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Den Krieg in Afghanistan beenden – aber wie?

Anmerkungen zur Eskalation des Krieges und zur Belebung der Antikriegs-Proteste

Von Peter Strutynski *

In die Afghanistan-Debatte kommt Schwung. So richtig die Feststellung ist, dass die Bevölkerung seit Jahren sich nicht nur das Recht herausnimmt den Krieg auch Krieg zu nennen, sondern ihn auch abzulehnen, so richtig ist auch die Beobachtung, dass mit dem Kunduz-Massaker vom 4. September 2009 und den sich häufenden Todesfällen unter Bundeswehrsoldaten die Diskussion um den Krieg eine neue Dimension angenommen hat. Das Eingeständnis der Bundesregierung, es handle sich in Afghanistan nicht mehr nur um einen „Stabilisierungseinsatz“ – das war die Sprachregelung noch unter dem geschassten Verteidigungsminister Franz-Josef Jung -, sondern um einen „bewaffneten Konflikt“, den das einfache Volk umgangssprachlich durchaus auch „Krieg“ nennen dürfe, ist nur der sichtbare Ausdruck für das totale Scheitern ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Daran wird auch die „Ehrlichkeits-Offensive“ der Regierung nichts ändern. Denn erstens kommt sie nach 8 ½ Jahren Krieg reichlich spät, zweitens wird sie konterkariert durch das offenkundige Herumgeeiere des forschen Verteidigungsministers, der im Kunduz-Untersuchungsausschuss versucht, seine eigene Fehleinschätzung, die Operation von Oberst Klein sei „angemessen“ gewesen, auf den damaligen Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn und Staatssekretär Peter Wichert abzuwälzen, drittens verschweigt die Regierung weiterhin die wirklichen Motive für ihre Anwesenheit in Afghanistan und viertens tischt sie uns als neue Lüge das Märchen von der „Abzugsperspektive“ auf – die wird es auf absehbare Zeit ebenso wenig geben wie einen durchschlagenden militärischen Erfolg.

Alte Märchen – neuer Realismus

Auch an ein anderes Märchen haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Die Bundeskanzlerin ist eine Meisterin im Märchenerzählen, wie ihre letzte Regierungserklärung zu Afghanistan vom 22. April 2010 wieder bewies: „Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan.“ Lediglich in der Beschreibung der gegenwärtigen militärischen Lage in Afghanistan legt die Bundesregierung gezwungenermaßen etwas mehr Realitätsbezug an den Tag. In der erwähnten Regierungserklärung vor dem Bundestag räumte die Kanzlerin immerhin ein, dass noch manches im Argen sei am Hindukusch, dass die Ziele des Einsatzes längst nicht erreicht seien und dass der Einsatz für die Soldaten immer gefährlicher geworden sei. Mit „Ehrlichkeit“ hat aber auch dies nichts zu tun. Vielmehr dient der „schonungslose Hinweis“ auf die rauere Wirklichkeit des Krieges als psychologische Einstimmung der Öffentlichkeit auf noch mehr Opfer unter den deutschen Soldaten. Der CDU-Politiker und Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz fordert zum Beispiel, die Gefahren des Afghanistan-Einsatzes deutlicher zu benennen.“Die Gefahren steigen, da sind Opfer auf beiden Seiten nicht vermeidbar. In jeder Form des bewaffneten Konflikts gibt es Gefallene. Dem müssen auch wir ins Auge sehen“, sagte Scholz am 6. April dem Internetportal „Focus Online“. Dass die Bundesregierung mittlerweile von einem bewaffneten Konflikt spricht, hält Scholz wegen der rechtlichen Konsequenzen für die Soldaten für wichtig. Diese müssten sich beispielsweise im Falle von zivilen Opfern wie beim Luftangriff von Kunduz im September nicht nach nationalem Strafrecht, sondern nach Kriegsvölkerrecht verantworten. Auf die Frage, ob das heiße, dass deutsche Soldaten auch gezielt töten dürften, sagte Scholz: „Wenn notwendig: ja.“

Das Kriegsvölkerrecht sieht indessen nirgends vor, dass auch Zivilpersonen „gezielt getötet“ werden dürfen. Genau dies war beim Kunduz-Massaker am 4. September 2009 der Fall. Immerhin hatten die US-Piloten zweimal in der Einsatzzentrale von Major Klein nachgefragt, ob sie nicht erst einmal einen Warnangriff fliegen sollten, um die unbeteiligte Bevölkerung zu warnen. Diesen Vorschlag wies Oberst Klein zurück – das Unglück mit 142 Getöteten, darunter eine große Zahl von Zivilpersonen, nahm seinen Lauf.

