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Zu einer Neuauflage der ukrainischen "Revolution in Orange" fehlen in Minsk die Voraussetzungen

Opposition in Belarus gestärkt, aber uneinig - Enttäuschung im Westen

Als Nachtrag zu unserer Berichterstattung über die Präsidentenwahl in Belarus (siehe: Lukaschenko: Populist oder Wahlfälscher oder beides zugleich?) dokumentieren wir heute zunächst einen weiteren Kommentar aus der Frankfurter Rundschau, diesmal aus der Feder des Osteuropa-Experten Karl Grobe. Seine Anlyse unterscheidet sich wohltuend von den einseitigen Verrissen und Verurteilungen des "Diktators" Lukaschenko, die wir aus der übrigen Presse des Westens kennen - nicht weil Grobe Sympathie mit dem Herrscher in Minsk hat, sondern weil er die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in Weißrussland differenzierter einschätzt.
Der daran anschließende Artikel - er stammt aus der "jungen Welt" - wartet mit einer Reihe von Fakten und Hinweisen auf, die man in der Mainstream-Berichterstattung über die Wahl vergeblich suchen würde. Hauptaussage: Autoritäre Herrschaft kann sich durchaus auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen. Mit Demokratie westlichen Zuschnitts hat das allerdings nichts zu tun.



Hartnäckig in Minsk

VON KARL GROBE*

Die Revolution hatte einen Namen und ein Symbol: "Jeans-Revolution", dargestellt durch Streifen aus blauem Denim-Stoff an Bäumen und Masten. Nur - stattgefunden hat sie nicht. Vielleicht noch nicht. Alexander Lukaschenko, der seit gut einem Jahrzehnt Belarus mit den Methoden regiert, die er als Kolchos-Leiter gelernt hat, bleibt an der Macht. Das Farcenhafte an der Wahl, die Unterdrückung der oppositionellen Presse, die Verhaftungen von mehr als hundert Andersdenkenden hätte er kaum nötig gehabt; kennzeichnend für die Situation ist, dass der Protest dagegen begrenzt blieb und den Wechsel-Prozess nicht gezündet hat.

Wesentliche Voraussetzungen zu einer Minsker Neuauflage der Revolution in Orange von Kiew oder der Rosenrevolution von Tiflis bestehen in Belarus nicht. Dort verband sich der Überdruss über eine herrschende Clique und ihre Lenkung durch Wirtschaftsoligarchen und Kleptokraten, über grassierende Korruption und zuletzt massive Wahlfälschung mit zwei wesentlichen Elementen: einer stark jugendgeprägten, intellektuell-mittelständischen Volksbewegung und einer Elite charismatischer Politiker mit begründbarem Machtanspruch.

Nationalistische Ideologie - oder wenigstens Phraseologie - kam ebenso hinzu wie der Appeal der Westbindung, eine postsowjetische Abwandlung des "amerikanischen Traums". All das zusammen war mehrheitsfähig und wäre es auch gewesen, wenn es moralische, propagandistische und finanzielle West-Hilfe nicht gegeben hätte. Was aber nach den "bunten Revolutionen" folgte, ähnlich in Kirgisien, war letztlich ein Austausch der Eliten ähnlicher Herkunft und sozialer Zugehörigkeit. Die außenpolitische Orientierung wechselte, und zwar so weit weg von Russland, wie die Umstände erlaubten. Gesellschaftliches Bewusstsein und zivilgesellschaftliches Engagement wuchsen, aber nicht so sehr, dass die Gesellschaft selbst transformiert wurde. Daher sind Rückwendungen möglich; dies steht am Sonntag in der Ukraine zur Wahl.

