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Chronik des Krieges gegen Afghanistan

Juni 2002

  • Der Krieg in Afghanistan geht immer weiter. Er wird fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die Medien berichten nur dann, wenn wieder etwas ganz Besonderes passiert. So wieder am Wochenende 1./2. Juni. Da haben US-Soldaten "irrtümlich" drei verbündete Afghanen getötet und zwei weitere verletzt. Das Ganze passierte in der Nähe der ostafghanischen Stadt Gardes. Rund 100 US-Elitesoldaten haben nach Armeeberichten Stellung um einen Gebäudekomplex bezogen, in dem sich laut Geheimdienstberichten führende Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer aufhielten. Als einer der Afghanen eine Panzerabwehrrakete in Richtung der US-Soldaten gehalten habe, habe der US-Kommandant Befehl zum Feuern gegeben.
  • Die Chancen des Interimspräsidenten Hamid Karsai stehen gut, auch die nächste Übergangsregierung zu führen. Ein Sprecher des afghanischen Außenministers erklärte am 2. Juni, auch der mächtige Stammesführer des westlichen Provinz Herat hat sich hinter Karsai gestellt. Dasselbe gilt für den Ex-König Sahir Schah.
    Am 2. Juni gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass der internationale Hilfsfonds der Weltbank für die afghanische Übergangsregierung bisher nur 40 bis 50 Mio. Dollar eingenommen habe, statt der von den Gebern zugesagten 400 Mio. Dollar.
  • Nach Angaben der kanadischen Streitkräfte sind am 4. Juni auf einen von US-Truppen genutzten Flughafen bei Kandahar vier Raketen abgefeuert worden. Sie verfehlten aber ihr Ziel.
  • Am 5. Juni beschloss das Bundeskabinett in Berlin die Verlängerung der Bundeswehrbeteiligung an der Internationalen Sicherheitstruppe für Afghanistan ISAF um sechs Monate (beginnend vom 20. Juni an). Außerdem soll die Truppe um rund 80 Soldaten aufgestockt werden - zum Schutz der am 10. Juni begonnenden großen Ratsversammlung (Loya Jirga). Zuir Zeit sind 1.160 Bundeswehrsoldaten in der ISAF tätig. Die Obergrenze war vor einem halben Jahr vom Bundestag auf 1.200 festgelegt worden. Mit dem Kabinettsbeschluss wird diese Obergrenze überschritten. In Zeiten des "Kontingentwechsels" dürfen nun maximal 1.400 deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert sein. Die 96 Mio. EURO, die die Verlängerung kosten wird, sollen durch Haushaltsumschichtungen aufgebracht werden.
  • Am 6. Juni meldeten die Vereinten Nationen, dass die Stämme und Volksgruppen 1.501 Vertreter in die Loya Jirga gewählt hätten. 100 Sitzen sind Frauen und 100 den Flüchtlingen vorbehalten. Auch Berufsgruppen wie Intellektuelle, Ärzte und Geschäftsleute hätten feste Kontingente. Interimspräsident Karsai kündigte inzwischen an, er wolle für das Präsidentenamt kandidieren.
  • Am 8. Juni wurde vom Organisationskomitee bekannt gegeben, dass die Zahl der Delegierten kurzfristig um 50 auf insgesamt 1551 erhöht würde. In zwei Bezirken habe die Kommission die Teilnehmer benennen müssen, da die Voraussetzungen für eine Wahl wegen örtlicher Rivalitäten nicht erfüllt gewesen seien.
  • Der für den 10. Juni vorgesehene Beginn der Loya Jirga ist um einen Tag verschoben worden. Offizieller Grund: logistische Probleme. Schwierig seien z.B. die Unterbringung der Delegierten und deren Registrierung, hieß es. Einige Stammesführer verlangten auch, ihre bewaffneten Leibwächter mit in das Versammlungszelt bringen zu dürfen. Die Vorschriften verbieten aber das Waffentragen. Probleme könnte es auch gegeben haben, weil die Rolle3 des Ex-Königs Sahir Schah nicht klar ist. Zwar betonte der 87-Jährige, die Monarchie nicht wieder einführen zu wollen, es gab aber auch Äußerungen, wonach er möglicherweise ein Staatsamt anstrebe. Dies hat er aber am Abend endgültig dementiert.
