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Offene Arme für deutsche Firmen

Medwedjew: Umbau in Ostdeutschland ist Vorbild für Russland / Siemens erhält Großaufträge

Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hat die deutsche Wirtschaft aufgefordert, sich stärker an der Modernisierung seines Landes zu beteiligen.

Er sehe angesichts der »strategischen Partnerschaft auf wirtschaftlichem Gebiet« beider Länder gute Perspektiven, sagte Medwedjew am Donnerstag in Jekaterinburg bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auch Merkel sprach sich für eine engere wirtschaftliche Kooperation aus.

Der Präsident rief deutsche Firmen auf, am Umbau der russischen Wirtschaft teilzunehmen. »Ich hoffe sehr, dass deutsche Firmen, die auf diesem Gebiet große Erfahrungen haben, sich daran beteiligen werden«, sagte er im Rahmen der deutsch-russischen Regierungskonsultationen mit Blick auf die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft nach der Vereinigung. Medwedjew forderte deutsche Unternehmen zudem zu Beteiligungen an Firmen in Russland auf. Die russische Regierung hatte kürzlich den Einstieg ausländischer Konzerne in einheimische Unternehmen erleichtert.

Zwischen Berlin und Moskau gebe es »in allen Bereichen von Energieeffizienz bis zur Umweltpolitik, bis zu den wirtschaftlichen Kooperationsfragen« große Übereinstimmung, sagte Merkel, die von einer großen Unternehmensdelegation begleitet wurde. In der Automobil- und der Energiewirtschaft bestehe bereits eine gute Zusammenarbeit, aber in modernen Industrien »können wir sicherlich noch viel mehr machen«. Insgesamt sind nach Angaben Merkels bereits 6000 deutsche Unternehmen in Russland vertreten, und Deutschland sei bereit, »bei der Modernisierung Russlands von Infrastruktur bis zu mehr Energieeffizienz und vielen anderen Bereichen unseren Beitrag zu leisten«.

Der Technologiekonzern Siemens brachte am Rande des Treffens Aufträge im Milliardenumfang auf den Weg. Vorstandschef Peter Löscher unterzeichnete nach Konzernangaben Absichtserklärungen über die Lieferung von Windkraft- und Bahntechnik. Siemens soll demnach bis 2026 insgesamt 22 Rangierbahnhöfe modernisieren und in den kommenden zehn Jahren 240 Regionalzüge an die russische Bahn liefern. Zudem will Siemens bis 2015 Windturbinen in Russland installieren.

Merkel und Medwedjew betonten bei ihrem bereits fünften Treffen seit Jahresbeginn ihre guten persönlichen wie politischen Beziehungen. Die Kanzlerin brachte auch den bislang ungeklärten Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa vor genau einem Jahr zur Sprache: »Es ist wichtig, an dieser Stelle weiter an der Aufklärung zu arbeiten.« In Bezug auf die Situation der Menschenrechte und der Zivilgesellschaft sei der Fall von »großer Bedeutung«. Medwedjew erklärte daraufhin, die russischen Behörden hätten den Mörder Estemirowas »genau identifiziert«, einen Namen nannte er jedoch nicht. Estemirowa war am 15. Juli 2009 in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny verschleppt und wenig später ermordet aufgefunden worden. Die Ermittlungen und die Suche nach dem Täter liefen »unter Hochdruck«, versicherte Medwedjew.

Der Präsident verteidigte die geplante Stärkung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. »Jedes Land hat das Recht, seine eigene Gesetzgebung zu vervollständigen - auch im Bezug auf den Geheimdienst. Wir werden dies tun.«

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2010


Siemens-Züge für Moskau

Deutsche Unternehmen profitieren vom Merkel-Besuch in Russland

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Bundeskanzlerin Merkel befindet sich gerade auf wirtschaftspolitischer Weltreise. Am Mittwoch traf sie sich mit dem russischen Präsidenten Medwedjew - Hauptthema waren bilaterale Geschäftsbeziehungen. Im Schlepptau Merkels: deutsche Großkonzerne.

Beobachter fühlten sich bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen am Mittwoch in Jekaterinburg ein bisschen an die Ära Schröder-Putin erinnert. Um Politik ging es nur unter ferner liefen, Heikles wie Moskaus Menschenrechtsdefizite sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegenüber Präsident Dmitri Medwedjew offenbar nur unter vier Augen an. Denn der will seine Modernisierungspläne vor allem mit Hilfe deutscher Unternehmen realisieren. Ein Angebot, dem die einstige »DDR-Dissidentin«, wie es in einem Kommentar der Nachrichtenagentur RIA nowosti heißt, allein schon aus innenpolitischen Erwägungen nicht widerstehen könne. Das Umfragetief der regierenden Koalition würde die Bundeskanzlerin dazu drängen, mit Moskau wieder enger zu kooperieren, so die Einschätzung. Zu gegenseitigem Nutzen, weil die Modernisierung Russlands auch die Nachfrage nach Hightech »Made in Germany« ankurbeln werde.

Merkel sieht das offenbar ähnlich, nebst einem Dutzend Fachministern hatte sie daher auch die Chefs von Volkswagen, Siemens, Airbus, des Chemiegiganten BASF, des Handelskonzerns Metro und der Commerzbank in ihrem Tross. Hiesige Experten sprachen von Merkels »langem Marsch nach Osten«. Zu Recht: Auch in China, wohin die Kanzlerin später von Jekaterinburg jettete, will sie vor allem Aufträge für die deutsche Wirtschaft an Land ziehen. Und in Kasachstan, wo sie anschließend erwartet wird, über Garantien für den Zugriff auf Energieträger wie Öl und Gas zu angemessenen Preisen verhandeln.

Fast 500 Deutsche waren im Merkelschen Gefolge am Mittwoch (14. Juli) in die Hauptstadt des Ural gekommen - ein voller Erfolg für die Kanzlerin. Es waren insgesamt zehn Kooperationsabkommen, die deutsche und russische Konzerne am Rande des Gipfels unterzeichneten. Allen voran Siemens. Das Unternehmen will in das Skolkowo-Projekt - dem russischen Silicon-Valley, wo hinter dem Moskauer Autobahnring Lehre, Forschung und Hightechunternehmen vernetzt werden sollen - mit millionenschweren Investitionen einsteigen. Dazu kommt ein Abkommen mit den Russischen Staatsbahnen von ähnlicher Dimension: Diese orderten bei Siemens 240 Regionalzüge im Wert von 2,2 Milliarden Euro. Ab 2011 wird Russland zudem Züge des Typs Desiro bekommen, die in Moskau und anderen Städten als Flughafenzubringer eingesetzt werden. Siemens-Züge werden auch wichtigstes Bahnverkehrsmittel bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi sein. Auch die »Sapsan«Hochgeschwindigkeitszüge, die seit Dezember zwischen Moskau und Sankt Petersburg verkehren, rollten bei Siemens vom Band. Die Firma wird gemeinsam mit der Sinara-Gruppe zudem über 200 Güterzüge nach Russland liefern

Im Interesse der Wirtschaft konnte Merkel sich sogar für Moskaus Forderungen nach Visafreiheit erwärmen und versprach Medwedjew Unterstützung. Einen Vertragsentwurf dazu hatte dieser schon beim letzten Russland-EU-Gipfel Ende Mai in Rostow am Don übergeben. Guten Willen vorausgesetzt, so der Kremlchef gestern, könne Europa die dazu nötigen Beschlüsse schnell fassen. Merkel dagegen drängte auf mehr Tempo beim Bau der Ostseepipeline Nordstream, die 2011 ans Netz gehen soll. Denn damit entfällt der Gastransit über Weißrussland und die Ukraine. Deren Differenzen mit Moskau hatten schon zu Unterbrechung der Lieferungen und damit zu Versorgungsengpässen in Europa geführt.

