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"Die NATO kann nicht siegen"

Gespräch mit Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn. Über Theaterarbeit in Afghanistan, die wachsende Ablehnung der westlichen Truppen und das Erstarken des Widerstands *

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (geb. 1977) ist Theatermacher und arbeitet seit März 2007 als Friedensfachkraft in Afghanistan – zunächst im Auftrag des DED (Deutscher Entwicklungsdienst), dann für verschiedene UN-Organisationen



Sie waren eineinhalb Jahre als Theatermacher in Afghanistan. Was hat Sie zur Kulturarbeit ausgerechnet in diesem Kriegsgebiet bewogen?

Ich bin nach Afghanistan, um dort friedensfördernde Theaterarbeit zu machen. Beruflich komme ich vom Theater der Unterdrückten, dem partizipativen politischen Theater aus Brasilien. Die Theaterarbeit soll den Afghanen unter anderem bei ihrer Vergangenheitsbewältigung helfen. Zur Aufarbeitung der gewaltsamen Geschichte ist Theater ein Medium, weil es Räume schafft, in dem es zu einem authentischen Dialog über Themen kommen kann, die ansonsten in der Gesellschaft tabu sind.

Mein Wohnsitz war in der afghanischen Hauptstadt. Ich bin während meiner Arbeit mit dem Deutschen Entwicklungsdienst und der UNO aber mehrere Male in die Provinz Kabul gereist, wo ich in kleineren Gemeinden und Dörfern arbeitete. Dort ging es darum, zwischen den verschiedenen Ethnien mit Hilfe der Theaterarbeit zu vermitteln bzw. das Thema Vergangenheitsbewältigung auf theatralische Weise zu bearbeiten. Im Rahmen meines ersten UN-Projekts war ich außerdem längere Zeit in Bamian in Zentralafghanistan, wo hauptsächlich die Hazaras leben. Sie gelten als die am meisten unterdrückte Ethnie, waren aber ganz besonders offen für politische Theaterarbeit. Ansonsten kam es immer wieder zu kleineren Trips in die Provinzen. Das waren allerdings keine offiziellen Dienstreisen. Schließlich gastieren wir zur Zeit mit einer Art Wandertheater in mehreren Städten des Landes, unter anderem in Kundus, Jalalabad und Masar-i-Scharif.

Was spielen Sie in Afghanistan?

Das Theater der Unterdrückten arbeitet mit ganz normalen Menschen, die Unterdrückungssituationen ausgesetzt sind und die sonst keine Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen. Mit Hilfe des Theaters können sie zunächst eine neue Perspektive auf ihre eigene Situation gewinnen und schließlich Handlungsalternativen entwickeln. Im Moment arbeiten wir hauptsächlich mit organisierten »Victim's groups« zusammen, Angehörigen von Menschen, die in den letzten 30 Jahren auf gewaltsame Art und Weise umgebracht worden oder spurlos verschwunden sind und die sich gegen eine Kultur der Straflosigkeit einsetzen. In der Vergangenheit kam es außerdem zu Projekten mit Heroinabhängigen, Friedensschulen oder mit Frauengruppen, die im Untergrund agieren. Auch haben wir als Teil eines von der afghanischen Regierung gesponserten Programmes auf lokaler Ebene dabei geholfen, Jugendliche stärker in politische und soziale Aktivitäten einzubeziehen, selbst in Kandahar wurde ein Theaterprojekt durchgeführt. Wir arbeiten mit Jungen wie mit Mädchen, allerdings jeweils getrennt.

Die Berichte über immer stärkere Kämpfe zwischen NATO-Truppen und Besatzungsgegnern, die pauschal als Taliban bezeichnet werden, häufen sich. Wie erleben Sie die Entwicklung in Afghanistan?

