Mutter und zwei Kinder erschossen
"Zwischenfall" an Bundeswehr-Straßensperre in Afghanistan / LINKE fordert erneut Rückzug
Von René Heilig *
Bei einem – wie es offiziell heißt – Zwischenfall mit deutschen ISAF-Soldaten in Afghanistan sind am Donnerstagabend eine Frau und zwei Kinder erschossen worden. Vier weitere Kinder wurden dabei verletzt.
Es war Donnerstag gegen 22 Uhr. In der Dunkelheit näherten sich zwei Fahrzeuge einer südöstlich von Kundus errichteten Straßensperre. Sie war von afghanischen Polizisten und deutschen ISAF-Soldaten besetzt – und laut Aussage des Verteidigungsministeriums in Berlin – exakt gekennzeichnet. Was dann geschah, werde vor Ort noch ermittelt, erklärte ein Ministeriumssprecher gestern gegenüber ND. Offenbar scheinen die Bundeswehrsoldaten gefeuert zu haben. Warum ist noch unklar.
Die Lange in und um Kundus, dem Zentrum des deutschen Afghanistan-Abschnittes, ist angespannt. Sie hat sich in den letzten Wochen verschlechtert, bestätigt Oberst Christian Meyer, der Kommandeur vor Ort. Attacken gegen deutsche Soldaten, die sich einst als »Wiederaufbauhelfer« um ein gutes Verhältnis zu der Bevölkerung sorgten, nehmen zu. In diesem Monat wurde das Lager fünfmal nachts mit Raketen beschossen. Ein Geschoss schlug im Speisesaal ein. Anfang August wurden drei Soldaten schwer verletzt, als sich ein Motorradfahrer neben ihnen in die Luft sprengte. Am Donnerstag nahmen die Soldaten Abschied von einem 29-jährigen Hauptfeldwebel, der am 27. August bei einem Anschlag ums Leben gekommen ist. Drei weitere Soldaten wurden dabei verletzt.
Wenn die Patrouillen ausrücken, geschehe das mit einer gesteigerten Portion »gesunder Anspannung«, heißt es im Berliner Ministerium. Jenen, die traumatisiert ins Camp zurückkommen, werden von Truppenpsychologen und Militärseelsorger betreut. Denn die Kämpfe im ehemals relativ ruhigen Norden Afghanistans werden härter, die Führung in Kundus ruft nach Verstärkung. Am Montag wird ein Vorauskommando des Gebirgsjägerbataillons 232 aus Bad Reichenhall eintreffen. Die Einheit soll Panzergrenadiere der bisherigen »Quick Reaction Force« ablösen.
Nicht Ablösen, sondern Abziehen, lautet erneut die Forderung der Linkspartei, die sich gestern als einzige Bundestagspartei zu dem Vorfall äußerte. Bislang steht sie mit dieser Forderung alleine in der parlamentarischen Landschaft. Die Regierung versage in Afghanistan in jeder Hinsicht, unterstreicht der Verteidigungsexperte der Bundestagsfraktion Paul Schäfer. Sie verstricke das Militär immer tiefer in den völkerrechtswidrigen Krieg, »bei dem immer mehr Zivilisten getötet werden.« Sein Rat: »Die Probleme Afghanistans können nur in Afghanistan gelöst werden – durch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, den Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen und die Stärkung der Zivilgesellschaft.«
* Aus: Neues Deutschland, 30. August 2008
Bundesregierung trägt die Verantwortung für den Tod von Frauen und
Kindern in Afghanistan
Friedensbewegung: Truppen raus aus Afghanistan!
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
Kassel, 29. August 2008 - Zu den neuesten Vorfällen in Afghanistan
erklärt der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel:
"Südöstlich des Bundeswehrstützpunktes in Kundus hätten sich am
Donnerstagabend zwei Fahrzeuge einem mit afghanischen Polizisten und
deutschen Soldaten besetzten Checkpoint genähert, sagte der Sprecher des
Verteidigungsministeriums, Thomas Raabe. Trotz eindeutiger Zeichen der
Sicherheitskräfte seien die Fahrer der beiden Wagen weitergefahren.
Daraufhin hätten die Sicherheitskräfte das Feuer eröffnet."
Wie oft haben wir in den letzten Jahren solche und ähnliche Meldungen
lesen müssen. Meist handelte es sich um Vorfälle im Irak und die
Beteiligten waren fast immer US-Soldaten. Die Vorfälle der letzten Tage
(90 getötete Zivilisten, 10 getötete französische Soldaten, ein toter
Bundeswehr-Soldat) haben gezeigt, dass die Sicherheitslage in
Afghanistan sich zunehmend verschlechtert und dass die Besatzungstruppen
weiter unter Druck geraten.
Dies gilt auch für den angeblich "ruhigeren" Norden des Landes, in dem
die Bundeswehr stationiert ist. Wovor die Friedensbewegung seit Jahr und
Tag gewarnt hat, ist heute unübersehbar: Krieg und Besatzung in
Afghanistan stecken in der Sackgasse. Die Lage für die Bevölkerung wird
nicht besser, sondern schlechter. Immer mehr Zivilpersonen geraten
zwischen die Fronten. Hilfsorganisationen werden wegen ihrer Nähe zu den
Besatzungstruppen von den Aufständischen als Kombattanten angesehen.
Wir sagen: Die politische und moralische Verantwortung für die getöteten
Zivilisten, eine Frau und zwei Kinder, trägt die Bundesregierung.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag bekräftigt seine bisherige Haltung
und fordert - in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Bevölkerung - die
Bundesregierung und den Bundestag auf, im Herbst auf keinen Fall einer
Aufstockung der Bundeswehr zuzustimmen, sondern den Militäreinsatz ganz
abzulehnen. Bei den zahlreichen Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen
zum diesjährigen Antikriegstag am 1. September steht für die
Friedensbewegung das Afghanistan-Thema an erster Stelle.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
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