Das Kunduz-Massaker: Kein Fall für die Gerichte

Dieser relativ klare Tatbestand eines unverhältnismäßigen Angriffs auf Zivilisten - nach den Genfer Konventionen und dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch von 2002 ein Kriegsverbrechen – konnte die Bundesanwaltschaft indessen nicht beeindrucken. Binnen weniger Wochen wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Die Bundesanwaltschaft argumentierte in dem Einstellungsbeschluss, dass der Tatbestand des § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB (Verbotene Methoden der Kriegsführung) nicht erfüllt sei, weil der beschuldigte Oberst Klein „nicht davon ausgegangen (sei), dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs Zivilisten auf der Sandbank des Kunduz-Flusses aufhielten“. Vielmehr konnten sie nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft „nach gewissenhafter und immer wieder aktualisierter Prüfung aller ihnen zum Geschehensablauf bekannten Fakten und Umstände annehmen, dass ausschließlich Aufständische vor Ort waren.“ Eine weitere Begründung lautet: Die Genfer Konventionen verbieten einen Bombenabwurf nur, wenn es sich um einen "unterschiedslosen" Angriff handelt. Und Oberst Klein habe sich „für einen örtlich eng begrenzten Einsatz mit der kleinsten zur Verfügung stehenden Bombengröße und -anzahl entschieden“. Dass dabei aber mindestens zwei Drittel der Getöteten Zivilopfer waren, die „Verhältnismäßigkeit“ des Mitteleinsatzes – auch dies ein Begriff aus dem humanitären Völkerrecht – also offenkundig nicht gewahrt war, spielt in der Argumentation der Bundesanwaltschaft ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass kein wirklicher militärischer Grund für den Bombeneinsatz vorlag.

Dennoch kam die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht überraschend. Auch in früheren Fällen hat die Bundesanwaltschaft stets den „Rechts“-Standpunkt der Bundesregierung übernommen – ob es sich um Klagen gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien oder gegen die Komplizenschaft im Irak-Krieg handelte. Interessant ist etwas anderes: In der Begründung wird ausschließlich auf das "Konfliktvölkerrecht" verwiesen und nicht etwa auf das "Kriegsvölkerrecht". Die Bundesanwaltschaft - eine Behörde, die auf Anweisung der Bundesregierung handelt - wollte den offenbar immer noch anrüchigen Begriff "Krieg" vermeiden. Sie spricht denn auch durchgehend von einem "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt". In der Sache macht das jedoch keinen Unterschied. Das humanitäre Völkerrecht, das in der Haager Landkriegsordnung, in den Genfer Konventionen und in den vier Genfer Abkommen einschließlich den beiden Zusatzprotokollen fixiert ist, gilt sowohl für "internationale bewaffnete Konflikte", also Kriege, als auch für jegliche anderen "bewaffneten Konflikte". Dies gilt insbesondere für die Regeln und Bestimmungen hinsichtlich des Schutzes der Zivilbevölkerung sowie für die Mittel und Methoden der Kriegführung. (Vgl. Stefan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, begründet von Otto Kimminich, Tübingen 2008, 9. Aufl., S. 560 sowie Norman Paech/Gerhard Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 599 ff)

Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist von Bundesregierung und Bundeswehrverband (DBeV) einhellig begrüßt worden. Manche sehen darin sogar einen Freibrief für ein noch härteres Durchgreifen im Afghanistan-Krieg. "Für die Kameradinnen und Kameraden vor Ort, die in der Vergangenheit zunehmend die fehlende Rechtssicherheit kritisierten, ist dies ein ganz wichtiges Signal, dem jedoch weitere Schritte folgen müssen." sagte der erste Stellvertreter des Bundesvorsitzenden des DBwV, Oberstabsbootsmann Wolfgang Schmelzer am 21. April in Bonn. Er fordert nach wie vor die Anpassung der Vorschriftenlage an das „veränderte Einsatzszenario“. Das wird fast so aufgefasst, als gälten im „Krieg“ andere Gesetze und Regeln als im „bewaffneten Konflikt“, als könnten die Bundeswehrsoldaten nun endlich die militärische Sau rauslassen.

