf sozial- und wirtschaftspolitischem Gebiet sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik war linkskeynesianisch und pazifistisch und unterschied sich damit deutlich von den Programmen aller anderen Parteien. Der Anteil der politisch indifferenten „Protestwähler“ unter den Links-Wählern dürfte gering gewesen sein (zumal es für diesen Zweck zahlreiche andere Angebote von der MLPD über diverse Spaßparteien bis zur NPD gab).
Für die Zukunft des Parteiengefüges und der politischen Kultur in Deutschland könnten die Wahlen 2005 den Beginn einer von vielen Menschen seit langem ersehnten politischen „Normalisierung“ bedeuten: Die Linkspartei.PDS, die seit Jahrzehnten politisch stigmatisiert, verfolgt und verfemt war – jedenfalls soweit sie sich außerhalb der SPD und später der Grünen organisierte und artikulierte -, kann zu einer Art „Sammelbecken“ und „parlamentarischer Arm“ radikaldemokratischer, sozialistisch-kommunistischer und antimilitaristisch-pazifistischer Strömungen in und außerhalb des herkömmlichen Parteienspektrums sowie aller möglichen alten und neuen sozialen Bewegungen werden. Diese müssen das aber auch erkennen und die Chance, die darin liegt, auch ergreifen (wollen). Die mit einer respektablen Zahl von Sitzen und Möglichkeiten ausgestattete linke Fraktion im Bundestag muss sich ihrerseits als (Ansprech-)Partner der sozialen Bewegungen verstehen. Tut sie das nicht oder wird sie von den sozialen Bewegungen „links“ liegen gelassen, dann läuft sie Gefahr, dort zu enden, wo andere „alternative“ Parteien auch schon gelandet sind: im parlamentarischen Sumpf oder in den erstickenden Armen eines Koalitionspartners.
In absehbarer Zeit ist dies aber nicht zu erwarten. Dazu wird die Linke von den etablierten Parteien zu feindselig angesehen und behandelt. Deren Furcht (nicht Respekt) vor der Linken ist so ausgeprägt (bei der herkunftsverwandten SPD und den um eine gemeinsame Klientel konkurrierenden Grünen übrigens noch mehr als bei FDP und Union), dass eher der Bundestag aufgelöst und Neuwahlen angesetzt werden, als dass sich ein Politiker der rot-grünen Koalition durch Abgeordnete der linken Fraktion zum Bundeskanzler (mit-)wählen ließe. Einflusslos ist die Linke deswegen nicht. „Bereits im Vorfeld der Wahlen sahen sich SPD und Grüne veranlasst, eine etwas sozialere Rhetorik zu benutzen“, stellt Peter Wahl (Attac) in einer Wahleinschätzung fest. Und er prognostiziert, dass sich das „verstärken“ wird, „auch wenn die geradezu hasserfüllte Abgrenzungspolitik von Rot-Grün gegenüber der Linkspartei darüber hinwegzutäuschen sucht.“ Die Geschichte zeigt, dass der Druck auf die herrschende Politik umso stärker ist, je größer die Drohung von Links ist. In den 50er und 60er-Jahren saß z.B. bei allen Lohntarifverhandlungen in der BRD (alt) die DDR insgeheim mit am Verhandlungstisch. Die dabei erzielten, teilweise zweistelligen Lohnerhöhungen sind beispiellos in der deutschen Geschichte. Die politische Klasse fürchtet eben nichts mehr als eine wirksame Alternative zu ihrer neoliberalen Politik des Sozial- und Demokratieabbaus und der Militarisierung der Außen- und Europapolitik.
A n h a n g
Tabelle 1:
Ergebnisse der Bundestagstagswahlen 1990 bis 2005
(Stimmenanteile in %)
Partei | 1990 | 1994 | 1998 | 2002 | 2005 [3] |
SPD | 33,5 | 36,4 | 40,9 | 38,5 | 34,3 |
CDU | 36,7 | 34,2 | 28,4 | 29,5 | 27,8 |
CSU | 7,1 | 7,3 | 6,7 | 9,0 | 7,4 |
FDP | 11,0 | 6,9 | 6,2 | 7,4 | 9,8 |
Grüne | 5,1 [1] | 7,3 | 6,7 | 8,6 | 8,1 |
Linke/PDS | 2,4 [1] | 4,4 [2] | 5,1 | 4,0 | 8,7 |
Anmerkungen-
1990 traten im Westen die Grünen an und erhielten 3,8 % der Stimmen und scheiterten somit an der 5-Prozent-Hürde. Im Osten kandidierte Bündnis90/Grüne und übersprang die 5-Prozent-Hürde. Umgerechnet auf ganz Deutschland erhielten sie 1,2. Um in den Bundestag einzuziehen, genügte es, in einem der beiden Wahlgebiete die 5%-Hürde zu überspringen. Bü90/Gr. erhielt acht Mandate, die PDS 17.
- Die PDS erzielte in Berlin vier Direktmandate (u.a. durch Stefan Heym und Gregor Gysi). Auf diese Weise konnte sie durch die Grundmandatsklausel in den Bundestag einziehen, obwohl sie die 5%-Hürde nicht bewältigte. Sie zog mit 30 Abgeordneten in den Bundestag ein.
- Ergebnisse ohne das Nachwahlergebnis in Dresden
Tabelle 2:
Die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2005
(zum Vergleich: 2002 und 1998)
Partei | Erststimmen 2005 | Zweitstimmen 2005 | Differenz 2005 | Diff. 2002 | Diff. 1998 |
SPD | 38,4 | 34,3 | 4,1 | 3,4 | 2,9 |
CDU | 32,6 | 27,8 | 4,8 | 2,6 | 3,8 |
CSU | 8,3 | 7,4 | 0,9 | 0,0 | 0,6 |
FDP | 4,7 | 9,8 | 5,2 | 1,6 | 3,2 |
Grüne | 5,4 | 8,1 | 2,7 | 3,0 | 1,7 |
Linke/PDS | 7,9 | 8,7 | 0,8 | 0,3 | 0,2 |
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