Mogelpackung mit Beruhigungspillen, 17.09.2009
Friedensratschlag verwirft Steinmeiers 10-Punkte-Plan für Afghanistan
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
Kassel/Berlin, 16. September 2009 - Am vergangenen Wochenende
unterrichtete Außenminister Frank Walter Steinmeier die Medien von einem
10-Punkte-Plan, der in seinem Haus erarbeitet worden sei. Darin seien
Schritte formuliert, die einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan
ermöglichen sollen. Bei genauem Hinsehen entpuppe sich der Plan
allerdings als eine Mogelpackung mit einer Reihe von Beruhigungspillen,
die dazu dienen, die öffentliche Kritik an der Afghanistanpolitik der
Bundesregierung zu besänftigen. Dies erklärten die Sprecher des
Bundesausschusses Friedensratschlag in einer Stellungnahme, die gestern
in Kassel und Berlin veröffentlicht wurde.
1. Der Steinmeier-Plan enthält keine Angaben für einen Zeitrahmen des
Truppenabzugs. In dem Papier fordert der Außenminister und
SPD-Kanzlerkandidat zwar "einen klaren Fahrplan für Fortsetzung und
Abschluss des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan", gibt
selbst aber keinen konkreten Hinweis. Auch seine in den letzten Tagen
gemachten Äußerungen sprachen nur sehr vage davon, dass in der nächsten
Legislaturperiode, also bis 2013, "Voraussetzungen" für einen Abzugsplan
geschaffen werden sollten. Die dann erforderlichen Schritte sollten mit
der afghanischen Regierung und den "internationalen Partnern" (also v.a.
USA und NATO) abgesprochen werden. Mit anderen Worten: Das Schicksal des
deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan wird in die Hände Dritter
gelegt. Der Bundeswehrabzug fällt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
2. Steinmeier weist darauf hin, dass der 2006 beschlossene "Afghanistan
Compact" im nächsten Jahr (2010) ausläuft. Darin waren "gemeinsame Ziele
des politischen und zivilen Wiederaufbaus" des Landes formuliert worden.
Kein Wort darüber, dass keines dieser Ziele bisher auch nur annähernd
erreicht wurde. Die einzige Ausnahme bildet die Abhaltung der
Präsidentenwahl im August 2009; doch auch sie hat eher zusätzliche
Probleme aufgezeigt (Stimmenkauf, Wahlfälschung usw.), als dass sie
einen Schritt zur versprochenen Demokratie darstellte. Trotzdem verlangt
Steinmeier eine "Nachfolge-Vereinbarung" des "Afghanistan Compact", eine
"Road Map". Darin soll all das geleistet werden, was in den
zurückliegenden drei Jahren nicht geschah, insbesondere soll
"entschlossen" gegen "Korruption, Misswirtschaft und organisierte
(Drogen-)Kriminalität" vorgegangen werden. Niemand außer Steinmeier
glaubt daran, dass dies in absehbarer Zeit möglich ist, zumal die
ausländische Besatzung selbst immer neue Ressourcen ins Land bringt, die
in illegale Kanäle von Warlords, korrupten Politikern und
Staatsbediensteten fließen. Die geforderte Road Map soll einen
Fünf-Jahreszeitraum abdecken. Erst danach (also ab 2015) könnten die
Weichen für einen Abzug gestellt werden.
3. Im Mittelpunkt des Strategiepapiers aus dem Hause Steinmeier steht
die beschleunigte "Ausbildung von afghanischer Polizei und Armee", um so
die "alleinige Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände" zu legen.
Dies ist keine originäre Idee des Außenministers, sondern seit Jahr und
Tag Programm der NATO in Afghanistan. Die Obama-Administration hat aus
diesem Grund ihre Truppen in diesem Jahr um mehr als 20.000 Soldaten
verstärkt. Der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Admiral Michael
Mullen, hat soeben eine weitere Verstärkung der ausländischen Truppen in
Afghanistan empfohlen. Um den Einsatz erfolgreich zu beenden, würden
"wahrscheinlich mehr Soldaten benötigt", sagte er am 15. September vor
dem US-Senat. Mullen forderte die US-Regierung auf, "mehr Druck auf
unsere NATO-Verbündeten auszuüben", um die Zahl der Soldaten zu erhöhen.