Statt Abzug bessere Bewaffnung

Und noch eine Konsequenz wird aus der erhöhten Gefährdungslage gezogen: Es wird weiter aufgerüstet. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg stockt den Etat für die Afghanistan-Truppe deutlich auf: Die Kosten für 2010 seien statt der ursprünglich eingeplanten 832 Millionen Euro auf 1,059 Milliarden Euro gestiegen, berichtete die "Wirtschaftswoche" am 26. April. Die Mehrkosten von 227 Millionen Euro - ein Plus von 27 Prozent - seien der "neuen Situation" geschuldet und würden vom Verteidigungsministerium durch Umschichtungen im eigenen Etat gegenfinanziert, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums dem Magazin. Bereits zwei Wochen vorher hatte Guttenberg im ZDF angekündigt, er werde das an Ausrüstung fordern, "was meine Militärs mir sagen, was wir brauchen" (ZDF-Sendung "Berlin direkt" am 11. April). Nach jedem Gefecht, in dem Bundeswehrsoldaten getötet wurden, erhoben Militärs und Politiker die Forderung nach besserer Ausrüstung und Bewaffnung. Wenige Tage nach dem Tod von drei Soldaten am Karfreitag (2. April) forderte z.B. der designierte Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus den Einsatz von schweren Kampfpanzern und Mörsergranaten in Afghanistan. "Die Bundeswehr müsste einige der Leopard-2-Kampfpanzer nach Kunduz schaffen, die hier in Deutschland in Depots stehen", sagte der FDP-Politiker Königshaus dem "Tagesspiegel" (06.04.2010). Dieser Kampfpanzer sei besser gegen Minen geschützt als leichtere Panzer wie der Marder oder Transportfahrzeuge wie der Dingo und habe zudem eine abschreckende Wirkung. "Wer in das Kanonenrohr eines Leopard 2 schaut, überlegt sich zwei Mal, ob er einen deutsche Patrouille angreift", meinte Königshaus. Ähnlich argumentierte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat. In der "Sächsischen Zeitung" vom 6. April bemängelte er, die nötige Ausrüstung werde "immer zu spät, halbherzig und inkonsequent" zur Verfügung gestellt. Als Reaktion auf den Verlust von vier Bundeswehrsoldaten am 15. April bestellte die Bundeswehr im Eilverfahren weitere 60 gepanzerte Fahrzeuge. Wie die "Financial Times Deutschland" am 15. April unter Berufung auf das Verteidigungsministerium berichtete, sollte der Vertrag mit dem Schweizer Hersteller Mowag in wenigen Tagen unterzeichnet werden. Für 2011 ist demnach die Bestellung weiterer 90 geschützter Fahrzeuge vom Typ Eagle IV vorgesehen. Fazit: „Das Verteidigungsministerium muss das kriegen, was es möchte“, sagte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder am 20. April in einer Sitzung in Berlin.

Somit werden aus der verschärften Sicherheitslage die für Militärs am nächsten liegenden Konsequenzen gezogen. Sie reagieren mit einer Verstärkung ihrer militärischen Fähigkeiten. Solange die herrschende Politik davon überzeugt ist bzw. sich einredet, dass der Einsatz am Hindukusch „alternativlos“ sei – so Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 22. April 2010 -, ist diese Konsequenz sogar logisch. Die Crux ist nur, dass die Logik nicht aufgeht, weil der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist, weil die Aufrüstung und Verstärkung der Besatzungsmächte nur immer wieder den Widerstand im Land weiter anstachelt und somit nicht der „Stabilisierung“ der Sicherheitslage dient, sondern vielmehr zur Eskalation der gegenseitigen Gewalt beiträgt. Sollten dies nicht auch jene erkennen, die den Krieg an sich für gerechtfertigt halten?

