Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Merkel: "Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan" / Gysi: "Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko"

Eine erregte Debatte im Deutschen Bundestag am 22. April 2010 über den Krieg in Afghanistan. Alle Beiträge im Wortlaut und ausgewählte Video-Streams

Unter Zusatzpunkt 3 debattierte der Deutsche Bundestag am 22. April 2010 über die Lage in Afghanistan und den deutschen Militäreinsatz. Zum dritten Mal sah sich die Bundeskanzlerin gezwungen hierzu eine Regierungserklärung abzugeben.

Im Folgenden dokumentieren wir sämtliche Debattenbeiträge nach dem vorläufigen amtlichen Protokoll in der Reihenfolge der Sprecher/innen:


Deutscher Bundestag: Vorläufiges Protokoll
37. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010


V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereignisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken.

(Die Anwesenden erheben sich)

Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribünen, unter denen ich besonders den Botschafter der Republik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße.

Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in der Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen. Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahlreiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staates und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kolleginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über unsere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren uns zu Partnern und Freunden geworden.

(...)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung haben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordafghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. Wenige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein Militärarzt getötet.

Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Soldaten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt den Verletzten.

Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unserer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des internationalen Terrorismus auch und gerade dort verteidigt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume und Kommandozentralen hat.

Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bislang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeordneten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernsthaften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Entscheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundestag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wieder neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkritischen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichtigen.

Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokratisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen, darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen.

Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten. Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir eine schnelle und vollständige Genesung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu darf ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:



Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak, Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische Soldaten.

Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spreche den Angehörigen, den Kameraden und Freunden mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollständige Genesung.

Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehrrekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor dem Reichstag gesagt - ich zitiere -:

Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück, einer heute friedfertigen Nation und ihrem rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.

Ende des Zitats.

Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung feiern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerzhaft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie missbrauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen und demokratischen Werte dieses Landes.

Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, diesen Eid:

Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.

Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deutsche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.

Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer, weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit - das haben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir alle schmerzhaft erfahren müssen - ist ohne Verletzbarkeit nicht denkbar.

Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Unser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland begleitet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der vergangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen. Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es auch - wie viele andere aus diesem Hohen Hause - als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.

Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich: Niemand von uns verharmlost; niemand von uns - ob er im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz gestimmt hat - verharmlost das Leid, das dieser Einsatz bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer hinterlässt.

Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor diesem Hohen Haus erklärt - ich zitiere -:

Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren.

Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.

Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt hat - und das unterstelle ich jedem von uns -, war dies vor der Abstimmung über das aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In einem Interview, das am letzten Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist, hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er - ich zitiere -:

Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall.

(Zuruf von der LINKEN)

Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm, wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel. Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder gar nicht vorstellen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikanische Präsident Barack Obama gesagt - ich zitiere -:

Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der Aufopferung für sein Land, für die Sache und für seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist niemals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nennen.

In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Namen nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn unseres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren. 24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben ihr Leben verloren - auch infolge deutschen Handelns, wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September vergangenen Jahres.

Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoffnungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind.

(Zuruf von der LINKEN: Ja, warum denn?)

Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unabweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So jedenfalls geht es mir. Dennoch und so stehe ich wie die große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegen den Willen der Bevölkerung!)

Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.

Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind Lebensbedingungen katastrophal - und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan geht es noch um etwas anderes.

Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er sagte vor Jahren:

Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Lachen bei der LINKEN - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Das wird auch nach Jahren nicht besser! - Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist ein Mythos!)

Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bislang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine ausreichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeutet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.

(Dr. Barbara Hendricks (SPD): Er hat "Freiheit" gesagt! Freiheit!)

Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt.

Der internationale Terrorismus und die von ihm ausgehende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Menschen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet - dies ist eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch sowenig man die Globalisierung abschaffen kann - was ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn man es wollte -, so wenig dürfen wir in unseren Anstrengungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen.

Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig, darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjetischen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber etwas anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt internationaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht wurde.

Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind die Attentäter von New York und Washington und später die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen. Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt. Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher lediglich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu können.

Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung die Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwischen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Konflikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominieren werden.

Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan, die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern, um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen Attacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns gelangen können.

Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militärische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt nur Ultima Ratio.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebunden an Völker- und Verfassungsrecht.

Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhaltung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio - das ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mitglied unserer Bündnisse wahrnehmen.

Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles.

Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtlichen Weg gegangen.

(Zuruf von der LINKEN: Ja!)

Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Aufbau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das gesamte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland international Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspolitik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch außerhalb des Bündnisgebietes übernommen.

War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999 erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Ausland, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag der Bundeswehr wesentlich bestimmen.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Soldatinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittelmeer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Absicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und Soldaten gesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der LINKEN: 70 Prozent sind dagegen!)

Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen kann

(Zurufe von der LINKEN: Das kann sie aber nicht!)

und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Kanada!)

Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar alleinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwortung übernommen haben, und für unsere eigene Sicherheit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte sie anders, wären die Folgen - das ist meine Überzeugung - weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001.

Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afghanistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuklearmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden. Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen Staats- und Regierungschefs auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargipfel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig: Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedrohungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angereicherte konventionelle Waffen zu bauen.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Was hat das mit Afghanistan zu tun?)

Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Afghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afghanistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuklearwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss verhindert werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten muslimischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürzten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afghanistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Sicherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Sicherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindukusch verteidigt wird.

Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen, dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes müssen wir feststellen - ich sage dies durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzuweisung gegen irgendjemanden -: Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch.

(Zuruf von der LINKEN: Der Krieg war falsch, von Anfang an!)

Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichenstellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan vorgenommen wurden.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verabschiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik eng miteinander verbunden sind.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Großer Fehler! Ganz großer Fehler!)

Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejenigen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Angebot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres Landes beteiligen wollen.

Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Sicherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabilität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Mit mehr Soldaten!)

Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bilanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen wird.

(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)

In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Darum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der internationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entweder unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, historischen und religiösen Traditionen der afghanischen Gesellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Traditionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd. Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung, die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen kann.

Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Müssen Sie auch das noch bemühen?)

Rechtsstaatlichkeit - das meint nicht nur, aber zunächst die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrückung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.

Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist richtig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwicklung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bilden, die uns in Europa und der Welt bedrohen können. Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die internationale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingeleitet haben und die wir erfolgreich beenden werden.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Durchhalteparole!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verloren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension unserer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden.

(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)

Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank, unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel (SPD):

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfraktion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten, die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger Anschläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erinnern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und doch - das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele von uns -: Niemand von uns kann das Leid der Angehörigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehörigen, Familien und Freunde wirklich trösten können.

Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklärung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr bewegt haben, wirklich so wichtig, so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Afghanistan.

(Zuruf von der LINKEN: Genau so ist es!)

Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so beschlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Menschen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Parlaments in einer besonderen Verantwortung, die wir nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jahren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich verpflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem solchen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso.

Natürlich kommen vielen von uns angesichts von schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilisten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffenen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzulassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Menschenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Verbündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offensichtlich - machen wir uns nichts vor! - überzeugen wir die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren Begründungen und Zielen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletzten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Akzeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung.

Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tiefen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirklich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit - und ich sage: Das muss auch so bleiben.

(Beifall bei der SPD)

In Deutschland werden Berichte über getötete und gefallene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität und mit Gleichgültigkeit aufgenommen - auch das muss so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölkerung.

Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteilnahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst einmal stolz sein.

(Beifall bei der SPD)

Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwindenden Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entscheidungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Soldaten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zurückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Soldaten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärungen im Parlament.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD - und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion - ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Einsatz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist;

(Zuruf von der LINKEN: So kennen wir Sie)

denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten waren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terroristen vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen werden zu lassen.

Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben.

(Zuruf von der LINKEN: Welche?)

Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Taliban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölkerung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie verwickeln die internationalen Truppen in einen asymmetrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Sprengfallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland - das ist wichtig, auch bei uns zu registrieren -, auch in den USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanistan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die gewünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewirken kann.

Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll, welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deutsche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Leben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zugestimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Abbruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktuellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabilisiertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutschland, erneut und zusätzlich bedrohen.

Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute unter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Nationen - wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr - weiterhin um die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens. Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteiligen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Nationen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Beschluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu einem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Einstieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanistan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstützung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung - das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor wenigen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustimmung stehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich diesem Mandat und der damit verbundenen verantwortungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemeinsame Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie verstehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit dem technokratischen Begriff ?nicht internationaler bewaffneter Konflikt? nichts anfangen können, wenn sie den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotionen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Soldaten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein Echolot öffentlicher Gefühle.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Arnold Vaatz (CDU/CSU))

Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unterschiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorhin den Begriff ?Krieg? erläutert. Ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Aufforderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz "Krieg" zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich gesagt hat. Auf die Frage "Aber warum reden dann so viele in Berlin von Krieg - bis hin zur Kanzlerin?" antwortet Herr Westerwelle:

... Krieg ist traditionell eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung. Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Da hat er recht!)

Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes "Krieg" auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird, wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterregenden Rohre schauen.

(Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der FDP)

- Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afghanistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eigenen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir Sozialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon ausgegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejenigen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur delegitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Probleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicherheit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er damit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun. Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein, ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister ?Krieg?, dass das Schwergewicht nun doch auf militärischer Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Aufbau gelegt werden soll

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

- Sie können diese Frage nachher beantworten -, oder sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre, wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF-Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffentlichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militärische Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Gegenteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht ändern, weder semantisch noch faktisch.

(Beifall bei der SPD)

Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstanden haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidigungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet, am besten die des Außenministers.

Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie gehen das Bundesverteidigungsministerium und die Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatinnen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parlaments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen.

(Elke Hoff (FDP): Jetzt erst?)

Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszuschlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde. Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat entlassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von 50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht gegenüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in einem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir ernster nehmen als bisher.

(Beifall bei der SPD)

Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem lebensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumatisiert zurückkehren.

Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vorstellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren. Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung der Lage in Afghanistan zwei Elemente:

Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systematische und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir unsere Ziele wirklich erreichen.

Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internationale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen Versöhnungsprozess vorantreiben können.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns - das sage ich nochmals - zur internationalen Verantwortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schicken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständliche Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Birgit Homburger (FDP):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen. Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Soldaten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung.

Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Einsatz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Mandat hat keine Veränderung nötig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategiewechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden.

Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Gefährlichkeit des Einsatzes gesprochen.

(Zuruf von der LINKEN: Warum eigentlich nicht früher?)

Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensiver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen.

(Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ja! Fangen Sie einmal an!)

Ich kann verstehen - ich sage das ausdrücklich auch an die Adresse von Herrn Gabriel -, dass sich unsere Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen angesichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Gefühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht, dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur Seite stehen will.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußenminister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschätzung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorgenommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen Hause im Unklaren gelassen. Damit ist nämlich eine realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizierung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Soldatinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhaltens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Einsatz schicken, schuldig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewechsel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen. Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig, dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völlige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivilen Wiederaufbaus.

Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive erkennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht, wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das, was erreicht wurde, zunichte gemacht wird und Afghanistan wieder zum Zentrum des internationalen Terrorismus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein ziviler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afghanistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden, zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlossen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird. Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen 250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 - es waren insgesamt 1 Milliarde Euro - zeigt, wie ich finde, eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle herbeigeführt wurde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der LINKEN)

Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben. Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen können und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen.

Deshalb muss die Diskussion über nötige Reformmaßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Präsident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung dieser Zusagen einfordert.

Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deutlich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönlichen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Entscheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung des Mandats durch die Regierung intensiv.

Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan engagieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerkennung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages verlassen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):



Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat: Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder Hinsicht recht hatten.

(Beifall bei der LINKEN)

Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der FDP: Da hat er recht!)

- Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grünen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutschland nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN - Hans-Michael Goldmann (FDP): Das ist nicht das Thema! - Günter Baumann (CDU/CSU): Das ist eine Zumutung!)

Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Soldaten hat.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Kommen Sie einmal mit zur Bundeswehr, Herr Gysi!)

Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd.

(Beifall bei der LINKEN)

Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine einzige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forderung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde, würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten verhindert.

(Beifall bei der LINKEN - Hans-Michael Goldmann (FDP): Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten, die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind.

(Beifall bei der LINKEN - Jörg van Essen (FDP): Die sind erwähnt worden!)

Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Soldaten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, gerade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß werden, dieses Fiasko zu beenden.

(Beifall bei der LINKEN)

Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Regelungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden. Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen, im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr.

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP))

Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, anderen Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfahren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung.

Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF-Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundeswehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Beteiligten mit sich.

Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seelischen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemängelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der Bundeswehr gebe.

(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Sie brauchen auch einen! - Widerspruch und Zurufe von der LINKEN)

- Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus, nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen. Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletzten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte abzufinden.

(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das unterstellen Sie!)

Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig, und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bundestag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 toten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ihrer gedacht hätten.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwierigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bundesregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf Sie erinnern:

Am Anfang hieß es - das war Ihre erste Begründung -, der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur neuen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen waren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Ausbildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Sudan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen, uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau.

Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den militärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung. Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt, die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgsgeschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glauben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustellen ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Armut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölkerung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO. Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent, sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit acht Jahren mit Hilfe der Bundeswehr organisieren?

(Beifall bei der LINKEN)

Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ihnen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus.

(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglichkeiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man ergo Frieden und nicht Krieg.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jährlich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären wir dort deutlich weiter.

(Beifall bei der LINKEN)

Also trifft auch diese Begründung nicht zu.

Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Taliban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe um die Herstellung einer Art demokratischer Verhältnisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie, das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet, wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin, wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir gehen?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen, in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mädchen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionellen, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demokratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung für Krieg in Afghanistan.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum, zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaffen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen Einsatz in Afghanistan.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begründung wäre.

Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Problem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegenüber den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine lassen könne etc.

Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sagen. Warum können wir hier nicht Nein sagen?

Zweitens. Kanada und die Niederlande haben beschlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie denen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie gehen nur einen anderen Weg als wir.

(Beifall bei der LINKEN)

Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat erklärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011 abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen, von Frau Will, gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigstens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was haben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie!

(Beifall bei der LINKEN - Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Hendricks (SPD))

Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen Sie endlich für den Abzug.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Gysi!

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Ich sage es ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung und viele Mitglieder des Bundestages - weit mehr als die Mitglieder unserer Fraktion - wissen: Dieser Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes zu handeln.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Kein Ordnungsruf?)

- Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe, pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu Stellung nehme.

(Zurufe von der LINKEN: Das haben wir sogar hier hinten gehört!)

Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein darauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut gemacht habe.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Das ging manchmal schon schneller! Wir sind wohl nur die falsche Fraktion!)

Volker Kauder (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Familien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteilnahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja, auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung unserer Sicherheit und Freiheit.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht, warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusammenhang mit der strategischen Lage dieses Landes. Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bundeswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungserklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was - das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen - der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundeswehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus formiert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswegen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen, dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Terroristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afghanistan.

Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ihnen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Perspektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können.

Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern schlicht und ergreifend sagen würden: ?Irgendwann, morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan ab?, dann würden wir die Menschen in großer Sorge und Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen, auf wen sie sich verlassen können und damit rechnen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie sich nicht wehren können. Wir wissen doch - davon haben Sie keinen Ton gesagt -, dass Taliban-Kämpfer nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicherheit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in unserem Land gewährleistet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deutschland ist an einer Aktion beteiligt - dies hat Herr Gabriel völlig richtig gesagt -, die von der UNO beschlossen worden ist.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind an einem Krieg beteiligt!)

Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderungen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerechtigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einziges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durchzuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlossen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das, was in der UNO beschlossen worden ist - dafür zu sorgen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht -, umzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht. Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pakistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten - wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte ich Ihnen unterstellen -, dass vom Iran eine Gefahr für die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht, wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Verhandlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen, wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. - Wenn wir sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu verhindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht verkleinert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein bisschen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im benachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungslager nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt, wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge auszuführen.

Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unterbindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und fördert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht verschwunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere Möglichkeiten bekommen, ihre "terroristischen Aufgaben" zu erfüllen, ist doch völlig klar.

Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formuliert werden, worum es geht und was die jungen Menschen als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass diese jungen Menschen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei auszubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bilden in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus, damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies gelingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afghanistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn wir das erreicht haben - wir gehen mit ganzer Kraft heran -, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit verantwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicherheitskräfte legen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser Ziel erreicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regierungskoalition zu, dass wir das, was die militärische Führung und der Bundesverteidigungsminister an Ausrüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbildung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Einsatz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei dieser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unserer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hoffen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicherheit der Menschen in unserer Heimat.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regierungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getöteten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren Angehörigen.

Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungseinsatz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müssen sie das noch tun?

Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Antwort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weitgehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fortgesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaftigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, obwohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt, das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Aufklärung kann nicht die Rede sein.

Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrieben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwerpunktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen hin ?zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung?. Wir haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat er trocken gesagt: It?s classical counterinsurgency. Also klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie ?grundsätzlich defensiv?? Es kann ja sein, dass Sie diese Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Gegenteil.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering, das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer offensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu Guttenberg - ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar 2010 -: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Partnering - auch hier zitiere ich Stanley McChrystal - ist gefährlich und mit extremen Risiken verbunden. - Das kann man heute nachlesen. Er führt weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei herumzureden. - Ja, der General hat recht, und ich hätte mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen Brei herumzureden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil Sie sich jetzt trauen, das Wort "Krieg" in den Mund zu nehmen.

Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da reingestolpert sind - Sie tun so, als ob Sie hineingestolpert sind -,

(Birgit Homburger (FDP): Wer ist da reingestolpert? Wer hat den Einsatz angefangen? Ich glaube, ich spinne!)

fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen die Gefährdung durch Sprengfallen - durch sie sind die Soldaten gestorben - vermindern wollen. Das ist einfach nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bundeskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie haben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auftrag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internationalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete. Das ist verständlich.

Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete gefunden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der anderen Seite und die Nordallianz, die schon heute in seiner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA gesuchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen internen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen.

Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befriedung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann nicht den Mut, zu sagen: ?Das ist der Preis für die Stabilisierung Afghanistans?? Warum drücken Sie sich vor diesen unangenehmen Wahrheiten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Afghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber eines weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg.

Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen, wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die USA haben das nicht vor.

Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird. Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulieren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben Anspruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort sind Sie heute schuldig geblieben.

(Elke Hoff (FDP): Das ist nicht wahr!)

Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Ressourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege, das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte genannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher gewordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Nationen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern.

Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade deshalb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evaluierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afghanistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Koalition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün. Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu lassen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus diesem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung bemühen, einen Anspruch haben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografischen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat, den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kritischen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende, polemische Bemerkungen verzichten sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Elke Hoff (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung, dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanistan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen, dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Counterinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine wesentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counterinsurgency durchführen zu können, ist natürlich die Stabilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Führer in der Nato, der bisher behauptet hätte, dies könne allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisierung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik Deutschland übernommen haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt haben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.

Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschiedlichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen - auch, wenn es sehr junge Kolleginnen sind -, dass im Deutschen Bundestag keine Plakate gezeigt werden, auf denen "Beim Bund ist alles doof" steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm abgebildet ist,

(Michael Brand (CDU/CSU): Schlimm!)

hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht.

(Michael Brand (CDU/CSU): Er soll sich entschuldigen!)

Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt gezollt wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Soldaten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in diesen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt, die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Entscheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mittragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz gewollt.

Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel, aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten, dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politisches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexität dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie. Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Gemeinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung erfüllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen, damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevölkerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam eine Mission zum Erfolg gebracht. - Dafür kämpfen wir. Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Soldaten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele das Wort.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):



Danke, Herr Präsident. - Mir liegt daran, klarzumachen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ablehnung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht, doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der, wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Gewissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müssen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff.

Elke Hoff (FDP):

Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Sehr geehrter Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist, sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida, und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen Anspruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbevölkerung in Afghanistan genauso schuldig machen, wenn wir ihr diesen Schutz verweigern.

Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Sicherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwiegende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei Dank hinter diesem Einsatz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses Thema reden.

Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat - es war die große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses -, kannte diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind, ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragender Weise tun.

Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hingewiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen, gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung geworden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fragen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehrheit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es sind.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): 70 Prozent der Bevölkerung! Alles Geisterfahrer?)

Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von 2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen - das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet worden - die Grundlage dafür gelegt, dass dieser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle bedroht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere Lebensart zu zerstören.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundeswehr hat sich auf den Weg gemacht! - Unruhe bei der CDU/CSU)

Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebensfreude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde gibt.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönliches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern. Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehemaliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat, jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzuhelfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaffnen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen Zustand gebracht wird.

Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte. Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt richtig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbündeten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen Aspekt hingewiesen hat.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Krieg hat man noch nie stabilisiert!)

Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan, sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Region. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es al-Qaida gelingen würde, Macht - sei es direkt, sei es nur indirekt - über atomare Sprengköpfe in dieser Region zu erlangen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afghanistan eine sich selbst tragende Ordnung zu schaffen, eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung, die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevölkerung versorgt wird.

Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivilen Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der internationalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch, was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance. Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bisher die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. - Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine militärische Absicherung geben. Das ist die Lage.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Unsinn!)

Die Bundesregierung hat eine klare Strategie - nicht sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mitgestaltet - zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie, die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel ?Übergabe in Verantwortung? zusammengefasst wird. Sie setzt voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet sein.

Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dankbar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Ausrüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in einer solchen Auseinandersetzung keine hundertprozentige Sicherheit geben kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung der Menschen in unserem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber die haben sie nicht!)

Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Morgen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen vorgeht.

Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff ?Krieg? und wer wo was gesagt und interpretiert hat, dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimension. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension. Aber es gibt für den Begriff ?Krieg? vor allem eine emotionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass ?