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Afghanistan: "Massaker in Mazar" - US-Soldaten verstrickt?

Tod im Container - Erschießungen am Massengrab? Brisanter Film eines irischen Jornalisten

Was die Zeitungen am 13. Juni 2002 über mögliche Massaker in Afghanistan berichteten, ist so neu und sensationell nicht, wie es dargestellt wird. Am 23. November 2001, der US-Krieg in Afghanistan schien sich schon seinem militärischen Ende zuzuneigen, wusste die Online-Ausgabe des SPIEGEL über einen Report der US-Regierung zu berichten, der in diesen Tagen veröffentlicht wurde und der eine Liste mit angeblichen Massakern der Taliban enthielt. Zur Festigung ihres Terrorregimes hätten die Taliban Kinder hingerichtet, Frauen vergewaltigt und Männer als Abschreckung an Straßenlaternen aufgehängt. Die Details sind in einem Bericht enthalten, den das eigens für die Informationsoffensive in Islamabad, London und Washington eingerichtete "Koalitionsinformationszentrum" präsentierte. So seien in Afghanistan acht Jungen ermordet worden, weil sie über Soldaten gelacht haben. Ganze Familien, die das Talibanregime ablehnten, seien verbrannt und hundert Männer, die den Taliban den Rücken gekehrt hatten, an Straßenlaternen aufgehängt worden. Der Report listet insgesamt 22 Massaker auf. So sollen die Taliban 1998 rund 600 usbekische Dorfbewohner in Westafghanistan massakriert haben und bei der Einnahme von Masar-i-Scharif im gleichen Jahr Männer und Jungen hingerichtet und Frauen vergewaltigt haben. In Yakaolang sollen in diesem Jahr 170 Männer hingerichtet worden sein. SPIEGEL-ONLINE mutmaßte über die Hintergründe des Berichts: "Die US-Regierung will mit der Veröffentlichung vor allem mögliche Sympathisanten der Taliban in den arabischen Ländern von der brutalen Natur der talibanischen Terrorherrschaft überzeugen. Das Informationszentrum war kurz nach Beginn des Krieges ins Leben gerufen worden, um direkt auf Äußerungen der Taliban über den Kriegsverlauf reagieren zu können."

Nun sprechen die Zeitungen vom 13. Juni 2002 aber von Massakern, die nicht von, sondern an den Taliban verübt worden seien, und zwar unter Aufsicht bzw. mindestens unter Mitwissen der US-Befehlshaber. Der irische Fernseh-Journalist Jamie Doran hat Filmaufnahmen von einem Massengrab in Afghanistan präsentiert. Die Vorgänge, die in einem 19-Minuten-Film mit dem Titel "Massaker in Mazar" gezeigt werden, begannen am 25. November 2001 in der bis zuletzt schwer umkämpften nordafghanischen Stadt Kundus. Nachdem sich dort etwa 8.000 der mehrere Tage lang eingeschlossenen Bewaffneten der Taleban und Al-Qaida-Trupps verschiedener Nationalität ergeben hätten, seien über 400 von ihnen als besonders Verdächtige in die Festung Qaala-i Janghi am Rande der nordafghanischen Metropole Mazar-i-Sharif gebracht worden. Die anderen sollen in das Gefängnis von Sheberghan verfrachtet worden sein. Um das Schicksal dieser Gefangenen geht es in dem Film. Sechs Zeuge, drei Soldaten, zwei Fahrer und ein Mann, der die Gefangenentransporte gesehen haben will, sagen in dem Film aus und sind nach Auskunft von Jamie Doran auch bereit, vor einem internationalen Gericht auszusagen.