Ich bin erst im März 2007 nach Afghanistan gekommen, zu einem Zeitpunkt, da sich die Sicherheitslage im Vergleich zu den Vorjahren bereits deutlich verschlechtert hatte. Kurz vor meinem Abflug aus Deutschland hatte es in Kabul ein schweres Selbstmordattentat gegeben, es gab die ersten Entführungen, die in den folgenden Monaten explosionsartig zunahmen – was hierzulande kaum bekannt ist die meisten davon Betroffenen waren Afghanen. Bis dato hatte es geheißen, daß es nur im Süden, bisweilen mal im Osten, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, und der Norden relativ ruhig ist. Kabul galt in den Darstellungen als relativ überschaubar und ruhig. Doch das kann ich so nicht bestätigen. Kabul ist eine Großstadt mit rund drei bis vier Millionen Einwohnern. Natürlich knallt es nicht ständig und überall. Und doch steht außer Frage, daß sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert. Es gibt immer häufiger Selbstmordattentate. Ich selber bin einem Anschlag knapp entkommen. Da ging es wirklich nur um wenige Sekunden, dann wäre ich dran gewesen.

Die reine Statistik ist das eine, also die Zunahme von NATO-Angriffen und Attentaten. Das andere ist das Sicherheitsgefühl, das Afghanen wie Ausländer jeweils individuell haben. Dieses Sicherheitsgefühl hat sich bei allen unheimlich verschlechtert. Der Sturmangriff auf das Fünf-Sterne-Hotel Serena in Kabul im Januar dieses Jahres war für viele Ausländer der letzte Auslöser, das Land zu verlassen. Es gibt in Kabul nur sehr wenige Orte, an denen man als Ausländer außerhalb der Arbeitszeit verkehren kann. Der Angriff hat sozusagen der Privatsphäre der Ausländer einen schweren Schlag versetzt. Früher sind viele Ausländer wenigstens mal bis an die nächste Straßenecke spazieren oder zum nächsten Supermarkt einkaufen gegangen. Mittlerweile fahren sie nur noch mit dem Auto durch die Gegend: vom Büro nach Hause oder ins Restaurant.

Die Afghanen selbst leben seit 30 Jahren in einem gewaltsamen Umfeld, sprich Krieg. Trotzdem haben mir einige gesagt, daß es vor allem seit der US-geführten Invasion 2001 immer schlechter geworden ist. Das heißt nicht, daß die Menschen immer sofort der NATO die Schuld geben. Allerdings ist es auch nicht andersrum, daß sie die Taliban verantwortlich machen. Sie halten erst einmal fest, daß die Lage allgemein schlechter geworden ist. Und das sollte man ernst nehmen.

Im Deutschen Bundestag sind bis auf Die Linke alle Parteien der Meinung, nur ein Mehr an NATO-Truppen werde Afghanistan stabilisieren. Wie sehen das Ihre afghanischen Freunde?

Das ist regional unterschiedlich. Bamian ist zum Beispiel eine relativ ruhige Provinz, in der es nur selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Was die Sicherheitslage dort betrifft, so würden die Menschen am liebsten so weiterleben, wie sie es zur Zeit tun. In Städten wie Kabul oder im umkämpften Süden und Osten des Landes ist das natürlich ganz anders.

Zu Beginn der Invasion im Oktober 2001 haben viele Afghanen sowohl die US-Soldaten wie auch die NATO-Truppen als Befreier gesehen. Das haben mir viele Afghanen wortwörtlich so bestätigt. Mittlerweile hat sich dieses Bild von den ausländischen Truppen komplett gewandelt. Die US-Armee und die NATO-geführten ISAF-Einheiten werden von vielen als Besatzer wahrgenommen. Es herrscht einhellig die Meinung vor, daß der Krieg für die multinationalen Truppen nicht zu gewinnen ist. Eine Verstärkung und Aufrüstung dieser Soldaten mache also keinen Sinn. Dieser Sinneswandel in Afghanistan ist signifikant, wird von den Politikern in Deutschland und den anderen NATO-Ländern aber völlig ignoriert. Ich habe vor Ort immer wieder gehört, wenn der sogenannte Wiederaufbau weiterhin so fehlerhaft verläuft und sich darüber hinaus die Sicherheitslage noch mehr verschlechtert, dann werden viele Afghanen wieder die Waffen in die Hand nehmen – und zwar gegen die NATO-Truppen.

Die Ablehnung der NATO-Präsenz wächst also. Steigt im Gegenzug die Zustimmung für Widerstandsaktivitäten?