In Belarus sind solche Elemente des demokratischen Wechsels erst im Keim vorhanden und gegenwärtig auf (noch) relativ kleine Segmente der großstädtischen Bevölkerung beschränkt. Auch unter aufgeklärten, kritischen Geistern ist die abwägende Sorge noch präsent, ein Wechsel zöge Destabilisierung nach sich. Der stärkste Kandidat der endlich fast geeinten Opposition, Alexander Milinkiewitsch, hat nicht das populistische Charisma des nun einmal vorhandenen Autokraten; er hat an Statur gewonnen, aber es hätte selbst dann nicht gereicht, wenn ihm nicht - wie seine Anhänger und viele unabhängige Beobachter meinen - am vergangenen Sonntag vier Fünftel seiner Stimmen gestohlen worden wären.

Belarus ist noch postsowjetisch geprägt; die Ökonomie ist überwiegend in Staatshand, hat eben deswegen keine Bande kleptokratischer Oligarchen und Privatisierungsgewinnler hervorgebracht und erzielt annehmbare Ergebnisse. Zum Postsowjetischen gehört die - unter Lukaschenko wieder verstärkte - Präsenz des Russischen als Sprache und zu einem guten Teil als Identifikationsfaktor vor allem in den Städten. Das ist der Geschichte geschuldet. Die Bildungsschichten, die Nationales hätten aus sich heraus entwickeln können, sind von der stalinistischen Diktatur unterdrückt und russifiziert worden. Das prägende jüdische Element haben die nationalsozialistischen Besatzer ausgelöscht. Der Widerstand gegen die Besatzung war in diesem Land der Partisanen sowjetpatriotisch geformt. Das alles wirkt nach.

Was Belarus von anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion unterscheidet, liegt also auf der Hand. Damit ist jedoch ein demokratischer Prozess nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Kundgebungen auf dem Minsker Oktoberplatz, so klein sie sich auch im Vergleich zum Kiewer Maidan ausnehmen, sind ein Ansatz. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt hat das Regime der Opposition das Recht auf Demonstration nicht vorbeugend streitig gemacht, obwohl es Einschüchterung mit Fleiß betreibt. Es kommt nun darauf an, das Recht und die Freiheit nach der Demonstration durchzusetzen. Hier muss das Engagement der demokratischen Kräfte einsetzen - auch jenseits der belarussischen Grenze.

* Aus: Frankfurter Rundschau (Kommentar, S. 3), 22. März 2006


Präsidentensturz mißlungen

Die Wahl in Belarus hat manche Hoffnungen des Westens enttäuscht.

Von Knut Mellenthin**


Was haben Belarus und Palästina gemeinsam? In beiden Ländern verfolgt der freie Westen unerbittlich sein demokratisches Ideal: Mit Strafmaßnahmen drohen – und so lange wählen lassen, bis das Ergebnis endlich den eigenen Interessen und Vorstellungen entspricht.

Nach diesem Prinzip hatten die USA und die europäischen Großmächte schon im September 2001 versucht, den »letzten Diktator Europas«, den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, zu stürzen. Schätzungsweise 40 Millionen Dollar hatten damals die US-Regierung sowie zahlreiche »private« Organisationen und Stiftungen der USA und der EU in diesen Versuch investiert. Vergeblich: Lukaschenko siegte mit 75,6 Prozent der Stimmen. Sein wichtigster Herausforderer, Wladimir Gontscharik, ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär, erreichte nur 15,4 Prozent.

Schon damals hatte sich die Opposition, von amerikanischen und europäischen Experten fürsorglich an die Hand genommen, darauf vorbereitet, gleich in der Wahlnacht »Betrug!« zu schreien, zu Demonstrationen aufzurufen und Neuwahlen zu fordern. Die Taktik hatte ein Jahr zuvor, am 5. Oktober 2000, in Jugoslawien zum Sturz von Slobodan Milosevic geführt. Belarus hätte das zweite Glied in einer Kette ferngesteuerter und fremdfinanzierter »demokratischer Revolutionen« werden sollen. Aber in der Wahlnacht des 9. September 2001 versammelten sich in Minsk gerade mal 2 000 Menschen, um entweder den Sieg von Gontscharik zu feiern oder gegen die vermeintliche Wahlfälschung zu protestieren. Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses löste sich die »Menge« in gedrückter Stimmung auf und ging nach Hause. Es dauerte danach noch bis zum November 2003, bevor der NATO in Georgien die zweite der bestellten »Revolutionen« gelang.

