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Vor zehn Jahren: "Gaskrieg" in Bolivien

Neoliberale Lozada-Regierung erteilte im Oktober 2003 Schießbefehl gegen Demonstranten

Von Benjamin Beutler *

Am Sonnabend vor zehn Jahren kam es im »Gaskrieg« in Bolivien zur Entscheidungsschlacht. Der 12. Oktober 2003 sollte als der blutigste Tag des Volksaufstandes in die Geschichtsbücher eingehen. Seit Wochen hatten Zehntausende auf den Straßen und Plätzen des Landes gegen die Pläne der Regierung von Präsident Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada protestiert, Erdgas aus neuentdeckten Vorkommen über Häfen des historischen »Erzfeindes« Chile ins US-amerikanische Kalifornien zu exportieren. Vor den Toren des Regierungssitzes La Paz rissen wütende Bewohner der von Armut geplagten Satellitenstadt El Alto mit Feldhacken Löcher in den Beton der Zufahrtsstraßen. In der ganzen Region hatten Regierungsgegner die wichtigsten Verkehrsverbindungen mit Steinen, Baumstämmen und Barrikaden lahm gelegt. Hoch oben im Andental schnürte sich ihr Blockadering immer enger um das politische Zentrum, das fast komplett vom Rest des Landes abgeschnitten war.

Der in Washington aufgewachsene »Goni« hatte die Wahlen 2002 knapp und nur mit kräftiger Unterstützung von Wahlkampfexperten aus den USA gewonnen. Der reichste Mann Boliviens war bereits von 1993 bis 1997 Präsident gewesen. Trotz des geringen Zuspruchs rückte der Bergwerksbesitzer nicht ab von seinem Vorhaben, verflüssigtes Gas weit unter Weltmarktpreis und ohne Wertschöpfung zu Hause ins Ausland zu verhökern. Boliviens staatliches Energieunternehmen YPFB war längst privatisiert worden. Seit den 1990er Jahren galt das »Armenhaus Südamerikas« als Musterschüler neoliberaler Wirtschaftspolitik. »Arbeitsmarktreformen« sowie Privatisierungen von Staatsfirmen, Bodenschätzen, Wasser und Amazonaswäldern hatten die Kluft zwischen Arm und Reich noch tiefer gemacht. Wieder einmal drohte der einstigen Kolonie Spaniens das alte Schicksal: Ausverkauf seiner Bodenschätze, vom Reichtum würden für die große Masse der Bevölkerung nur Krümel vom Tisch der Herrschenden fallen.

Bei den Verlierern dieser Politik hatte sich viel Wut und Verzweiflung angestaut. Von der Wucht des Aufstandes wurde die Technokraten-Regierung mit ihren Beratern von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds kalt erwischt. Als den Tankstellen des Reichenstadtteils »Zona Sur« in La Paz das Benzin ausging, erklärte die Lozada-Administration für drei Monate den Notstand und rief die Armee aus den Kasernen. In den folgenden Tagen sollte das Präsidentendekret Nr. 27209 über 30 Menschen das Leben kosten: »Die Streitkräfte der Nation übernehmen den Transport durch Tanklaster, den Schutz von Verteilungsstationen, Pipelines, Tankstellen und jeder Infrastruktur, um für die Bevölkerung von La Paz die normale Versorgung mit flüssigen Brennstoffen sicherzustellen«.

Juristisch sicherten sich die Politiker der europäisch-stämmigen Familienclans, die Bolivien auch nach der Republikgründung 1825 fest im Griff hielten, gegen Folgen des Schießbefehls ab. Artikel 3 ist Beleg für die Skrupellosigkeit der selbsternannten Musterdemokraten im Palacio Quemado: »Jeder Schaden an Gütern und Menschen, der sich aus der Ausführung des vorliegenden Dekrets ergibt, wird durch garantierte Entschädigung des bolivianischen Staates abgegolten«. Bis heute klebt Blut an ihren Händen. Am Sonnabend vor zehn Jahren schoß sich ein Militärkonvoi mit 20 LKW voller Benzin in El Alto den Weg frei, allein dabei kamen 26 Menschen im Maschinengewehrfeuer ums Leben. Alle Gewalt war umsonst. Sechs Tage später flohen »Goni« und sein Kabinett ins Ausland.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Oktober 2013

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