  • Am 11. Juni, noch vor Beginn der Loya Jirga, hat einer der letzten möglichen Herausforderer von Hamid Karsai für das Präsidentenamt, Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani, seine Kandidatur zurückgezogen.
    Ismail Kassim Jar eröffnete am 11. Juni die Versammlung in der Hoffnung, "dass diese Loya Jirga die Probleme lösen kann, vor denen unser Land seit 23 Jahren steht". Die Loya Jirga findet mit 1.550 Delegierten in einem großen weißen Zelt am Rande Kabuls statt, streng bewacht von Einheiten der ISAF. Vor neuerlichen Kämpfen warnte indessen der Kriegsherr Padscha Khan für den Fall, dass der Ex-König Sahir Schah nicht an die Macht zurückkehren werde. Ansonsten scheint aber die Wahl von Hamid Karsai gesichert zu sein. Karsai ist auch der Mann der USA, der Bundesregierung und der Vereinten Nationen.
    Truppen der Anti-Terror-Koalition unter Führung der USA haben am 11. Juni eine neue Militäraktion im Südwesten Afghanistans gestartet. Etwa 100 Soldaten seien in der Provinz Helmand im Einsatz.
  • Am 12. Juni erhebt der irische Fernseh-Journalist Jamie Doran bei einer Pressekonferenz in Berlin schwere Vorwürfe gegen die USA. Truppenkommandeure hätten ein Massaker zugelassen, bei dem im November 2001 rund 3.000 gefangene Taliban-Kämpfer ums Leben kamen (siehe "Das Massaker von Mazar"). Zwei Tage später, am 14. Juni, wies das Pentagon die Beschuldigungen zurück. "Wir haben die Behauptungen geprüft und nichts gefunden, was eine offizielle Untersuchung gerechtfertigt hätte", sagte ein Sprecher (FR, 15.06.2002).
    Auch die Präsidentenwahl verzögert sich. Delegierte der Loya Jirga protestierten am 12. Juni dagegen, dass auch zahlreiche Warlords an der Konferenz teilnähmen, obwohl vereinbart gewesen sei, dass niemand teilnehmen dürfe, "an dessen Händen Blut klebt". "Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine Loya Jirga oder ein Kommandeursrat sein soll", rief ein Delegierter. Um das Präsidentenamt bewirbt sich auch eine Frau. Am 12. Juni gab die Kabuler Ärztin Massuda Dschalal ihre Kanidatur bekannt. Die 35-Jährige arbeitete für das UN-Ernährungsprogramm.
  • Erwartungsgemäß wurde Hamid Karsai von der Loya Jirga am 13. Juni zum afghanischen Präsidenten gewählt. Karsai erhielt 1.295 Stimmen, Masuda Dschalal erhielt 171 Stimmen, ein dritter Bewerber kam auf 89 Stimmen. Es wurden 20 Stimmzettel mehr abgegeben als Stimmberechtigte anwesend waren; 20 Wahlzettel wurden für ungültig erklärt.
    Beim Absturz eines US-Transportflugzeugs 130 km südlich von Kabul sind am 13. Juni drei US-Soldaten ums Leben gekommen. Ein Sprecher agte, der Absturz sei vermutlich auf feindliches Feuer zurückzuführen.
    In Kabul gab ein deutscher Schützenpanzer "aus Versehen" (ISAF-Sprecherin) mehrere Schüsse ab, wobei ein Übertragungswagen des afghanischen Fernsehens von 20 Schüssen getroffen wurde.
  • Der Deutsche Bundestag verlängerte am 14. Juni das Mandat für die Teilnahme der Bundeswehr an der UN-Truppe ISAF in Afghanistan um ein weiteres halbes Jahr (497 zu 37 Stimmen, 5 Enthaltungen). Der deutsche Anteil könne, falls erforderlich, auf 1.400 Soldaten erhöht werden, beschloss das Parlament.