Ja, ganz klar. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine bewußte Solidarisierung etwa mit den Taliban ist. Der Widerstand ist wesentlich komplexer und hat Rückhalt in der Bevölkerung. Immer wieder ist zum Beispiel zu hören, daß die Taliban zumindest Ordnung geschaffen haben. Viele sagen, okay, die Zeit der Taliban war mit Sicherheit nicht ideal. Aber wenn man sich an die Regeln gehalten hat, war eine gewisse Sicherheit garantiert. Ich habe von einer Vielzahl Menschen gehört, sie würden sich durchaus wünschen, die Taliban herrschten wieder. Und das hat mit Sicherheit damit zu tun, daß die »militärische Arbeit« des Westens absolut danebenläuft.

Sie sagen, die Vertreibung der Taliban 2001 sei zunächst als Befreiung gefeiert worden, mittlerweile würden sie aber als Ordnungsfaktor zurückgewünscht. Mit Ihrer Theaterarbeit hätten sie es dann wohl schwerer.

Das denke ich auch. Ich mache mir keine Illusion, bei den Taliban müßte ich das Land wahrscheinlich verlassen. Die Afghanen leben in einem Zwiespalt. Wenn in den vergangenen Jahren mehr in die Infrastruktur investiert worden wäre und vom gesamten »Wiederaufbau« mehr zu sehen wäre, dann würden viele wahrscheinlich sogar die militärischen Exzesse der NATO in Kauf nehmen. Aber selbst in der Hauptstadt Kabul gibt es ja unheimlich wenig Fortschritte. Und so haben sehr viele Menschen, die dem Westen normalerweise gar nicht so negativ gegenüberstehen würden, schlicht die Nase voll.

Im Bundestag wird in den kommenden Wochen die Verlängerung und Ausweitung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr debattiert. Was raten Sie den Abgeordneten, wie sie sich entscheiden sollen?

Die Grundidee in der Theorie lautet ja immer, die ISAF-Truppen sollen letztlich eine Art von Sicherheit schaffen, damit die zivilen Entwicklungshelfer ihre Arbeit machen können. Doch die Grundidee haut in der Praxis nicht hin, nicht einmal in Kabul. Viele Kolleginnen und Kollegen, die sich im Friedensbereich engagieren, sagen ganz klar, daß sie mit einer verstärkten Militarisierung des Landes nichts anfangen können. Wir sind vom Gegenteil überzeugt. Und um einmal nur für mich zu sprechen: Ich fühle mich besser und sicherer, je weiter ich mich von den Truppen entferne. Mir rutscht jedesmal das Herz in die Hose, wenn ich auf afghanische Polizisten, afghanisches Militär oder auf NATO-Soldaten treffe. Das steht doch im absoluten Widerspruch zu dem, was von den deutschen Politikern immer wieder gepredigt wird: daß das Militär nämlich Sicherheit schafft und die zivilen Helfer ihre Arbeit machen können. Andersherum wird ein Schuh draus.

Vor diesem Hintergrund kann ich den Abgeordneten nicht empfehlen, das Afghanistan-Mandat zu verlängern und die Anzahl der Soldaten auch noch zu erhöhen. Abgesehen davon, daß der Krieg militärisch nicht gewonnen werden kann, will ich meine Arbeit möglichst fernab der Militärs machen können.

Die Friedensbewegung und Die Linke fordern den Abzug der Bundeswehr und der anderen NATO-Truppen. Ist das ein realistisches Szenario? Die Befürworter halten dagegen, dann breche das vollkommene Chaos aus.

Ich habe darüber häufiger mit afghanischen Kollegen gesprochen. Es gibt zwei Hauptargumente gegen die Chaos-Theorie: Letztlich ist es eine koloniale Haltung zu sagen, »ohne uns« wäre alles noch schlimmer. Diese Attitüde ist absolut unangebracht und abzulehnen. Zum anderen wird darauf verwiesen, daß es zu Zeiten des Bürgerkrieges zumindest um einen Krieg zwischen Afghanen ging – auch wenn das Ausland finanziell wie logistisch immer wieder involviert war. Durch die immense ausländische Präsenz im gesamten Land heute sei unklar, wer eigentlich was, wo und wie will.