4. Etwas konkreter fallen die Punkte des Steinmeier-Papiers aus, wenn es
um Kundus und die anderen Provinzen geht, in denen die Bundeswehr aktiv
ist. So wird für Kundus zum einen vorgeschlagen, 1500 zusätzliche
Polizisten auszubilden und ("übergangsweise") zu bezahlen. Zum anderen
soll eine "zivile Task-Force für Wiederaufbau, Reform der Verwaltung und
Ausbau der Justiz" ins Leben gerufen werden. Und zum dritten soll "bis
2011 die Verantwortung in Faisabad und der Provinz Badakhshan an die
Afghanen übergeben" werden. Faisabad und Badakhshan gelten als die
"sichersten" Regionen Afghanistans. Umso erstaunlicher, dass das dann
noch nicht längst möglich gewesen sein soll - nach acht Jahren Krieg und
Besatzung! Afghanistan hat 32 Provinzen. Wenn die Übertragung der
"Sicherheitsverantwortung" in diesem Tempo auf das ganze Land übertragen
würde, dann wird die NATO auch noch in 30 Jahren in Afghanistan sein.
Und eine zweite Frage stellt sich: Was haben die Bundeswehr und die PRTs
(Provincial Reconstruction Teams) in "ihren" Provinzen bisher gemacht?
Welche Fortschritte sind wirklich zu verzeichnen? Wenn erst jetzt eine
"zivile Task-Force für Wiederaufbau ..." gegründet werden soll, dann ist
offenbar diesbezüglich in der Vergangenheit nicht viel passiert. Dabei
hält sich die Bundesregierung etwas zu Gute auf das angeblich von ihr
erfundene Konzept der "vernetzten Sicherheit" und auf den "umfassenden
Ansatz", nämlich eine zivil-militärische Zusammenarbeit.
5. Bei weiteren "konkreten" Punkten, die etwa einen
"Reintegrationsfonds" für Taliban-"Mitläufer", die Gründung einer
"Verwaltungsakademie" in Masar-i-Scharif oder die Erschließung
"alternativer Einkommensmöglichkeiten für die Landbevölkerung" vorsehen,
muss ebenfalls gefragt werden: Warum erst jetzt? Wohin flossen die
Gelder, die auf diversen Geberkonferenzen für den Wiederaufbau
Afghanistans versprochen wurden? Wie will man "Mitläufer" der Taliban
"reintegrieren", wenn die "Aufstandsbekämpfung" in Afghanistan
ausschließlich als "Jagd auf die Taliban" wahrgenommen wird und dabi
immer häufiger unbeteiligte Zivilpersonen getötet werden?
Alles in allem: Steinmeiers Ideen entspringen wohl kaum einer reiflich
durchdachten Strategie seines Ministeriums, und schon gar nicht der
Überlegung, einen wirklichen Strategiewechsel im Afghanistan-Einsatz
einzuleiten. Dazu lehnen sich die Vorschläge zu sehr an den Zielen und
Vorgaben der USA und der NATO an. Ein neuer Kurs sieht anders aus.
Man muss wohl das Steinmeier-Papier als Versuch werten, die seit dem
verheerenden Angriff bei Kundus am 4. September neu entfachte
öffentliche Diskussion um den Sinn und Unsinn des Aghanistan-Einsatzes
mit einem eigenen Beitrag zu beleben. Indem das 10-Punkte-Papier als
"Abzugsplan" deklariert wurde, sollte angeknüpft werden an die Stimmung
in der Bevölkerung, die den Krieg schon lange ablehnt und mehrheitlich
den sofortigen Rückzug der Bundeswehr fordert. Zu einem wahlpolitischen
Befreiungsschlag der SPD und ihres Kanzlerkandidaten, die in den
Meinungsumfragen wenig Land gesehen haben, taugt es indessen nicht. Um
wirklich zu überzeugen, hätte Steinmeier klipp und klar Schritte und
Zeitpunkte für einen Abzug formulieren müssen. Dazu ist er - hier ganz
auf der Linie seiner Konkurrentin um das Kanzleramt - nicht bereit.
Daher bleibt sein Vorstoß eine Mogelpackung mit einigen
Beruhigungspillen. Überzeugen wird er damit nicht einmal seine eigene
Partei, geschweige denn die Friedensbewegung.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg/Berlin (Sprecher)
Peter Strutynski, Kassel (Sprecher)
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