Uneinige Opposition

Am 17. Oktober 2004 ließ sich Lukaschenko durch ein Referendum die Option auf eine dritte Amtszeit legalisieren. Von diesem Moment an schien es für westliche Politiker und Medien eine ausgemachte Sache, daß man Lukaschenko bei der nächsten Präsidentenwahl im Jahre 2006 zur Strecke bringen würde. Die »orange Revolution« in der Ukraine im November 2004 verstärkte die Zuversicht, es mit der gleichen Taktik demnächst auch in Belarus zu schaffen. Im Frühjahr 2005 erfanden westliche Werbeagenturen schon einen Namen für das Traumprojekt: »Kornblumen-Revolution« sollte es heißen, denn diese Pflanze gilt in Belarus als eine Art nationales Symbol. Eine pfiffige Idee, denn Blau ist auch die Grundfarbe der Fahne der Europäischen Union, unter deren Patronage die sorgfältig geplante »Revolution« stattfinden sollte.

Der belarussische Präsident jedoch zeigte, typisch Diktator, keine Neigung, sich so einfach abservieren zu lassen. Der Westen versuche schon seit zehn Jahren, ihn zu stürzen, aber werde damit auch künftig keinen Erfolg haben, verkündete er. In Belarus werde es keine ferngesteuerte Revolution geben – weder eine Orangen-Revolution noch eine Bananen-Revolution. Mit einem geschickten Schachzug brachte Lukaschenko den Zeitplan der Gegenseite durcheinander: Er verlegte die Präsidentenwahl, die eigentlich erst für September 2006 erwartet worden war, auf den 19. März dieses Jahres. Die Opposition geriet dadurch unerwartet unter Zeitdruck. Erst Anfang Oktober vorigen Jahres gelang die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten, den politisch fast völlig unbekannten Physiker Alexander Milinkewitsch, der von der nationalistisch-antirussischen »Volksfront« präsentiert worden war. Auf einem Oppositionskongreß setzte er sich völlig überraschend mit winzigem Vorsprung gegen den vom Westen favorisierten Vorsitzenden der wirtschaftsliberalen Vereinigten Bürgerpartei, Anatol Lebedko, durch.

Schon während des Kongresses wurde deutlich, daß es nicht bei dem einen Kandidaten der Opposition bleiben würde. Alexander Kosulin, der Vorsitzende der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei, meldete ebenfalls seine Kandidatur an. Kosulin war in den Jahren 1998 bis 2001 Bildungsminister unter Lukaschenko gewesen, nachdem er sich zwischen 1988 und 1996 bis zum stellvertretenden Minister hochgedient hatte. Der sozialdemokratischen Partei, die ihn im April 2005 zum Vorsitzenden wählte, war Kosulin erst einen Monat zuvor beigetreten.

Als vierter Kandidat trat Sergej Haidukewitsch zur Präsidentenwahl an. Er führt die Liberaldemokratische Partei, die sich an die rechtsextreme russische Organisation gleichen Namens anlehnt, gilt aber als Verbündeter von Lukaschenko. Haidukewitsch hatte es bei der Wahl im September 2001 auf 2,5 Prozent gebracht. Seit der letzten Parlamentswahl im Oktober 2004 sind die Liberaldemokraten die einzige im Abgeordnetenhaus vertretene Nichtregierungspartei.

Fragwürdiges Umfrageergebnis

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis hat Lukaschenko die Wahl am 19. März mit 82,6 Prozent klar gewonnen. Bei einer Rekordwahlbeteiligung von 92,6 Prozent hat er nach Angaben der Wahlleitung rund 800 000 Stimmen mehr bekommen als im September 2001, nämlich 5,46 Millionen. Annähernd 400 000 Wähler (6 Prozent) stimmten für Milinkewitsch, 250 000 (3,5 Prozent) für Haidukewitsch und 154 000 (2,3 Prozent) für Kosulin.

