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Jung: Der Angriff war richtig

Bundeswehr rechtfertigt Bomben auf Tanklastzug in Afghanistan trotz wachsender Kritik *

Der afghanische Präsident Karsai hat den auf Anforderung der Bundeswehr erfolgten Bombenangriff vom Freitag bei Kundus als Fehleinschätzung der NATO kritisiert. Während es offensichtlich Differenzen zwischen der Bundeswehr und dem US-Kommando in Kabul gibt, verteidigt Verteidigungsminister Jung den Luftangriff mit über 100 Todesopfern.

Bei dem von der Bundeswehr angeordneten Luftangriff im nordafghanischen Kundus sind nach Angaben des Distrikt-Gouverneurs mindestens 135 Menschen getötet worden, darunter auch Kinder. Der Gouverneur von Char Darah, Abdul Wahid Omarkhel, sagte am Montag (7. Sept.), er habe eine Liste der Opfer erstellt und der Delegation von Präsident Hamid Karsai übergeben, die den Vorfall untersucht. Es sei unklar, wie viele der Toten Zivilisten gewesen seien. Unter den Opfern sei aber eine große Anzahl Kinder im Alter zwischen 10 und 16 Jahren. Auch die NATO-Truppe ISAF untersucht den Luftangriff vom Freitag.

Präsident Karsai hat den Luftangriff als Fehleinschätzung kritisiert. Er frage sich, weshalb nicht Bodentruppen eingesetzt wurden, um den von den Taliban entführten Tanklastwagen zurückzubekommen, sagte Karsai dem Pariser »Figaro« vom Montag. »Mehr als 90 Tote für einen einfachen Tanklaster, der obendrein in einem Flussbett feststeckte!«, sagte Karsai.

Der Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal, vermied detaillierte Angaben zu dem Angriff, kündigte aber eine umfassende Untersuchung an. Wegen des Angriffs gab es offenbar Verstimmungen zwischen den Westverbündeten. Ranghohe deutsche Offiziere seien empört über »offenbar von den USA gezielt gestreute Fehlinformationen«, berichtete die »Neue Osnabrücker Zeitung«. Die »Washington Post« hatte unter Berufung auf ein NATO-Erkundungsteam berichtet, der verantwortliche deutsche Offizier, Oberst Georg Klein, habe nicht genügend Quellen gehabt, um den Angriff anzuordnen.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat den Luftangriff erneut verteidigt. Es habe ein Lagebild gegeben, das eine »sehr konkrete Bedrohung« für die Bundeswehrsoldaten bedeutet habe, sagte Jung am Montag in Hamburg. Kritik an seiner Informationspolitik wies er zurück. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums rechtfertigte den Luftangriff als »militärisch notwendig und richtig«. Es gebe bislang keine »konsolidierten Erkenntnisse« über zivile Opfer.

Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte an, in einer Regierungserklärung Stellung zur deutschen Afghanistan-Politik zu beziehen. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass die vor allem von der Opposition geforderte Erklärung am heutigen Dienstag (8. Sept.) zum Auftakt einer Sondersitzung des Bundestags abgegeben wird.

Die LINKE hatte am Montag (7. Sept.) eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragt. Ihr verteidigungspolitischer Sprecher, Paul Schäfer, erklärte, »der Luftangriff von Kundus und die folgenden Vernebelungsversuche Jungs zeigen, dass es der Bundesregierung in Afghanistan längst nicht mehr um Konfliktlösung geht, sondern sich ihr Blickfeld auf Durchhaltewillen und militärischen Sieg verengt hat«. Der rücksichtslose Luftangriff mache deutlich, dass Jung kaum noch eine Eskalation scheue.

* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2009


Raus aus Afghanistan - Jung muß weg

Von Rüdiger Göbel **

Die Linke ruft für heute nachmittag 17 Uhr zu einer Friedenskundgebung in Berlin auf. Vor dem Brandenburger Tor wollen die Spitzenkandidaten der Antikriegspartei, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, ihre Forderung nach Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan bekräftigen. Auch in anderen Städten sind Protestkundgebungen geplant. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat derweil eine Regierungserklärung zu dem von der Bundeswehr angeordneten Tanklaster-Bombardement im afghanischen Kundus abgegeben. Die Linke hatte für heute dazu eine aktuelle Stunde des Bundestages beantragt. Bei dem Angriff in der vergangenen Woche wurden nach NATO-Angaben 125 Menschen getötet, viele weitere schwer verletzt.