    Der von der Loya Jirga gewählte Präsident Karsai rief am 14. Juni die internationale Gemeinschaft zu erhöhter Hilfe für sein Land auf. Die bisherigen Hilfen seien "minimal" im Vergleich zu dem, was versprochen wurde.
    Die Loya Jirga beriet über die Zusammensetzung einer Regierung. Paschtunenführer Abdul Rasul Sajaf forderte unter großem Beifall dpie Einführung des islamischen Rechts (Scharia). Sajaf gilt als Verbündeter von Ex-Präsident Rabbani.
  • Die Loya Jirga wird nicht wie vorgesehen am 16. Juni, sondern erst am 17. Juni enden. Der von ihr gewählte Präsident Karsai drängte am 15. Juni die Teilnehmer, einen nationalen Rat (Schura) zu bilden. "Auch wenn es nicht im Abkommen von Bonn vorgesehen ist, sollten wir eine Schura für 18 Monate bilden", sagte er. Schließlich solle Afghanistan vom Volk regiert werden. Dem Rat sollen 111 Mitglieder angehören. Den Plänen zufolge wird jede der 32 afghanischen Provinzen zwei Vertreter entsenden. Unter ihnen sollen auch 15 Frauen und fünf Vertreter der "Zivilgesellschaft" sein. Vorsitzende werden wahrscheinlich der frühere afghanische Präsident Burhannudin Rabbani und der einflussreiche religiöse Führer Pirsajed Gilan.
  • Am 16. Juni muste die Loya Jirga wegen anhaltender Tumulte unterbrochen werden. Der Vorsitzende des Rats, Ismail Kasim Jar verordnete den Delegierten eine Denkpause bis Montag, den 17. Juni. Angeblich waren Sprachschwierigkeiten ursächlich für die Auseinandersetzungen.
    Hilfsorganisationen drohten mit dem Rückzug aus Afghanistan, falls die Gewalttaten und Überfälle auf Mitarbeier von internationalen Hilfsorganisationen nicht aufhörten.
  • Auch am 17. Juni gelang es der Loya Jirga nicht, sich auf ein Verfahren zur Bildung eines Übergangsparlaments zu einigen. Der von der Ratsversammlung gewählte Präsident Karsai hielt auf Dari und Paschtu eine Rede, in das Parlament nicht mehr vorkam. Stattdessen sagte er, das Land solle bis zu einer Parlamentswahl von einer "Islamischen Übergangsregierung" geführt werden. Diese solle sich in Richtung einer "pluralistischen Regierung" bewegen.
    UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen Ruud Lubbers hat die internationale Gemeinschaft um mehr Hilfe für die rückkehrenden Afghanistan-Flüchtlinge aufgerufen. Dem UNHCR gehe bald das Geld aus. Die EU kündigte am 17. Juni weitere Hilfen in Höhe von 9,25 € an.
  • Nachdem die Loya Jirga einen Vorschlag Karsais abgelehnt hatte, wonach eine kleine Gruppe von Delegierten nach Abschluss der Ratsversammlung über ein Übergangsparlemnt entscheiden solle, unterbreitete der Ratsvorsitzende Ismail Kasim Jar am 18. Juni einen eigenen Vorschlag. Demnach solll jede der 32 Provinzen zwei Abgeordnete stellen. Zusätzlich soll die Loya Jirga 80 Delegierte als Parlamentarier auswählen. Außerdem sollen noch 15 Frauen in das Parlament einziehen.
    Die Dauer der Loya Jirga wurde erneut verlängert.
  • Interimspräsident Karsai wurde am 19. Juni vor der Loya Jirga als neuer Präsident Afghanistans vereidigt worden. Seine Amtszeit dauert bis zu regulären Wahlen, die in eineinhalb Jahren stattfinden sollen.
    Karsai hatte zuvor die 14 Minister seines Interims-Kabinetts vorgestellt. Die Loya Jirga stimmt dem Vorschlag zu.