Allein die Höhe von Lukaschenkos Wahlsieg gilt der belarussischen Opposition und westlichen Journalisten als Beweis, daß das Ergebnis gefälscht sein müsse. Überzeugend ist das jedoch nicht. Denn das jetzige Resultat entspricht ziemlich genau dem, das Lukaschenko schon im Juli 1994 erreichte, als er zum ersten Mal in das kurz zuvor neu geschaffene Präsidentenamt gewählt wurde. Und selbst die Kreise, die ihn heute als »letzten Diktator Europas« bezeichnen, geben ohne Einschränkung zu, daß die 1994er Wahl frei, fair und demokratisch war. Lukaschenko war damals auch noch gar nicht in einer Position, die es ihm ermöglicht hätte, die Wahl zu manipulieren.

Das wesentliche Argument, das die Opposition für ihren Vorwurf des Wahlschwindels anführt, ist eine Umfrage, die angeblich durch das private russische Meinungsforschungsinstitut von Juri Lewada durchgeführt worden sein soll. Dabei soll es sich um ein sogenanntes exit poll, also eine Befragung der aus den Wahllokalen Kommenden am Wahltag, gehandelt haben. Sie soll ergeben haben, daß rund 47 Prozent für Lukaschenko und 25 Prozent für Milinkewitsch gestimmt hätten, was der Oppositionsführer flugs zu einem Drittel der Wähler aufrundete.

Diesem Zahlenspiel ist zu entnehmen, daß selbst die Opposition nicht den deutlichen Vorsprung Lukaschenkos in der Volksgunst zu bestreiten wagt, sondern sich darauf beschränkt, einen zweiten Wahlgang herausschinden zu wollen. Der wäre fällig geworden, wenn der Amtsinhaber die absolute Mehrheit verfehlt hätte. Dahinter steckt die Absicht, wie 2004 in der Ukraine, die Zeit bis zum zweiten Wahlgang für Machtdemonstrationen auf der Straße auszunutzen, um das Kräfteverhältnis zu verändern. Schon bei der Wahl im Jahr 2001 hatte der damalige Herausforderer Gontscharik ein ähnliches angebliches Umfrageergebnis aus dem Hut gezaubert. Demnach hätte Lukaschenko damals lediglich 46 Prozent bekommen und er selbst 40 Prozent.

Das nach dem Urnengang von der Opposition angeführte Umfrageergebnis hat einen wesentlichen Schönheitsfehler: Das Lewada-Institut, das den Liberalen Rußlands nahesteht, hat nach Angaben der Wahlleitung keine Befragungen am Wahltag durchgeführt. Es wäre dazu nach belarussischem Recht gar nicht legitimiert gewesen. Weil exit polls fragwürdiger westlicher oder prowestlicher Unternehmen bei den »demokratischen Revolutionen« in Jugoslawien, Georgien und der Ukraine eine zentrale Rolle spielten, hat Lukaschenko sie vorsorglich verbieten lassen. Sondergenehmigungen wurden nur zwei regierungsnahen Organisationen erteilt, die am Sonntag noch während des Wahlvorgangs ihre Ergebnisse veröffentlichen durften.

USA und EU drohen mit Sanktionen

Letztlich bestreitet kaum jemand ernsthaft, daß Lukaschenko in der belarussischen Bevölkerung sehr populär ist und auch ohne polizeiliche Schikanen gegen den Wahlkampf der Opposition klar das Rennen gemacht hätte. Die materiellen Gründe dafür liegen auf der Hand: Der Präsident hat konsequent die vom Imperialismus diktierten »Schocktherapien« und raubkapitalistischen Wirtschaftsexperimente verweigert. Viele Beschädigungen, unter denen Rußland und die meisten post-sowjetischen Gesellschaften heute noch leiden, hat das Land dank dieser Politik vermieden. In Belarus sind keine Milliardenvermögen in der Hand von wenigen Spekulanten entstanden wie in Rußland. Korruption ist dort zwar auch nicht unbekannt, aber sie ist geringer als im größten Teil der früheren Sowjetunion. Das Rentenniveau in Belarus liegt höher als in Rußland, der Ukraine oder dem von der US-Regierung gehätschelten Musterländle Georgien. Und vor allem: Die Renten, ebenso wie die Löhne, werden im Gegensatz zu diesen Staaten zuverlässig und pünktlich gezahlt. Großen Wert legt der Präsident auch darauf, die Landwirtschaft und die Landbevölkerung durch gelenkte Investitionen und Subventionen vor den Katastrophen zu schützen, die sich in den meisten post-sowjetischen Gesellschaften ereignet haben.