Die westliche Intervention mit Verweis auf Demokratie und Menschenrechte wird als Heuchelei erlebt. Viele Afghanen sind davon überzeugt, daß es darum nicht geht, sondern daß ganz klar geostrategische und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Insofern wollen sie die ausländischen Truppen lieber heute als morgen das Land verlassen sehen. Auch die Regierung von Hamid Karsai ist diskreditiert und hat keinerlei Unterstützung mehr.

Kann man zusammenfassend sagen, mit dem Abzug der Besatzungstruppen wird wohl nicht automatisch alles besser, aber es gäbe endlich eine Option für eine positive Entwicklung, die sie mit ihrer Präsenz verbauen?

Ja. Wir sollten uns vergegenwärtigen, daß bei den Afghanen der Freiheitsglaube und der Wille, mehr oder weniger autonom entscheiden zu können, unheimlich tief verankert ist. Diese Haltung treibt den Widerstand an.

Der Kampf gegen die sowjetischen Truppen zeigte doch, daß die afghanischen Kämpfer einen unheimlich langen Atem haben. Diesen werden sie auch jetzt wieder unter Beweis stellen. Dessen bin ich mir absolut sicher. Militärisch kann der Westen nicht gewinnen. Umgekehrt können die Afghanen die NATO aber auch nicht militärisch bezwingen.

Was motiviert Sie, weiter Theaterarbeit in Afghanistan zu machen?

Ich bin mir sicher, daß meine Arbeit in den vergangenen eineinhalb Jahren sinnvoll war. Ganz normale Menschen bekamen dadurch die Möglichkeit, auf politisch-sozialer Ebene ein bißchen Verantwortung zu übernehmen und wieder Subjekt zu werden. Das treibt mich an. Darüber hinaus ist das Spielerische, für das Theater ja steht, in 30 Jahren Krieg für viele absolut verlorengegangen. Ich habe das Gefühl, daß gerade das Theater als Medium nützlich ist, um eine gewisse Öffentlichkeit herzustellen. Menschen bekommen dadurch die Möglichkeit, sich einen Raum zu schaffen, in dem bestimmte Probleme ganz offen angesprochen werden können, was sonst äußerst schwierig ist. Und dementsprechend habe ich das Gefühl, daß diese Arbeit vor Ort lohnt, weil sie auf einer sehr menschlichen, zugleich doch auch extrem politischen Ebene arbeitet.

Gleichzeitig habe ich natürlich viel Kritik an der ganzen sogenannten Entwicklungszusammenarbeit. In der Theorie hört sich das alles schön und blumig an. In der Praxis ist von Partizipation und Selbstbefähigung oder -ermächtigung wenig zu sehen.

USA und NATO haben rund 70000 Soldaten in Afghanistan stationiert. Deutschland beteiligt sich mit 3000 Bewaffneten am Krieg. Wie viele Theatermacher werden im Vergleich dazu für ein Engagement in Afghanistan finanziert?

Aus Deutschland gibt es im Moment anscheinend nur mich. Ansonsten gibt es die eine oder andere Theaterinitiative, in der es sich aber oft um reines Propagandatheater handelt. Das deutsche Engagement zielt eher auf wirtschaftliche Unterstützung im Sinne einer völlig unangebrachten Exportförderung sowie einer Stärkung marktwirtschaftlicher Strukturen, von der bis dato anscheinend nur die Eliten profitiert haben.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, 13. September 2008


Für den Sonnabend, den 20. September, ruft die Friedensbewegung unter dem Titel »Dem Frieden eine Chance, Truppen raus aus Afghanistan« zu Demonstrationen in Berlin und Stuttgart auf.
  • Auftakt Berlin: 12 Uhr Brandenburger Tor, Abschluß: 14 Uhr Gendarmenmarkt;
  • Auftakt Stuttgart: 12 Uhr Lautenschlagerstraße (gegenüber Hauptbahnhof), Abschluß: 14 Schloßplatz



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