Sollten sich ihre Aussagen auch nur halbwegs bestätigen, dann verblassen die offenkundigen Kriegsverbrechen, die schon während des Jugoslawien-Krieges 1999 begangen wurden, zu einer kriegsvölkerrechtlichen Lappalie. Ein paar Beispiele aus der Filmdokumentation:
  • Man habe jeweils bis zu 150 Gefangene (die Frankfurter Rundschau sprach von 300) in Frachtcontainern zunächst in das Gefängnis Sheberghan transportiert und von dort ebenfalls in Containern an den nahe gelegenen Ort Dasht-i-Laili in der Wüste gebracht. Schon auf dem Weg seien viele erstickt oder erschossen worden. Ein Soldat der Nordallianz sagt im Film, er habe auf Befehl seines Kommandeurs in die vollen Container "Luftlöcher" geschossen, als die Gefangenen um Luft rangen. Dabei seien viele Menschen im Inneren getötet worden.
  • Von den rund 7.500 Häftlingen, die in die Festung Kala-i-Zein nach Sheberghan transportiert wurden, kam nur die Hälfte lebend an.
  • Eine andere Aussage über die "Haft"bedingungen in Sheberghan: "Ich habe gesehen, wie ein amerikanischer Soldat einem Gefangenen das Genick gebrochen und einen anderen mit Säure übergossen hat". Ein anderer Augenzeuge beschreibt, wie Inhaftierten Finger und Zunge abgeschnitten wurden. Folter an den überlebenden Gefangenen schien an der Tagesordnung gewesen zu sein. In Sheberghan hielten sich US-Geheimdienstleute auf, welche die Häftlinge verhörten.
  • Zwei Zeugen, die sich als LKW-Fahrer zu erkennen gaben, erzählten, dass sie Gefangene zu einem Massengrab transortiert hätten. Dort seien diese dann erschossen worden - unter den Augen von 30 bis 40 US-Amerikanern. Nach Angaben von Doran liegt das Massengrab etwa eine halbe Stunde Fahrtzeit von Sheberghan entfernt. Insgesamt, so vermutet Doran, sollen im Laufe von etwa 10 bis 14 Tagen über 3.000 Häftlinge in Massengräbern in der Wüste verscharrt worden sein.
Auf wessen Initiative die Massenhinrichtungen und die Beseitigung der Leichen in Dasht-i-Laili erfolgte, ist unklar. Im Film behauptet ein Soldat der Nordallianz, die Gefangenen seien auf Geheiß der Amerikaner in die Wüste gebracht worden. Jamie Doran bestätigte auf Nachfrage, seiner Erfahrung nach hätten die Amerikaner überall, wo sie mit eigenen Einheiten stark präsent waren, faktisch das Kommando ausgeübt. Er vermute das auch für das Gefängnis von Sheberghan. Das Pentagon habe jedoch ihm gegenüber die Anwesenheit amerikanischer Truppen am Ort des Massengrabs bestritten.

Obwohl die umfassende Filmdokumentation erst in einigen Wochen fertig sein soll, ging Jamie Doran schon jetzt an die Öffentlichkeit, um zu verhindern, dass das Massengrab, auf das er bei seinen Recherchen gestoßen ist, beseitigt wird. Doran war selbst nicht am Ort des Massengrabs. Weil er die Aufmerksamkeit der örtlichen Machthaber auf sich gezogen habe, habe ein afghanischer Helfer die Aufnahmen gemacht. Für den britischen Menschenrechtsanwalt Andrew McEntee, der den Film mit einem Kommentar begleitet, handelt es sich hier um schwere Kriegsverbrechen, die sowohl gegen das Völkerrecht als auch gegen USA-Recht verstoßen. Ehe die Beweise in der Wüste von Dasht-i-Leili beseitigt würden, sollten die Vorgänge möglichst schnell von einer unabhängigen Expertengruppe der Vereinten Nationen oder des Internationalen Roten Kreuzes untersucht werden. Diese Forderung unterstützte auch der PDS-Europaabgeordnete André Brie, der seit längerer Zeit mit Doran in Kontakt steht und sich ursprünglich dem Filmteam anschließen wollte. Der Film wurde am 12. Juni erstmals bei der PDS-Bundestagsfraktion und dann noch im Europaparlament vorgeführt. Die linke Fraktion im Europa-Parlament hat Dorans Recherchen finanziell gefördert. André Brie habe sich nach eigenen Angaben "engagiert, nicht um bestimmte Bilder, sondern um überhaupt authentische Bilder zu erhalten". Schließlich hätten die Europäer "allen Grund, um beste amerikanische Werte gegen so ein Vorgehen zu verteidigen" (zit. nach Berliner Zeitung).

