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Sängerin des Volkes

Schwester, Mutter, Kameradin: Ein Nachruf auf Mercedes Sosa

Von Uli Brockmeyer *

Es ist unmöglich, eine Beschreibung zu finden, die dieser Sängerin und ihrem großen Werk gerecht wird – und schon gar nicht der Lücke, die sie hinterläßt. Mercedes Sosa war die Stimme Lateinamerikas, auch, nachdem reaktionäre Militärs sie 1979 aus dem Land getrieben und ihre Lieder mit Verbot belegt hatten.

Geboren wurde Mercedes Sosa am 9. Juli 1935, dem argentinischen Nationalfeiertag, in San Miguel de Tucumán, wo Argentiniens Unabhängigkeit proklamiert worden war. Die Tochter eines Zuckerrohrarbeiters wurde geprägt von Armut, aber auch Aufrichtigkeit. Nach der Schule verdiente sie etwas Geld als Tanzlehrerin. 1950 gewann sie bei einem lokalen Radiosender einen Gesangswettbewerb, zu dem ihre Freund­innen sie hatten drängen müssen. Irgendwann stand sie vor der Entscheidung, Opernsängerin zu werden. Ihr Vater meinte, dann müsse sie immer für die Reichen singen. Das wollte sie nicht und wurde gemeinsam mit Armando Tejada Gómez und Manuel Oscar Matus, ihrem späteren Ehemann, in den nächsten Jahre eine der führenden Akteure des Neuen Lateinamerikani­schen Liedes.

Ihrer ersten Platte »La voz de la zafra« (Das Lied der Zuckerrohrernte) im Jahre 1962 folgten etwa 70 weitere Alben. Sie übernahm Texte und Kompositionen anderer argentinischer und lateinamerikanischer Künstler, viele dieser Gedichte und Lieder wurden erst durch ihre Interpretation berühmt.

In den 60er Jahren gab sie ihr erstes Konzert in einem kleinen Theater in Buenos Aires. Sie wurde in der Hauptstadt und ihrer Heimatprovinz Tucumán bekannt. Die Menschen nannten sie wegen ihrer schwarzen Haare »La Negra« oder einfach Mercedes. Tagelöhner im Hafen von Buenos Aires, Männer in den Fabriken und Schlachthöfen, Frauen in den Arbeitervierteln sagten: »Sie ist eine von uns«. Und sie ging oft zu denen, die nicht genug Geld hatten, sich eine Karte für ihre Konzerte zu kaufen; reiste vom Norden bis in den tiefsten Süden, wo Leute leben, für die Buenos Aires so weit entfernt ist wie Europa. Sie sang in der Pampa mit den Kindern ein Schlaflied ihres Freundes Víctor Jara, und bei den Gauchos das Lied von María, der Bäuerin, die sich auf den Tabakplantagen den Rücken krumm schuftet und nur in der Mittagpause Zeit hat, ihr Kind zur Welt zu bringen. »María, eine Frau, die es verdient zu leben und zu lieben wie alle Frauen des Planeten.«

Das neue Volkslied in Argentinien wurde beeinflußt von politischen Liedern aus dem Nachbarland Chile. Sänger der Unidad Popular traten in Argentinien auf. Sosa sang Lieder von Víctor Jara, Angel und Violeta Parra, von Quilapayún und Inti Illimani. Eines der bekannten Lieder jener Zeit ist »Gracias a la vida« von Violeta Parra, in dem es heißt: »Danke dem Leben, das mir so viel gegeben hat. Es gab mir das Lächeln und das Weinen, und so unterscheide ich zwischen Freude und Schmerz – den beiden Bestandteilen, die meinen Gesang ausmachen, und euren Gesang, und den Gesang aller, der auch mein eigener ist. Danke an das Leben.«

Wenige Tage nach dem faschistischen Putsch vom 11. September 1973 in Chile wurde Víctor Jara im Stadion von Santiago ermordet. »Für Víctor« sang Sosa: »Das Lied des guten Sängers kann nicht in Blut ertränkt werden. Sie müssen den Fluß zum Schweigen bringen, sie müssen das Meer austrocknen. Sie müssen den Regen anhalten und die Sonne abschalten. Sie müssen das Lied töten, um deine Stimme vergessen zu machen.«

