Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wochenendsensation

Das Auswärtige Amt und die Juden

Von Knut Mellenthin *

Fünfundsechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bietet sich den Deutschen ein überraschendes Bild: »Das Auswärtige Amt war im Dritten Reich viel stärker an der systematischen Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt als allgemein bekannt.« Wir verdanken diese verblüffende Aussage erstens einer Meldung der Presseagentur dpa, die von einer unübersehbaren Zahl von Medien - erwähnt seien hier nur Spiegel, Welt, Frankfurter Rundschau und Schwarzwälder Bote - wörtlich übernommen wurde. Schließlich war Wochenende. Wir verdanken sie zweitens einer »unabhängigen Historikerkommission«, die vor nunmehr auch schon wieder fünf Jahren von Joseph Fischer eingesetzt worden war. Von jenem Grünen-Politiker also, der als erster deutscher Außenminister seit Joachim Ribbentrop einen Kriegs­einsatz zu verantworten hatte. Die Kommis­sion hat ihre Erkenntnisse nun, sofern die Pressemeldungen wenigstens in diesem einen Punkt stimmen, in einem fast 900 Seiten dicken Buch mit dem Titel »Das Amt und die Vergangenheit« vorgelegt.

Exaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bekundete gegenüber dem Spiegel, es sei »unglaublich«, daß bis zu einer systematischen Aufarbeitung fast 60 Jahre vergangen seien. Es hätten sehr viel weniger Jahre sein können, wenn schon der erste sozialdemokratische Außenminister Willy Brandt 1966 einen solchen Forschungsauftrag erteilt hätte. Und wenn das unter einem Bundeskanzler mit NSDAP-Parteibuch, Kurt Georg Kiesinger, nicht möglich war: Seit 1969 regierte die SPD mit Walter Scheel (FDP) als Außenminister.

Der Sachverhalt ist, auch wenn er nie in diesem Umfang untersucht wurde, schon seit Jahrzehnten anhand veröffentlichter Akten leicht feststellbar: Alle antijüdischen Maßnahmen zumindest in Frankreich und in den abhängigen, aber formal verbündeten Staaten wie Ungarn, Slowakei und seit 1943 auch Ita­lien mußten dem Auswärtigen Amt vorgelegt werden und durften erst umgesetzt werden, wenn dieses bescheinigt hatte, daß »keine Bedenken« bestünden.

Viele Diplomaten gingen einen Schritt weiter und trieben die Entwicklung aktiv voran. Am 20. August 1940 telegraphierte Otto Abetz, Botschafter in Paris, an Außenminister Ribbentrop: »Erbitte Einverständnis antisemitischer Sofortmaßnahmen, die späterer Entfernung Juden gleichfalls aus nichtbesetztem Frankreich als Grundlage dienen können.« Am 24. September 1942 teilte Unterstaatssekretär Martin Luther dem Staatssekretär Ernst von Weizsäcker mit, Ribbentrop habe ihn beauftragt, »die Evakuierung der Juden aus den verschiedensten Ländern Europas möglichst zu beschleunigen«, und zu diesem Zweck angeordnet, »an die Regierungen Bulgariens, Ungarn und Dänemarks heranzutreten«, um die Zustimmung zum Beginn der Deportationen zu erhalten. Das alles konnte, wer wollte, schon lange wissen.

* Der Autor hat im Internet eine Tag-für-Tag-Chronologie des Holocaust veröffentlicht: www.knutmellenthin.de/holocaust-chronologie.html

Aus: junge Welt, 25. Oktober 2010


Lesen Sie auch:

Brüllendes Schweigen
Über die aktuelle Entrüstung, daß es im Auswärtigen Amt nach 1945 Faschisten gab (28. Oktober 2010)
"Anstatt die Mitschuldigen an den Naziverbrechen gerecht zu bestrafen ..."
Nazis und Kriegsverbrecher in Schlüsselfunktionen des Auswärtigen Amts der frühen Bundesrepublik. Vor 45 Jahren erschien das "Braunbuch" (28. Oktober 2010)




Zurück zur Deutschland-Seite

Zur Seite "Nationalsozialismus, Faschismus, Rassismus"

Zur Seite "Deutsche Aussenpolitik, Auswärtiges Amt"

Zurück zur Homepage