Zurück zum Anfang. Warum haben die US-Alliierten am 23. November ihre Informationskampagne über Massaker der Taliban gestartet? Vielleicht weil sie ahnten, dass sie mit ähnlichen Vorwürfen an ihre eigene Adresse konfrontiert werden könnten. Immerhin war ja schon einiges ruchbar geworden. Wir zitieren aus unserer "Kriegschronik":
  • "Die Nordallianz hielt sich nicht an die Warnungen aus Washington und Islamabad und zog in der afghanischen Hauptstadt Kabul ein. Es habe keinen Widerstand gegeben, die Taliban hätten sich kampflos aus der Stadt zurückgezogen. Während die ARD (Tagesschau und Brennpunkt) von lediglich vier getöteten Taliban-Soldaten sprach - ansonsten sei alles ruhig und friedlich verlaufen - meldete Spiegel-Online, die Übernahme von Kabul sei nicht ohne Plünderungen, Exekutionen und Lynchmorde abgegangen.
    Damit hätte sich wiederholt, was bei der Einnahme der Stadt Masar-i-Sharif passiert sei. Truppen der Nordallianz haben angeblich nach der Einnahme Stadt 100 junge Soldaten der Taliban getötet. Eine Uno-Sprecherin sagte am 13. November in Islamabad, die Taliban-Kämpfer hätten sich am 10. November in einem Schulgebäude versteckt. Sie seien offenbar nach ihrer Entdeckung exekutiert worden, sagte Stephanie Bunker vom Uno-Koordinationsbüro für Humanitäre Hilfe in Afghanistan. Sie erklärte ferner, Büros der Uno und anderer Hilfsorganisationen seien in Masar-i-Scharif und Kabul geplündert worden."
  • "Am 23. November wird berichtet, dass in Masar-i-Scharif Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) dabei seien, die bis zu 600 dort gefundenen Leichen zu bergen. Die Sprecherin des IKRK, Antonella Notari, äußerte sich aber nicht zu den Todesursachen. 'Das ist nicht unsere Aufgabe', sagte sie. Die Bergung erfolge aus Gesundheitsgründen. Es werde versucht, die Toten für ihre Hinterbliebenen zu identifizieren und ihnen ein würdiges Begräbnis zu verschaffen. Das IKRK-Team ist seit dem Fall der Stadt am 9. November vor Ort aktiv. Zu unbestätigten Meldungen über mögliche Massaker der Nordallianz an Taliban-Kämpfern in Masar-i-Scharif nach der Einnahme der Stadt vor zwei Wochen gab sie keine Auskünfte."
  • "Am 27. November ist der Aufstand gefangen genommener Al-Qaida-Kämpfer bei Masar-i-Scharif nach heftiger amerikanischer Luftunterstützung wohl endgültig blutig niedergeschlagen worden. Nach verschiedenen Berichten sollen dabei Hunderte von Gefangenen und zahlreiche Kämpfer der Nordallianz ums Leben gekommen sein. Die Rede ist auch von einem getöteten US-Soldaten. Fünf amerikanische und vier britische Soldaten wurden bei den Gefechten schwer verletzt. Pakistanische Medien und Regierungskreise bezweifelten schon am Vortag, dass es sich um einen Aufstand gehandelt habe. Sie verdächtigten die Nordallianz, die Gefängnisrevolte nur vorgeschoben zu haben, um ein Massaker an den Gefangenen zu rechtfertigen."
Wir dürfen gespannt sein, ob den Vorwürfen gegenüber den "Siegern" des Afghanistankrieges juristisch nachgegangen wird. Carla del Ponte ist dafür nicht zuständig (und wäre sie es, sie würde wohl ebensowenig Anklage erheben wie im Fall der nicht erhobenen Anklagen gegen die NATO), der neue Weltstrafgerichtshof, den die USA boykottieren und zu ihrem Feind erkoren haben (vgl. unseren Beitrag zum ASAP-Gesetz) beginnt seine Arbeit erst im Juli 2002 und darf nicht rückwirkend tätig werden, und in den USA selbst verbietet sich ein Verfahren gegen die eigenen Jungs fast von selbst. Haben sie doch nur beherzigt, was ihr Präsident von ihnen verlangte: die Terroristen zur Strecke zu bringen, "dead or alive". Immerhin hat sich das deutsche Auswärtige Amt an die USA gewandt und um Informationen gebeten. Außenminister Fischer unterstütze "jeden Beitrag zu einer Aufklärung", verlautete am 13. Juni aus Berlin. Eine internationale Untersuchung der Vorwürfe halte man aber für verfrüht, hieß es einschränkend.

Quellen: Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, alle vom 13.06.2002; "Kriegschronik"

P. Strutynski


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