Als keine drei Jahre später eine ähnliche Militärdiktatur über Argentinien kam, gehörte »La Negra«, die sich nie in einer politischen Partei engagiert hat, zu denen, die Widerstand leisteten. Kommunisten und Stadtguerrilleros »verschwanden«, Pfarrer wurden eingekerkert. Die Junta versuchte auch, Sosa zum Schweigen zu bringen. 1979 wurde sie bei einem Konzert mitsamt ihrem Publikum verhaftet. Aus Angst vor der Öffentlichkeit im Ausland wurde sie nach einigen Stunden mit der Auflage freilassen, das Land zu verlassen. Die Lieder, die sie in vielen Teilen der Welt bekanntgemacht hatte, durften in Argentinien nicht mehr gespielt oder gesungen werden. Sie ging nach Paris, dann nach Madrid, reiste zu Gastspielen. 1982, es waren beinahe vier Jahre vergangen, konnte sie zum ersten Mal wieder argentinischen Boden betreten. Später sagte sie in einem Interview: »Ich werde nie wieder ins Exil gehen. Wenn sie mich umbringen wollen, dann sollen sie mich umbringen. Ich werde meine Heimat nie wieder verlassen!«

Unmittelbar nach ihrer gefeierten Rückkehr gab sie zwischen dem 18. und dem 28. Februar 1982 im Teatro Ópera von Buenos Aires mehrere Konzerte, bei denen sie von anderen Künstlern aus Lateinamerika begleitet wurde.

Im Februar 1984 stand Mercedes Sosa beim Festival des politischen Liedes in der DDR auf der Bühne. Im großen Saal des Palastes der Republik gab sie ein umjubeltes Konzert vor einem Publikum, das nur wenig von dem verstand, was sie sang. Und doch wußten alle, was sie meinte. Nach drei Jahren stand sie erneut auf dieser Bühne, sang auch »Gracias a la vida« und erklärte mir hinterher: »Ich glaube, Violeta Parra hat mit diesem Lied uns allen, jedem Erdenbürger, die größte Hymne an die Liebe und das Leben geschrieben.«

Im Dezember 1984 füllte sie das Stadion Vélez in Buenos Aires, wo sie gemeinsam mit León Gieco dessen großes Antikriegslied »Sólo le pido a Dios« sang. »Alles, was ich von Gott erbitte, ist, daß mich der Krieg nicht gleichgültig macht«, heißt es da. Und: »Alles, was ich von Gott erbitte, ist, daß der Verrat mich nicht gleichgültig läßt.«

Mercedes Sosa ließ sich niemals politisch einbinden. »Ich mische mich nicht ein«, sagte sie gern, auch in Israel, merkte allerdings an, daß der Frieden wichtiger ist als alles sonst.

»La Negra« war wie eine Freundin, eine Schwester, eine Mutter – in den letzten Jahren wurde sie in Argentinien voller Zärtlichkeit auch »La Mama« genannt. Sie war niemals eine Diva, selbst den Gedanken daran wies sie entschieden zurück. »Ich bin eine Sängerin des Volkes!« Und sie war eine Kameradin, die sich bei ihren Konzerten oft verabschiedete mit »Hasta la vista, compañeros!«

1987 erklärte sie mir in einem Gespräch: »Wenn ich auf der Bühne stehe und die Liebe der Menschen spüre, dann danke ich dem Leben dafür. Was ist wichtig, wenn ich singe? Ohne Zweifel die Achtung vor den Menschen, denn Ruhm und Erfolg bedeuten mir wenig.«

Mercedes Sosa starb nach einem erfüllten Leben am Sonntag morgen im Alter von 74 Jahren in einem Krankenhaus in Buenos Aires. Hasta la vista, compañera. Gracias a la vida!

* Aus: junge Welt, 6. Oktober 2009

Hier geht es zu einer Live-Aufnahme mit Mercedes Sosa: "Gracias a la vida" (Externer Link)


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