Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Merkel fordert mehr Mut zum Krieg

Regierungserklärung zu Afghanistan-Einsatz / Guttenberg vor Untersuchungsausschuss

Von René Heilig *

Es war der FDP-Abgeordnete Martin Lindner, der – per Zwischenruf – dem Fraktionschef der LINKEN eine Überweisung zum Psychiater zukommen lassen wollte. Wie unanständig diese Attacke gegen Gregor Gysi, der erneut den sofortigen Rückzug der Bundeswehr vom Hindukusch gefordert hatte, auch gewesen sein mag, die gestrige (22. April) Debatte im Bundestag zum Thema Afghanistan-Krieg trug plenumsweit kafkaeske Züge.

Hier geht es zur ganzen Debatte:

Merkel: "Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan" / Gysi: "Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko"
Eine erregte Debatte im Deutschen Bundestag am 22. April 2010 über den Krieg in Afghanistan. Alle Beiträge im Wortlaut und ausgewählte Video-Streams



Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte eine Regierungserklärung angekündigt. Anfangs hörte man fast Pastorales, später jedoch trug die Kanzlerin nur noch altbekannte Politstanzen vor. Merkel verlas die Namen aller sieben seit dem vergangenen Karfreitag in Afghanistan getöteten Bundeswehrsoldaten und behauptete, sie seien alle gestorben, weil sie Afghanistan zu einem Land ohne Angst und Terror machen wollten. Sie zitierte den militärischen Eid, nach dem die Bundeswehrangehörigen das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen sollen. Das hätten die »Gefallenen« denn auch »tapfer« getan.

Forderungen nach sofortigem Abzug der deutschen Truppen bezeichnete sie als unverantwortlich, denn es wäre »ein Trugschluss zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus«. Merkel wiederholte die Aussage des früheren Verteidigungsministers Peter Struck (SPD), dass die Sicherheit in Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde. Die Folgen eines Rückzugs wären »weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001«, sagte sie in ihrer immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochenen Rede.

Die Kanzlerin räumte Fehler im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz in den vergangenen Jahren ein, um dann erneut imaginäre Fortschritte aufzulisten und die neue Afghanistan-Strategie zu preisen, mit der die Sicherheitsverantwortung an die afghanische Seite übergeben werden soll. Merkel rief die Abgeordneten des Bundestags dazu auf, zu dem erst im Februar vom Parlament beschlossenen Mandat zu stehen: »Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.«

Von Mut keine Spur fand sich in der Rede des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Er – wie die große Mehrheit der SPD – stehe zu dem Einsatz. Gabriel sieht es als eine wichtige Aufgabe seiner Partei an, die größer werdende Mehrheit, die gegen den deutschen Einsatz am Hindukusch ist, von dessen Notwendigkeit zu überzeugen.

Gregor Gysi unterstrich das Mitgefühl seiner Fraktion mit den Toten und Verletzten auf allen Seiten. So wie die Bundestagsabgeordneten sich für die sieben jüngst getöteten Bundeswehrsoldaten erhoben hätten, so hätten sie es auch tun sollen für die über 100 im September 2009 nach einem deutschen Befehl getöteten afghanischen Zivilisten. Wer wolle, dass der Krieg nicht noch mehr Opfer fordere, der müsse auch für den Abzug der Bundeswehr eintreten. Doch Merkel fehle der Mut, diesem Drängen der übergroßen Mehrheit des Volkes zu entsprechen. Statt dessen stimme die Bundesregierung einer neue Großoffensive zu, die ISAF-Chef Stanley McChrystal am Mittwoch in Berlin bestätigt hat. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin warf Merkel vor, nicht klar zu sagen, wofür die Soldaten »ihren Kopf hinhalten«. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) schicke hilflos Panzerhaubitzen nach Afghanistan, »um die Heimatfront zu beruhigen«.

Trotz der Kritik im Bundestagsplenum erschien Guttenberg durch Merkels Regierungserklärung gestärkt vor dem sogenannten Kundus-Untersuchungsausschuss. In seinem Eingangsstatement zu dem tödlichen Bombardement vom 4. September am Kundus-Fluss kam der Minister zu dem Schluss, dass sich in der Nachbetrachtung vieles anders darstelle. »Es steht außer Frage, dass der Angriff nicht hätte erfolgen müssen, ja er hätte nicht erfolgen dürfen«, betonte Guttenberg.

* Neues Deutschland, 23. April 2010


SPD: Nie wieder Krieg(srhetorik)

Von Rüdiger Göbel **

Mit einer Schweigeminute haben die Abgeordneten des Bundestages, Kriegsbefürworter wie -gegner, am Donnerstag (22. April) der sieben in diesem Monat in Afghanistan bisher getöteten deutschen Soldaten gedacht. Auch »die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten«, behauptete Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in totalitärer Überheblichkeit, wohl wissend, daß 70 Prozent der Bevölkerung den Einsatz ablehnen und einen raschen Abzug der Bundeswehr fordern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte in ihrer Regierungserklärung den Krieg als alternativlos. »Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch behauptet«, zitierte die CDU-Vorsitzende den früheren Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr sei »über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben«, so Merkel. Sie äußerte Verständnis dafür, daß Soldaten den Afghanistan-Einsatz als Krieg bezeichnen und warnte davor, die Situation am Hindukusch zu beschönigen. »Unsere Soldaten leben in ständiger Angst, getötet zu werden oder in einen Hinterhalt zu geraten, damit wir hier nicht in Angst leben müssen.« Doch die Truppe brauche mehr Unterstützung, mahnte die Kanzlerin. »Die Bundeswehr wird ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen kann und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.« Wer einen Rückzug fordere, handle »unverantwortlich«, sagte sie angesichts vernünftig werdender Sozialdemokraten, Linkspartei und der Stimmung beim Gros der Bevölkerung.