»Wir sind für den sofortigen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan«, bekräftigte Linke-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch am Montag. Linke-Vorstandsmitglied Sahra Wagenknecht forderte den Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung. »Das unerträgliche Insistieren« des CDU-Politikers, es habe nur beziehungsweise vor allem Taliban getroffen, sei angesichts des Ausmaßes der Katastrophe unglaubwürdig und zynisch. Es zeige, »daß Minister Jung hoffnungslos überfordert ist und umgehend abgelöst werden muß«. Die Rücktrittsforderung wird auch von der Friedensbewegung erhoben, die am morgigen Mittwoch (9. Sept.) bundesweit Protestaktionen plant. [Siehe: "Friedensbewegung zu Protesten im ganzen Land aufgerufen"]

Grünen-Chef Cem Özdemir verteidigte am Montag die Bundeswehrpräsenz am Hindukusch und sprach sich gegen einen »voreiligen Abzug« aus. Es müsse allerdings klargemacht werden: »Wir wollen nicht auf Dauer bleiben.« Özdemir widersprach damit Hans-Christian Ströbele. Der stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende fordert laut Rheinischer Post einen Rückzug binnen Monaten.

Die Bundeswehr widmet sich dem Thema Krieg auf ihre Weise. Um 17 Uhr weiht die Armee heute im Beisein von Bundespräsident Horst Köhler und Wehrminister Jung ein sogenanntes Ehrenmal ein. Das vier Millionen teure Bauwerk im Bendlerblock trägt die Inschrift: »Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit.«

** Aus: junge Welt, 8. September 2009


Bundesregierung bleibt stur

Wehrminister Jung verteidigt weiter Tankwagen-Massaker bei Kundus, will Ziviltote aber nicht mehr ausschließen

Von Knut Mellenthin ***


Das zynische Spiel der deutschen Regierung um das Massaker im nordafghanischen Kundus geht weiter. Nachdem sich Verteidigungsminister Franz Josef Jung noch am Sonntag absolut sicher gegeben hatte, daß die am Freitag beim Abwurf zweier 500-Pfund-Bomben getöteten Afghanen ausschließlich bewaffnete Aufständische gewesen seien, formulierte er am Montag etwas vorsichtiger, »daß der überwiegende Anteil Taliban gewesen sind«. Gleichzeitig wiederholte er, daß der vom deutschen Oberst Georg Klein angeordnete Luftangriff auf zwei von Taliban gekaperte Tanklastwagen »militärisch notwendig und richtig« gewesen sei. »Ich stehe eindeutig hinter der Entscheidung unseres Kommandeurs«, zitierte die Nachrichtenagentur AP den Minister am Montag.

Während Jung seit Tagen bloße Vermutungen und Glaubensbekenntnisse von sich gibt, polemisieren CDU-Politiker gegen die Verbreitung von faktengestützten Nachrichten, die im Widerspruch zur regierungsoffiziellen Version stehen. Er warne davor, »voreilige Schlüsse zu ziehen«, sagte der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, am Montag. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Eckart von Klae­den (CDU), rechtfertigte im NDR die Nachrichtenpolitik der Regierung mit dem Satz: »Ohne gesicherte Faktenlage zu einem Urteil zu kommen, ist im klassischen Sinne ein Vorurteil.« – Als Kritik an seinem Parteifreund Jung hatte er das offenbar nicht gemeint. Die SPD hält sich mit Kritik am Wehrminister zurück.

Unterdessen bekommt die Bundesregierung Hilfe von afghanischer Seite. In einem Bericht mehrerer regionaler Funktionäre an Präsident Hamid Karsai wird behauptet, es habe lediglich 56 Tote gegeben und diese hätten ausnahmslos »zu den Taliban und ihren Verbündeten gehört«. Unterschrieben haben den Brief, über den Spiegel online am Montag berichtete, unter anderem der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammad Omar, der Polizeichef der Provinz und der Vorsitzende des Provinzrates.

Als unparteiisch und sachlich zuverlässig kann der Report jedoch nicht gelten. Omar hatte am Wochenende der örtlichen Bevölkerung die Schuld an dem Angriff und seinen Folgen gegeben. Gegenüber der britischen Nachrichtenagentur Reuters sagte er: »Die Dorfbewohner haben den Preis dafür bezahlt, daß sie den Aufständischen helfen und ihnen Unterschlupf gewähren.« – Der Vorsitzende des Provinzrates, Ahmadullah Wardak, äußerte seine Genugtuung über das Massaker sogar im Gespräch mit dem Oberkommandierenden der NATO-Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal: »Wenn wir mehr solche Operationen wie diese durchführen, wird die Stabilität nach Kundus kommen. Wenn Leute nicht in Frieden und Harmonie leben wollen, ist das nicht unsere Schuld.« (Washington Post, 6. September)

Offensichtlich handelt es sich um Behördenvertreter, die es ganz in Ordnung finden, daß der aufsässigen Dorfbevölkerung eine blutige »Lektion erteilt« wurde.

*** Aus: junge Welt, 8. September 2009


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