Es gehört schon große Dreistigkeit und vor allem ein kräftiger Finanz- und Motivationsschub aus dem Ausland dazu, wenn Milinkewitsch und Kosulin vor diesem Hintergrund behaupten, sie seien die eigentlichen Gewinner der Wahl. Für ihre Klage, im Wahlkampf durch ständige Polizeischikanen – wie etwa die Festnahme von Flugblattverteilern – erheblich behindert und benachteiligt worden zu sein, können die Oppositionskandidaten durchaus schwerwiegende Fakten anführen. Aber daß sie am Montag abend in Minsk von vielleicht gerade mal 3 000 Anhängern eine »Erklärung des Volks von Belarus« beschließen ließen, in der sie die Wahl für »ungültig« erklärten, kann man nur als lächerliche Farce und Anmaßung bezeichnen. Offensichtlich kommt es ihnen weitaus mehr darauf an, im westlichen Ausland zu punkten, als die Mehrheit der eigenen Bevölkerung zu überzeugen.

Ermutigt werden sie durch die Reaktion der Regierungen in USA und Europa auf den Wahlausgang. Das Stichwort, die Wahl sei »ungültig« und werde »nicht akzeptiert«, kam vom Pressesprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan. Eine Reihe von Politikern der EU-Gremien, die sich selbst vor allem durch das Fehlen jeglicher demokratischer Legitimation auszeichnen, drohten schon am Montag morgen mit Sanktionen.

Besonderen Raum nimmt in den westlichen Medien die Reaktion der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ein, die mit über 400 Wahlbeobachtern in Belarus präsent war. Bereits Montag mittag lag die erste Stellungnahme der »OSZE-Wahlbeobachtungsmission« vor. Die Präsidentenwahl habe, so hieß es dort, nicht den OSZE-Kriterien für demokratische Wahlen entsprochen.

Diese Stellungnahme ist freilich selbst ein Anschauungsbeispiel für völlig undemokratische Machtanmaßung, denn die OSZE-Wahlbeobachter werden ihre Ergebnisse und Schlußfolgerungen offiziell erst in etwa sechs Wochen vorlegen. Daß sie dabei zu übereinstimmenden Aussagen kommen werden, ist höchst unwahrscheinlich. Denn der OSZE gehören mittlerweile 55 Staaten an, darunter beispielsweise Turkmenistan, wo freie Wahlen völlig unbekannt sind. Die Wahlbeobachter aus Rußland und den übrigen Ländern der GUS – allesamt auch OSZE-Mitglieder – haben am Montag eine sehr positive (vermutlich allzu positive) Bewertung der Wahl als »frei, offen und transparent« veröffentlicht. Der Leiter der GUS-Beobachtergruppe, Wladimir Ruschailo, kritisierte, »daß das Ausland bei dieser Präsidentenwahl beispiellosen Druck ausgeübt hat«.

Und die völlig einseitige angebliche OSZE-Stellungnahme, die zumindest der Position der GUS-Staaten überhaupt nicht Rechnung trägt? Sieht man genauer hin, handelt es sich um persönliche Meinungsäußerungen eines US-Amerikaners, Alcee Hastings, der als »Sonderkoordinator« für die OSZE-Wahlbeobachter in Belarus fungierte und der unter Mißbrauch dieses Amts Verlautbarungen im Namen der OSZE abgibt, zu denen er überhaupt nicht legitimiert ist.

In allen westeuropäischen Reaktionen wird übereinstimmend betont, daß die demnächst zu beschließenden »Zwangsmaßnahmen« sich nicht gegen die Bevölkerung von Belarus richten sollen, sondern ausschließlich gegen »die Verantwortlichen des Regimes«. Wirtschaftssanktionen stünden deshalb nicht zur Debatte. In erster Linie könnte es um eine Ausweitung des Einreiseverbots für bestimmte Personen sowie um Zugriff auf deren Auslandskonten – sofern denn solche überhaupt bestehen – gehen. Bisher sind von dem Einreiseverbot nur sechs belarussische Beamte und Politiker betroffen. Lukaschenko gehört nicht dazu.

Daß hinter dem Verzicht auf Wirtschaftssanktionen wohl nicht nur humanitäre Rücksicht auf die belarussische Bevölkerung steckt, machte Lukaschenko in seiner ersten Reaktion auf die EU-Drohungen deutlich. Belarus liege »im Herzen Europas«, sagte der Präsident. »Mehr als 100 Millionen Tonnen Transitfracht werden durch Belarus von und nach Rußland transportiert. Wenn die EU auf diesem Gebiet Probleme bekommen will, kann sie diese kriegen.« Zum Haushalt der Nachbarstaaten Lettland und Litauen trügen die Wirtschaftsverbindungen mit Belarus rund 30 Prozent bei, so Lukaschenko. Ferner verwies er auf das wachsende Volumen der Transporte von Öl und Erdgas durch Belarus nach Europa.

Opposition trotz Niederlage gestärkt

Aktuell konzentrieren sich die Anstrengungen der USA und der EU darauf, die Regierung in Minsk durch Drohungen zu veranlassen, die Demonstrationen der Opposition im Stadtzentrum weiter gewähren zu lassen, in der Hoffnung, daß es schließlich doch noch zu einer »Volksbewegung« kommt. Der Pressesprecher des US-Präsidenten, Scott McClellan, »warnte« am Montag die belarussischen Behörden, »diejenigen, die ihre politischen Rechte wahrnehmen«, zu behindern oder festzunehmen. Am selben Tag wurden in Washington vorm Pentagon Dutzende von Antikriegsdemonstranten festgenommen, weil sie gegen Polizeiauflagen verstoßen haben. In ganz Europa wird man, vielleicht mit Ausnahme von Andorra, kaum ein Land finden, in dem die Polizei nicht schon oft mit großer Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen ist. Das wird freilich den Chor der Heuchler nicht hindern, über den »letzten Diktator Europas« herzufallen, falls die Minsker Polizei ihre bisherige Taktik aufgibt, die Anhänger der Opposition ungehindert gewähren zu lassen.

Nachdem die Regierungsbeamten um Lukaschenko und auch der Präsident selbst vor der Wahl mit überscharfen Sprüchen – wie etwa: Man werde illegal Demonstrierende als Terroristen betrachten und behandeln – Nervosität zu erkennen gaben, ließen sie die Polizei in der Wahlnacht und auch am Montag zur allgemeinen Überraschung geradezu mustergültig zurückhaltend agieren. Dazu trug vermutlich wesentlich die Erleichterung bei, daß die Zahl der Demonstranten mit etwa 10.000 in der ersten und 5.000 in der zweiten Nacht sehr gering blieb, gemessen am Wählerpotential der Opposition von über einer halben Million Menschen.

Auf der anderen Seite wird der Regierung bewußt sein, daß die Opposition seit einer Reihe von Jahren nicht mehr so viele Anhänger auf die Beine gebracht hat. Nach der Präsidentenwahl vor fünf Jahren waren nur 2.000 Menschen dem Demonstrationsaufruf gefolgt. Lukaschenko wird trotz seiner eindeutigen Bestätigung an den Wahlurnen künftig mit einer gestärkten Opposition rechnen müssen, sofern er sich nicht zu Repressivmaßnahmen verleiten läßt, die vermutlich selbst in Moskau Unwillen auslösen würden.