SPD-Chef Sigmar Gabriel versicherte, seine Partei und Fraktion stehe in ihrer großen Mehrheit hinter der Mandatsverlängerung und werde den Afghanistan-Krieg weiter unterstützen – auch gegen den Willen der Öffentlichkeit (»Politiker müssen mehr sein als ein Echolot öffentlicher Gefühle«). Allein, das Ganze soll bitteschön nicht beim richtigen Namen genannt werden, wie dies von der Regierung zuerst Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg getan hat (»kriegsähnliche Zustände«). Die Bundeswehr führe keinen »Krieg«, so Gabriel. Rhetorisch schöner findet der frühere Popbeauftragte der Sozialdemokraten: Einsatz der Vereinten Nationen zur Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens. Auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin bekannte sich zum deutschen Kriegseinsatz. Er mahnte allerdings an, die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan auch Aufstandsbekämpfung zu nennen. Die Regierung solle aufhören, um den heißen Brei herumzureden. Und: Deutschland werde sich weiteren »Stabilisierungseinsätzen« nicht entziehen können und dürfen.

»Der Krieg war, ist und bleibt falsch«, konterte Linksfraktionschef Gregor Gysi. »Man kann mittels Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur neuen.« Im übrigen verwahrte sich der Linke-Politiker dagegen, daß ausgerechnet denen der Respekt für die getöteten Soldaten abgesprochen wird, die für den Frieden seien. Gysi erinnerte das Plenum: »Es wäre gut gewesen, wenn der Bundestag auch für die afghanischen Toten aufgestanden wäre.« Der Kanzlerin hielt er vor: »Keine Ihrer Begründungen für den Krieg überzeugt, deswegen müssen Sie sich Tag für Tag neue einfallen lassen. Nicht wir wollen kopflos aus diesem Krieg raus: Sie sind kopflos reingegangen.« Afghanistan brauche eine Verhandlungslösung, eine Verhandlungslösung brauche einen Waffenstillstand und ein Waffenstillstand brauche den Abzug der ausländischen Truppen. Der FDP-Politiker Martin Lindner forderte Gysi in einem Zwischenruf auf, zum Psychiater zu gehen, was vom Parlamentspräsidenten – auf Intervention der Linken – später als »unparlamentarische Äußerung« gerügt wurde.

Der Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele erklärte, er lasse sich nicht für einen verhängnisvollen Kriegseinsatz vereinnahmen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung stehe nicht hinter dem Afghanistan-Engagement. Den Soldaten könne daher lediglich gesagt werden, daß sie im Auftrag einer Mehrheit im Bundestag agieren.

** junge Welt, 23. April 2010


Wahrheit statt Gebrüll

Von René Heilig ***

Wer schreit, hat Unrecht, heißt es landläufig. Gestern wurde viel dazwischengerufen, als im Bundestag über Merkels Regierungserklärung über die Fortsetzung des Afghanistan-Krieges debattiert wurde. Nervosität war spürbar. Kein Wunder nach sieben in nur wenigen Tagen getöteten Bundeswehrsoldaten und der Ankündigung des ISAF-Kommandeurs McChrystal, dass die kommenden Kämpfe noch opferreicher werden könnten.

FDP-Fraktionschefin Homburger verlangte gestern, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Wohlan, doch muss man sie auch aushalten wollen. Egal, auf welcher Position man steht – die Frage lautet objektiv: Ist der Waffengang geeignet, für notwendig befundene Ziele zu erreichen? Man wollte die Al-Qaida-Terroristen besiegen – die Gefahr verteilte sich quer durch die Welt. Man wollte in Afghanistan Demokratie einführen – das gezüchtete Feigenblatt ist nicht groß genug, um Wahlbetrug und Korruption zu kaschieren. Man wollte den Menschenrechten Wege ebnen – und baute doch nur Rollbahnen fürs Militär. Man hat Hunger und Armut nicht besiegt, der Drogenexport wächst. Bildung für alle und Gleichberechtigung bleiben Träume – nach fast neun Jahren westlicher »Entwicklungshilfe«.

Und was steht auf der Haben-Seite? Mehr Tote denn je und die Gefahr, dass die ganze Region in Flammen aufgeht. Das ist die Wahrheit. Und die kann man nicht niederbrüllen.

*** Neues Deutschland, 23. April 2010


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite mit den Bundestags-Debatten

Zurück zur Homepage