Massaker im Norden Afghanistans: Was haben die Grabungen ergeben?
Mitarbeiter der "Ärzte für Menschenrechte" (USA) berichtet über Testgrabungen
Vor wenigen Tagen haben wir über eine Aufsehen erregende Enthüllung eines irischen Jornalisten berichtet: Jamie Doran behauptete in einer internationalen Pressekonferenz, Angehörige der Nordallianz hätten - unter Beisein von US-Soldaten - während des Afghanistan-Krieges mehrere Tausend Gefangene getötet (siehe "Massaker in Mazar"). Auch die US-Organisation "Ärzte für Menschenrechte" hatte sich schon des Falls angenommen und Testgrabungen in dem besagten Gebiet vorgenommen. Über die Ergebnisse informiert ein Interview mit John Heffernan. Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde von der "jungen Welt" geführt (Interviewer: Harald Neuber) und am 2. Juli veröffentlicht.
Frage: Wann haben Sie die ersten Leichen gefunden?
John Heffernan: Im Januar dieses Jahres in unmittelbarer Nähe
des
Gefängnisortes Sherbergan in der
nordafghanischen Wüste.
F: In einem Bericht schreiben Sie über
»mutmaßliche
Massengräber«. Wie viele Leichen vermuten Sie
in der Region?
Über die genaue Anzahl der dort verscharrten
Toten kann ich
keine Aussage treffen. Wir haben bislang im
Rahmen von
insgesamt drei Grabungen 15 Leichen obduziert.
Schon im
Januar haben wir aus verschiedenen Quellen, von
Afghanen
und von internationalen Kräften, Hinweise auf
ein Massengrab
zehn Kilometer außerhalb des Gefängnisses in
Sherbergan
anderthalb Autostunden westlich von
Masar-i-Scharif
bekommen. Zur selben Zeit haben wir von anderen
Leuten die
Horrorgeschichten über den Fall der Stadt
Kundus gehört.
F: Die Horrorgeschichten, die der
Dokumentarfilmer Jamie
Doran in »Massaker in Masar« aufgegriffen hat?
Es war von Anfang an bekannt, daß beim Fall von
Kundus bis
zu 8000 Männer gefangengenommen wurden. Bekannt
war
auch, daß über 3000 von ihnen nach Sherbergan
gebracht
wurden, andere wurden auf weitere Lager
verteilt. Zugleich
zeichnete sich aber ab, daß eine ungeheuer
große Gruppe
dieser Gefangenen plötzlich vom Erdboden
verschwunden war.
Kurz vor unserer ersten Grabung im Januar
erzählte uns ein
Augenzeuge von LKW-Transporten in die Wüste und
angeforderten Bulldozern. Und tatsächlich: Als
wir an der
Grabungsstelle ankamen, sahen wir frische
Bulldozerspuren
und Erdaufschüttungen. An dieser Stelle stießen
wir auf die
Leichen.
F: Was haben Ihre weiteren Forschungen ergeben?
Schon bei der ersten Untersuchung sind wir auf
menschliche
Reste und Kleidung gestoßen. Im Februar
untersuchte ein
Anthropologe in unserem Auftrag die Fundstelle.
Er bestätigte
unsere Funde nicht nur, sondern gab auch das
Alter der Reste
mit nur wenigen Monaten an. Im Mai fand die
dritte Grabung
unter UN-Aufsicht statt, dabei wurden die 15
Leichen
untersucht. Die medizinische Obduktion von
dreien ergab, daß
diese Menschen erstickt waren, so, wie es beim
Transport in
einem Stahlcontainer in die Wüste geschehen
kann.
F: Wie sollte mit dem Fall weiter umgegangen
werden?
Bislang haben wir nicht mehr Möglichkeiten zur
Untersuchung
gehabt. Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse
sprechen eine
klare Sprache, sind aber noch kein Beweis für
ein
Kriegsverbrechen. In Anbetracht der Ausdehnung
der Areals
aber könnte dort eine Menge Menschen verscharrt
worden
sein. Eben deswegen gilt es, die Gegend
dringend vor Zugriff
zu schützen. Erst dann könnte man weitere
Untersuchungen
anstellen und zu einem abschließenden Ergebnis
über die
Ausmaße des Grabes kommen.
F: Wie haben die politischen Verantwortlichen
in Afghanistan,
vom Präsidenten über die UN bis hin zum
ausländischen Militär,
auf Ihre Berichte reagiert?
Im März haben wir einen Bericht an Präsident
Karsai geschickt
und ihn um Aufklärung gebeten. Er war es
schließlich auch, der
unlängst die Einrichtung einer
Wahrheitskommission
angekündigt hat. Weil wir wissen, daß die
afghanische
Regierung kaum die Mittel haben wird, um das
Areal zu
sichern, haben wir ein ähnliches Schreiben an
die britische und
die US-Regierung gesandt. Es kam keine Antwort.
Wir hatten
unseren Bericht zunächst nicht veröffentlicht,
weil wir den
Verantwortlichen eine Chance zum Handeln geben
wollten.
Erst als keine Reaktion kam, beschlossen wir,
an die
Öffentlichkeit zu gehen.
F: Sehen Sie in Ihren Informationen einen Beleg
für einen
Massenmord?
Bislang sehe ich diese schweren Vorwürfe nicht
als bewiesen
an. Allerdings bestärken Dorans Aufnahmen
unsere Forderung
nach einem sofortigen Schutz des Areals.
Aus: junge Welt 2. Juli 2002
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