** Aus: junge Welt, 22. März 2006



Aktuelle Meldungen:

USA-EU:Sanktionen?
Die USA wollen nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Weißrussland zusammen mit der Europäischen Union die Sanktionen gegen die Führungsspitze in Minsk verschärfen. Die Vereinigten Staaten bereiteten "ernsthafte und angemessene Maßnahmen" gegen jene Politiker vor, die für den Wahlbetrug und die Menschenrechtsverstöße verantwortlich seien, sagte am Montag in Washington der Sprecher des Außenministeriums, Sean McCormack. Diese Schritte sollten mit der EU koordiniert werden.
AFP, 20. März 2006

USA erkennen Wahlergebnis nicht an
Die Wahlergebnisse in Weißrussland werden von den USA nicht anerkannt, und die Vereinigten Staaten werden Sanktionen gegen einige offizielle Persönlichkeiten Weißrusslands erwägen. Das erklärte Scott McLennan, Pressesekretär des Weißen Hauses, am Montag vor Journalisten in Ohio. "Die Wahlkampagne verlief in einer Atmosphäre der Angst und war von Festnahmen, Verprügelungen und Machenschaften begleitet", sagte er. Zugleich betonte der Sprecher, dass die USA-Administration "den Demokraten Weißrusslands für deren Mut applaudiert". "Wir unterstützen ihren Aufruf zu Neuwahlen", teilte der Pressesekretär des Präsidenten mit. "Gemeinsam und in Abstimmung mit der EU sind wir bereit, Schritte gegen die offiziellen Persönlichkeiten zu unternehmen, die Verantwortung für die Wahlfälschungen und Menschenrechtsverletzungen tragen", so McLennan. "Einreiseeinschränkungen und selektive finanzielle Sanktionen gegen einzelne Personen werden von uns erwogen." "Wir mahnen außerdem die Behörden Weißrusslands, denjenigen nicht anzudrohen, die in den nächsten Tagen und später ihre politischen Rechte realisieren werden, und sie nicht festzunehmen", sagte Bushs Pressesekretär.
RIA Novosti, 21. März 2006

Milinkewitsch bei Protesten
Aus Protest gegen das offizielle Wahlergebnis in Weißrussland haben Oppositionsführer Alexander Milinkewitsch und rund tausend seiner Anhänger auch die Nacht zum Mittwoch (22. März) auf dem Oktoberplatz verbracht. Die zweite Nacht in Folge trotzten sie Sicherheitskräften und klirrender Kälte und errichteten rund zwanzig weitere Zelte. "Wir sind heute mehr als gestern und ich hoffe, dass wir morgen noch mehr sein werden", sagte Milinkewitsch vor den überwiegend jungen Anhängern. Die meisten Demonstranten verließen am Morgen den Oktoberplatz, für den Abend wurde jedoch eine erneute Kundgebung angekündigt. Am Samstag (25. März) ist eine Großkundgebung geplant.
AFP, 22. März 2006

Lage in der Stadt ruhig
Bereits seit mehr als 36 Stunden harren rund 300 Anhänger der weißrussischen Opposition in einem Zeltlager auf dem Oktjabrskaja-Platz im Zentrum Minsks aus. Sie wollen dort bis zur Aufhebung der Wahlergebnisse und der Abhaltung neuer Wahlen bleiben. Der Oppositionskandidat Alexander Milinkewitsch besucht regelmäßig den Platz, obgleich er zuvor erklärt hat, er habe mit der Organisation dieser Aktion nichts zu tun. Über dem Zeltlager wehen weiß-rot-weiße Fahnen sowie Fahnen Russlands, der EU und Polens. Die Lage in der Stadt bleibt ruhig. Neben den Demonstranten haben auch Polizisten, die den Platz bewachen, sowie Journalisten bereits ihre zweite schlaflose Nacht hinter sich.
RIA Novosti, 22. März 2006




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