  • Am 20. Juni übernahm die Türkei die Führung der UN-Truppe für Afghanistan ISAF. Der türkische Viersternegeneral Hilmi Akin Zorlu übernahm das Kommando vom Briten John Mc Coll.
    Paris zog den Flugzeugträger "Charles de Gaulle" vom Indischen Ozean ab. Er gehörte zum "Anti-Terror-Einsatz" Frankreichs.
  • Am 23. Juni strahlte der katarische Sender Al Dschasira eine Erklärung des Al-Qaida-Sprechers Suleiman Abu Ghaith aus, wonach die Terrororganisation Al Qaida "zu 98 Prozent intakt" sei. Osama bin Laden und der Taliban-Führuer Mullah Omar seien bei bester Gesundheit, hieß es.
  • Bundesaußenminister Joschka Fischer unterstützt Überlegungen, zur Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges eine "Wahrheitskommission" nach südafrikanischem Vorbild einzusetzen, verlautete am 26. Juni aus Berlin.
    Minister Fischer vertrat auch "nachdrücklich" die Meinung, dass Vorwürfe untersucht werden müssten, in Nordafghanistan habe es in Gegenwart von US-Soldaten ein Massaker mit mehreren Tausend toten Gefangenen gegeben. (Vgl. den Bericht "Massaker in Mazar" vom 13. Juni.)
    Bei einem Gefecht mit mutmaßlichen Al-Qaida-Kämpfern in einer Gebirgsregion nahe der afghanischen Grenze sind zehn pakistanische Soldaten getötet worden, teilte das Innenministerium in Islamabad am 26. Juni mit.
  • Bei einer Explosion in einem Munitionsdepot im Süden Afghanistans sind am 28. Juni mehrere Menschen getötet worden. Das Depot in der Nähe der pakistanischen Grenze sei von einer Rakete getroffen worden, die von versprengten Al-Qaida-Kämpfer abgefeuert hätten, sagte der Gouverneur von Kandahar, Gul Agha. Durch die Explosion ist auch ein Brand in einem Lebensmittellager des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen ausgelöst worden. Speiseölvorräte sind vernichtet worden. 600 bis 800 Tonnen Weizen konnten aber gerettet werden.
  • Am 30. Juni verlautete aus Kandahar, dass es sich bei der Explosion in dem Munitionsdepot doch nicht um einen Terroranschlag gehandelt habe. Vielmehr deute alles auf persönliches Verschulden hin. Zwei Bewohner der Stadt seien wegen "fahrlässigen Verhaltens" festgenommen worden, so der Sprecher weiter. Was den beiden Festgenommenen vorgeworfen wird, sagte er nicht (Netzeitung, 30.06.2002).
    Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) berichtet am 30. Juni unter Berufung auf deutsche Offiziere, die in die US-Einsatzführung des Central Command eingebunden sind, Washington dringe auf eine "stärkere und öffentlich wahrnehmbarere Rolle" der deutschen Kampfeinheiten. Die USA würden diesen Wunsch auch deshal äußern, weil Kanada seine Truppen abziehen wolle. Der Zeitung zufolge unterdrückt das Verteidigungsministerium Informationen zur Beteiligung der KSK-Soldaten an den Einsätzen in Afghanistan. Die Bundeswehr sei nach Aussagen ranghoher deutscher Offiziere bereits "bei nahezu allen Einsätzen dabei, bei denen hinterher von Seiten des amerikanischen Kommandos nur über Aktionen amerikanischer und britischer Einheiten gesprochen wird". US-Oberbefehlshaber General Franks habe die Beteiligung deutscher Soldaten an gefährlichen Einsätzen bereits mehrfach öffentlich machen wollen, sei aber von Berlin daran gehindert worden. Die Netzeitung berichtete darüber hinaus, dass auch ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums bereits kritisiert habe. Darin heiße es, es bestehe auch bei KSK-Einsätzen eine "umfassende Auskunftspflicht". Ausnahmen seien von der Regierung im einzelnen darzulegen. "Die pauschale Behauptung der Gefährdung deutscher Soldaten genügt dazu nicht". (nz, 30.06.2002)


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