Mehrheiten in allen Parteien gegen den Krieg – außer bei den GRÜNEN

Davon sind wir möglicherweise noch weit entfernt. Das ist aber zweitrangig, denn eine satte Mehrheit von ca. 70 Prozent lehnt den Krieg laut wiederholter Umfragen ab und plädiert für einen schnellen Abzug der Bundeswehr. Die Friedensbewegung kann durchaus auf diese Stimmungslage bauen – auch wenn die Motive der Ablehnung vermutlich ganz unterschiedlich sind und längst nicht alle Kriegsgegner zu den natürlichen Verbündeten der Friedensbewegung gehören. Eine nicht gering zu schätzende Anzahl von Menschen dürfte aus rein isolationistischen Gründen den Krieg ablehnen nach dem Motto „Was geht uns Afghanistan an; haben wir nicht genug Probleme bei uns?!“ Dem stehen diejenigen gegenüber, die den Afghanistankrieg bis zum heutigen Tag als humanitären Einsatz zum Schutz der Menschen-, insbesondere der Frauenrechte und zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien und Strukturen verteidigen. Hierunter befinden sich nicht wenige Menschen aus dem grünen-alternativen Spektrum, Intellektuelle und im guten Sinne internationalistisch eingestellte „Gutmenschen“ – sie gehören oder gehörten in der Vergangenheit gewiss auch zur Klientel der Friedensbewegung. Einer Umfrage aus dem letzten Jahr zufolge plädierten mehr oder weniger große Mehrheiten der Mitglieder- und Wähler von Linkspartei, SPD, FDP und CDU/CSU für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan; lediglich die Grünen-Anhänger befürworteten mehrheitlich die Fortsetzung des militärischen Engagements am Hindukusch. Das frappierende Ergebnis im Einzelnen: Auf die Frage, ob die Bundeswehr in Afghanistan stationiert bleiben solle, antworteten mit „Ja“ 50 Prozent der GRÜNEN, 46 Prozent der CDU/CSU-Wähler, 42 Prozent der FDP, aber nur 34 Prozent der SPD- und lediglich 22 Prozent der LINKEN-Anhänger. (DeutschlandTrend extra, ARD, 10.09.2009.)

Dieser Befund erklärt zu einem Teil die Schwierigkeit der Friedensbewegung, aus dem traditionellen intellektuellen Protestpotenzial prominente Verbündete zu rekrutieren. Bei den bundesweiten Afghanistan-Demos der letzten drei Jahre (2007, 2008 und 2010) machte sich dieser offenkundige Mangel an Promi-Unterstützung schmerzlich bemerkbar. Er erklärt indessen nicht die Mobilisierungsschwäche der Friedensbewegung anlässlich solcher Aktionen – wobei es gleichgültig ist, ob die Friedensbewegung auf zentraler Ebene (Berlin) oder dezentral in den Städten und Regionen auf die Straße geht.

Die Mobilisierungsschwäche der Friedensbewegung

Das Problem dürfte tiefer liegen. Es hat mit zwei Faktoren zu tun, die nur schwer und nicht von heute auf morgen zu beeinflussen sind. Zum einen dürfte der ausbleibende Erfolg der bis dahin größten Massenbewegung gegen einen drohenden Krieg eine große Rolle spielen. Was am 15. Februar 2003 zu einem globalen Fanal gegen den angekündigten Krieg gegen Irak wurde und die Friedensbewegung laut New York Times neben den USA zu einer zweiten „Supermacht“ gemacht hatte, geriet in der Folge zu einer Quelle nachlassenden Engagements. Wenn es selbst Millionen und Abermillionen von Menschen nicht möglich ist, einen offenkundig völkerrechtswidrigen, auf Lügen aufgebauten imperialistischen Krieg zu verhindern, bevor er begonnen hat, wie sollen sich dann friedenspolitische Entscheidungen in weniger spektakulären Fällen mit durchsetzen lassen? Die Friedensbewegung mobilisiert ihre Anhänger ja nicht, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu gelangen, sondern um die Politik zum Frieden zu zwingen. Die frustrierende Erfahrung des „Die da oben machen ja doch, was sie wollen!“ hat auch in anderen Politikbereichen zu einem dramatischen Rückgang außerparlamentarischer Initiativen und Bewegungen geführt. Die für viele überraschend gut besuchten Massenaktionen gegen die Kernkraftwerke am 24. April 2010 (Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel und Menschenkette um das Kraftwerksgelände in Biblis mit insgesamt ca. 140.000 AtomkraftgegnerInnen) stellen noch keine Trendumkehr, wohl aber einen ersten Schritt dazu dar. Allgemein gesprochen gilt es, die in den vergangenen Jahren grassierende Politikabstinenz zurück zu drängen. Dies wird umso eher gelingen, als die Früchte der außerparlamentarischen Bewegung und der Massenstimmung gegen den Afghanistankrieg sich in einer zunehmenden parlamentarischen Abwehrfront gegen die Mandatsverlängerungen materialisieren.

