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Verstimmung überwunden

Bundeskanzlerin Merkel zum vierten Mal in China

Von Werner Birnstiel *

Vom russischen Jekaterinburg flog Angela Merkel am Donnerstag (15. Juli) unmittelbar nach Peking. Im fünften Jahr ihrer Amtszeit absolviert die Bundeskanzlerin ihren vierten China-Besuch.

Vorbei ist die chinesische Verstimmung, die eintrat, als die Bundeskanzlerin im September 2007 – wohl auf Drängen ihres Parteifreunds Roland Koch – den Dalai Lama »privat«, doch quasi-offiziell im Bundeskanzleramt empfing. In diesem Jahr traf sie sich bereits Mitte April beim Atomgipfel in Washington mit Staatspräsident Hu Jintao. Einen Monat später besuchte der inzwischen zurückgetretene Bundespräsident Horst Köhler das Reich der Mitte, und mehrfach wurde zwischen Berlin und Peking telefoniert.

Der jetzige Besuch fällt in eine Zeit, da beide Staaten mit den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise beschäftigt sind. Für Peking geht es vor allem darum, den Binnenmarkt zu stärken. Denn wohl wird China sich die 2009 errungene Position des Exportweltmeisters nicht so bald streitig machen lassen, doch bedarf es dafür in erster Linie der Stabilität im Inneren.

Keine Frage, dass von der Entwicklung des chinesischen Binnenmarkts auch die deutschen Wirtschaftslenker im Schlepptau Angela Merkels profitieren wollen. So werden beide Seiten ausloten, wo und wie sich die Interessen ergänzen, wie sie sich künftig besser abstimmen oder gar miteinander verknüpfen lassen. Zugleich werden Grenzen markiert, wo derzeit kein Miteinander möglich ist. Da wird man sich mit Koexistenz begnügen müssen.

Stabilitätsgarantie für das bilaterale Verhältnis waren und sind die Wirtschaftsbeziehungen. 2009 wurden trotz Krise Waren und Dienstleistungen im Wert von 92 Milliarden Euro umgesetzt, wobei Chinas Überschuss knapp 19 Milliarden Euro betrug. Deutschland ist mit Abstand Chinas wichtigster Handelspartner in der EU, umgekehrt rangiert China auf Platz vier der Wirtschaftspartner Deutschlands und auf Platz zwei – nach den USA – bei den Partnern außerhalb der EU. Ohne Umschweife erwartet Peking, dass Deutschland als sein »Tor nach Europa« fungiert, in der EU also darauf hinwirkt, dass die Beziehungen zu China stetig vertieft werden. Immerhin hatten der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Ministerpräsident Wen Jiabao bereits im Mai 2004 eine »strategische Partnerschaft in globaler Verantwortung« besiegelt. Inzwischen gibt es mehr als 30 Foren deutsch-chinesischen Dialogs. Dazu gehört der »Rechtsstaatsdialog«, der seit 1999 dazu beigetragen hat, dass manches Neue in die chinesische Gesetzgebung aufgenommen wurde.

Bis Ende 2009 gab es in China deutsche Direktinvestitionen in Höhe von rund 17 Milliarden US-Dollar. Etwa 3800 deutsche Unternehmen – vom Maschinenbau bis zum Dienstleistungssektor – haben im Reich der Mitte einen Firmensitz. Ein noch wesentlich größeres Kooperationspotenzial wird sich künftig in allen Bereichen des Umweltschutzes und der nachhaltigen Nutzung von Energie und Rohstoffen erschließen lassen. Im unerlässlichen gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel wird man politische Hürden überwinden müssen, die heute noch die Beziehungen behindern. Denn Dissonanzen gibt es nach wie vor auch im Ökonomischen – wenn beispielsweise der Schutz geistigen Eigentums, die Produktpiraterie und der unerlaubte Technologietransfer zur Sprache kommen, der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen, die Vertragsfreiheit oder die Rechtssicherheit. Die Beseitigung dieser – auch kulturhistorisch begründeten – Unterschiede wird längeren Atem erfordern.

In deutschen Medien wird der chinesische Begriff »weiji« (Krise) gerne auch mit »neue Chance« oder »Herausforderung« übersetzt. Sprachwissenschaftler mögen klären, ob das so richtig ist. Einschlägige Nachschlagewerke jedenfalls definieren Krise als Krise. Für Peking ist viel wichtiger, dass die »sozialistische Marktwirtschaft« chinesischer Prägung in den Augen ihrer Väter auch in Zeiten einer weltweiten Krise ihre Bewährungsprobe bestanden hat: Nicht nur das eigene Wachstum blieb gesichert, auch außenpolitisch erwies sich China als Stabilitätsfaktor mit wachsendem Einfluss.

Natürlich erwächst daraus – wie Olympia 2008 und die EXPO 2010 in Shanghai mit bisweilen gigantomanisch anmutenden Mitteln bewiesen – beachtenswertes Selbstbewusstsein. Auch die Bundeskanzlerin muss in Rechnung stellen, dass Peking auf respektvollem, gleichberechtigtem Umgang miteinander besteht. In Peking ist man sich zwar eigener Defizite bewusst, doch oberlehrerhafte Belehrungen und Forderungen nach einer Kopie westlicher Modelle werden nicht akzeptiert.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2010


Stoppt die Chinesen!

Von Roland Etzel **

Einer musste es sagen, nachdem Horst Köhler hingeschmissen hat: »Die Chinesen werden immer mehr zu den Rohstoffherren dieser Welt«, klagte gestern der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Überall träten sie als Aufkäufer auf, in Guinea für Bauxit, am Kongo für Coltan und Lithium usw. Wenn »die Chinesen« damit nicht aufhörten, werde es eng für die deutsche Industrie, argwöhnt Werner Schnappauf. Der Bayer sieht die Situation schon dramatisch. So war es sicher richtig, dass er uns die Antwort auf die Frage, ob wir das hinnehmen sollten oder nicht, schon ein bisschen abgenommen hat. »Wenn man da nichts unternimmt«, warnt Schnappauf, »dann entscheidet letztlich China darüber, wer bestimmte Güter produzieren darf.« ND-Probeabo Mehr muss der BDI-Vordenker nicht sagen. Jeder kann sich denken: Wer den Chinesen jetzt nicht ein deutsches Stoppschild vor die afrikanische Kupfermine stellt, schädigt deutsche Interessen, deutsche Arbeitsplätze, Löhne, Renten, Kindergeld ... Schnappauf hofft »in dieser entscheidenden Frage auf die Unterstützung der Politik«. Wie gut, dass die Kanzlerin gerade auf dem Wag nach China ist. Wem wird sie dort das erste Stoppschild entgegenhalten? Unter den mitreisenden deutschen Wirtschaftslenkern soll die Begeisterung darüber aber nicht so groß sein.

** Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2010 (Kommentar)


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