** Aus: Neues Deutschland, 16. Juli 2010


Romanze am Ural

Russisch-deutsche Konsultationen in Jekaterinburg: Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in vielen Bereichen eingefädelt. Milliardenverträge abgeschlossen

Von Rainer Rupp ***


Ein beachtlicher Hofstaat begleitete die Bundeskanzlerin am Mittwoch und Donnerstag in die Ural-Metropole Jekaterinburg. Die Minister Guido Westerwelle (Außenpolitik), Rainer Brüderle (Wirtschaft), Philipp Rösler (Gesundheit), Norbert Röttgen (Umwelt), Annette Schavan (Forschung) und Peter Ramsauer (Verkehr) waren dabei, als Angela Merkel und ihr Gastgeber Dmitri Medwedew zu den russisch-deutschen Konsultationen zusammenkamen. Ein Ergebnis des Treffens: 2011 soll ein »Jahr der deutsch-russischen Erfolge in der Wissenschaft« werden. Konkret versprach Merkel, Technologien aus einer Reihe von Branchen den russischen Partnern zugänglich zu machen, insbesondere aus dem Bereich der Energieeffizienz. Zugleich forderte Medwedew deutsche Unternehmen auf, sich an der Modernisierung russischer Betriebe zu beteiligen. Auch sonst dominierte in Jekaterinburg der Austausch gegenseitiger Nettigkeiten. So wurde das Projekt zur Herausgabe eines russisch-deutschen Geschichtsbuches begrüßt – ein sicherlich alles andere als einfaches Vorhaben angesichts der Vergangenheit. Merkel griff zudem ein russisches Anliegen auf und versprach Hilfe bei der Abschaffung der Einreisevisa zwischen der EU und Rußland.

Etwas schwieriger gestaltete sich die Diskussion, wie Rußlands neue Zollunion mit Belarus und Kasachstan in Einklang gebracht werden könnte mit dem von Moskau angestrebten Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO. Man einigte sich schließlich auf die nichtssagende Formel, daß der russische WTO-Beitritt »möglichst bald geregelt« werden sollte.

Politisch mahnte Merkel routinemäßig die Einhaltung der Menschenrechte an, ein Thema, das Berichten zufolge anschließend von Westerwelle und seinem Amtskollegen Sergej Lawrow in einem »offenen und kontroversen Austausch« über die Freiheit der Kunst vertieft wurde. Für gründlichere politische Konsultationen bot der Dialog nicht den geeigneten Rahmen. Er ist hauptsächlich auf wirtschaftliche Kontaktaufnahmen und das Einfädeln von Großaufträgen ausgelegt. Also nahmen an den Sitzungen der Regierungsdelegationen beider Länder die Chefs großer Industrie-, Banken-, Handels- und Rohstoffunternehmen aus Rußland und Deutschland teil.

Insbesondere in den Bereichen Außenhandel, Rohstoff- und Energieversorgung sowie Investitionen, Innovationen und Modernisierung überlappen sich die Interessen Berlins und Moskaus weitgehend. Wirtschaftsmedien zufolge haben deutsche Industriebosse Merkel vor dem Besuch beharrlich eingeredet, die politischen Weichen so zu stellen, daß sich die BRD-Industrie maßgeblich am Umbau der Wirtschaft und der Infrastruktur Rußlands beteiligen kann. Prompt bot Merkel Moskau bei der Modernisierung umfassende Unterstützung an: »Hier kann Deutschland sehr viele Beiträge leisten«. Entsprechend wurden bereits während des Treffens in Jekaterinburg mehr als zehn Wirtschaftsverträge unterzeichnet, darunter über den Siemens-Einstieg ins Skolkowo-Projekt (russisches »Silicon Valley«) und ein Abkommen über die Ausbildung von Verwaltungsmanagern an deutschen Hochschulen. Milliardenaufträge über Windturbinen und für die russische Staatsbahn wurden abgeschlossen.

Angesichts der neuen Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und Rußland dürfte Washington die Jekaterinburger deutsch-russische Wirtschaftsromanze mit Mißtrauen beobachtet haben.

*** Aus: junge Welt, 16. Juli 2010


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