Zum anderen kann die Bundesregierung auf den Gewöhnungseffekt setzen. Nach achteinhalb Jahren Krieg in Afghanistan ist es schwer, den täglichen Skandal des Krieges in der Öffentlichkeit wach zu halten. Umfrageergebnisse reflektieren zunächst ja nur Meinungen, nicht aber die Bereitschaft dafür auch auf die Straße zu gehen. In keiner Phase der politischen Auseinandersetzung um den Afghanistankrieg ist erkennbar geworden, dass der Krieg in der Gesellschaft auch eine größere Betroffenheit erzeugt hätte. Dies ist aber Voraussetzung für eine Massenmobilisierung. Selbst die sich häufenden Fälle getöteter Bundeswehrsoldaten haben diesbezüglich keine Änderung bewirkt. Im Gegenteil: Im Augenblick schlachtet die Bundesregierung die Inszenierung der „Trauer“ um die gefallenen Soldaten sogar weidlich aus, um eine neopatriotische Stimmung im Land zu erzeugen. Dass sich hieran sogar Familienministerin Kristina Schröder (CDU) beteiligt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Nervosität der Regierenden, die offenbar an alle Fronten meinen mobil machen zu müssen. Auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010 in München, der der ehemaligen Bischöfin und kriegskritikerin Käßmann zujubelte, klagte Schröder mehr „Empathie“ für die Kriegssoldaten ein. Die deutsche Gesellschaft solle sich bei der Solidarität für die Bundeswehrkräfte im Auslandseinsatz die USA zum Vorbild nehmen, sagte Schröder bei einer Podiumsrunde zum Thema „Soldatenfamilien und Einsatzbelastung“. Es müsse möglich sein, etwa bei Sportereignissen „unsere Soldaten zu grüßen“ (dpa, 13.05.2010). Da sich die Kriegsskepsis der Bevölkerung, die auf einer in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sich verfestigenden Überzeugung beruht, dass Deutschland am besten im Frieden gedeiht, nicht so einfach in einen militaristischen Hurra-Patriotismus umkehren lässt, versuchen die Herrschenden schon seit längerem, die Interventionspolitik von NATO, EU und Bundesregierung „humanitär“ umzudeuten. Alle Militärinterventionen der neuen Zeitrechnung nach dem Ende der Bipolarität - vom Somalia-Einsatz 1993 über die Teilnahme am NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bis zum „Antiterror“- und „Antipiraten“-Krieg in Afghanistan und am Horn von Afrika – waren humanitär begründet worden: Entweder ging es darum, eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern oder Menschen vor einem menschenverachtenden Regime in Schutz zu nehmen oder demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sowie allgemein gültige Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte durchzusetzen oder dem internationalen (See-)recht zum Durchbruch zu verhelfen. Diese regierungsamtliche Lesart wird bereitwillig von den Massenmedien – von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten bis zu den Printmedien von FAZ bis zur taz – verbreitet; abweichende Meinungen bleiben ausgewählten Magazinsendungen und den Feuilletons sowie Leserbriefspalten der Zeitungen vorbehalten.

Eigenartig ist dennoch, dass die geballte kriegsfreundliche Propagandaoffensive der Bevölkerung bisher so wenig anhaben konnte. Eine Internetumfrage der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau im Frühjahr 2010 förderte interessante Ergebnisse zu Tage. Die Frage, ob die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen werden solle, wurde in verschiedene Antwortmöglichkeiten aufgeteilt, sodass sich ein differenzierteres Meinungsbild ergab. Der größte Prozentsatz der Teilnehmer/innen an der Befragung identifizierte sich mit der Aussage: „Nie wieder soll ein deutscher Soldat auf fremden Boden kämpfen.“ (38 %) Am zweithäufigsten stimmten die Befragten der Antwort zu: „Für jeden Konflikt muss es eine friedliche Lösung geben.“ (28 %) Das heißt: Fast zwei Drittel (65 %) lehnen den Afghanistan-Einsatz aus Gründen ab, die auch von der Friedensbewegung ins Feld geführt werden. Demgegenüber stehen zwei kleinere Gruppen, die sich mehr oder weniger eindeutig für den Krieg aussprechen. Als Gründe nennen die einen die Verpflichtung zur Hilfe („Die afghanische Zivilbevölkerung braucht unsere Hilfe“, 8 %), die anderen die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Terrorismus („Wir Deutschen haben eine Verantwortung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus“, ebenfalls 8 %). Rätsel gibt uns eine andere Antwort auf: Von gut 15 Prozent der Teilnehmer/innen wird der Krieg abgelehnt, „solange die Regierung den Krieg als humanitären Einsatz tarnt“. Hier mischen sich eine richtige Überlegung (die Regierung sagt nicht die Wahrheit) mit einer möglichen falschen Konsequenz: Wenn die Regierung einen wirklichen triftigen Grund für den Krieg nennen würde, dann wäre man eventuell bereit ihn zu akzeptieren. Ganz eindeutig hingegen fällt die folgende Antwort aus: „Wozu brauchen wir die Bundeswehr, wenn sie nicht eingesetzt wird.“ Unterstützt wird dieser „pragmatische“ Ansatz aber nur von knapp 2 Prozent. (Abruf des Umfrageergebnisses: 07.04.2010; zu diesem Zeitpunkt hatten sich 12.108 Nutzer beteiligt.)

Die Initiative gewinnen

Auch wenn diese Online-Umfrage nicht repräsentativ ist, so legt das Ergebnis doch nahe, dass es ein großes Potenzial in der Bevölkerung gibt, das den Afghanistankrieg aus wohl erwogenen Gründen ablehnt und sich von der Regierungspropaganda nicht ins Bockshorn jagen lässt. Offen bleibt „nur“ die Frage, wie sich aus diesem Potenzial eine kritische Masse einer Protestbewegung gegen den Krieg gewinnen lässt. Darauf gibt es von meiner Seite keine schlüssige Antwort, sondern allenfalls überlegenswerte Anstöße.
  1. So sicher wie der Krieg in Afghanistan in den kommenden Monaten eskalieren und sich in der angrenzenden pakistanischen Region ausweiten wird, so wenig sollte man auf einen Mechanismus setzen, wonach diese Eskalation die Antikriegsbewegung beflügeln werde. Es gibt auch keinen Automatismus, wonach eine steigende Zahl gefallener Bundeswehrsoldaten die Menschen zahlreicher auf die Straße treibt. Die Vietnam-Bewegung in den USA hatte mehr als ein Jahrzehnt gebraucht, um wirklich massenwirksame Aktionen zu entfalten und noch ein paar Jahre mehr, um die Politik zur Umkehr zu veranlassen. Der kriegsmüden Heimatfront kam dabei die drohende militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld zu Hilfe. Ähnliches ist in Afghanistan nicht zu erwarten. Der bewaffnete Widerstand wird zwar zunehmen, er ist aber in absehbarer Zeit wohl nicht von der „Qualität“ den Invasionstruppen eine entscheidende Niederlage beizubringen. Dennoch ist es richtig, den Krieg weiter zu skandalisieren und von einer „Vietnamisierung“ des Krieges zu sprechen. Gerade weil er militärisch für den Westen nicht zu gewinnen ist, liegt diese Analogie nahe und sie trifft in ganz besonderer Weise für die Bundeswehr zu, die solche Erfahrungen bisher nicht machen musste.
  2. Von größerer Bedeutung dürfte es sein, den geballten Regierungslügen über die angebliche Besserung der Lage in Afghanistan mit fundierten Gegeninformationen entgegen zu treten. Das Wort von Margot Käßmann: „Nichts ist gut in Afghanistan“, lässt sich mit belastbaren Daten belegen. So ist beispielsweise die Analphabetenquote im Land trotz des angeblich so erfolgreichen Schulbauprogramms der Bundesregierung gestiegen. Stark zugenommen hat auch die Zahl der hungernden Bevölkerung und die Jugendarbeitslosigkeit hat sich seit 2001 nahezu verdoppelt. Die hochgejubelte Frauenbefreiung – die sich zudem auf die Frage des Burkatragens reduziert – hat allenfalls in der Hauptstadt Kabul stattgefunden, nicht aber im übrigen Land. Und für eines ist der Krieg immer „gut“: Im Afghanistankrieg starben bisher mindestens 60.000 Menschen, darunter eine große Zahl von Zivilpersonen, die nur deshalb nicht exakter anzugeben ist, weil sich die USA und die NATO darin gefallen, keinerlei Angaben über die Todesopfer auf der gegnerischen Seite zu machen. Ein toter Afghane wird nicht gezählt – weil er nicht zählt? Millionen von Kriegsflüchtlingen – vor allem Binnenflüchtlinge – komplettieren das Bild einer durch den Krieg zunehmend zerstörten Gesellschaft und Ökonomie. Das einzige, was wirklich blüht in Afghanistan, sind der Mohnanbau und die allgegenwärtige Korruption. All dies gilt es in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und für ein Ende der Kriegspolitik zu werben.
  3. Die Beendigung des Krieges und der Abzug der Interventionstruppen sind alternativlos, weil damit eine wesentliche Quelle der Feindseligkeiten und der bewaffneten Kämpfe beseitigt wäre. Doch auch darüber muss der Öffentlichkeit von Seiten der Friedensbewegung reiner Wein eingeschenkt werden: Mit dem Abzug der Bundeswehr und anderer Besatzungstruppen wird nicht der Frieden in Afghanistan einkehren. Neben dem von außen aufgezwungenen Krieg herrscht in Afghanistan eine Art Bürgerkrieg, dessen Wurzeln teils in die Vor-Taliban-Zeit zurückreichen, teils durch die Invasion des Westens neu ins Land gebracht wurden. Sie hängen mit der um sich greifenden Kriegs-und Drogenökonomie sowie mit den neu entstandenen Strukturen einer Korruptions- und Klientelwirtschaft zusammen. Hier Abhilfe zu schaffen oder auch nur Ratschläge zu geben, kann selbstredend nicht Aufgabe der Invasoren nach deren Rückzug sein, sondern ist eine ureigene Angelegenheit der Afghanen, die sich nun – ohne ausländische Einmischung - „zusammenraufen“ müssen.
  4. Dies darf indessen nicht heißen, Land und Volk am Hindukusch sich selbst zu überlassen. Es ist erstens ein Gebot der Gerechtigkeit, dass diejenigen, die den Krieg ins Land getragen haben und für einen Großteil der materiellen Zerstörungen und der immateriellen Schäden verantwortlich sind, sich am zivilen Wiederaufbau zu beteiligen. Früher nannte man das „Reparationen bezahlen“! Darüber hinaus gebietet es der Internationalismus der Staatengemeinschaft in der globalisierten Welt, von Krieg und Bürgerkrieg geschwächten Staaten zu helfen. Diese Hilfe muss ausschließlich ziviler Natur sein und dort erfolgen, wo die betroffene Bevölkerung bzw. ihre legitimen Vertretungen entsprechende Bedürfnisse und Wünsche äußern.
  5. Für die Entfaltung einer breiteren Protestbewegung gegen den Krieg und einer Solidaritätsbewegung für die geschundene afghanische Bevölkerung wäre es zudem nützlich, einen klaren, von großen Teilen der Friedensbewegung getragenen Appell zu haben, mit dem sich in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Organisationen „arbeiten“ lässt. Ein solcher Appell sollte sich darauf beschränken, die vordringlichsten Forderungen an die Adresse der Bundesregierung und des Bundestags zu richten. Diese bestehen m.E. darin, die Kämpfe in Afghanistan zu beenden, die Bundeswehr sofort abzuziehen und stattdessen die ausschließlich zivile Hilfe aufzustocken.
Erfahrungen mit Veranstaltungen in ganz unterschiedlichen Bewegungen und Einrichtungen (attac, amnesty, Universitäten, Schulen) zeigen, dass die Bereitschaft derzeit groß ist, über den Afghanistankrieg, seine Hintergründe und Perspektiven sowie über die Alternativen der Friedensforschung und -bewegung zu diskutieren. Die Mehrheit der Bevölkerung ist daran interessiert, mit immer mehr Informationen und besseren Argumenten den Krieg begründet abzulehnen und den sofortigen Rückzug der Besatzungstruppen ebenso begründet einzufordern. Betroffenheit und politische Empörung kann sich schließlich auch daran entzünden, dass die Regierenden stur weiter gegen den Mehrheitswillen Krieg führen.

Zur Person: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, Leiter der dort ansässigen AG Friedensforschung; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


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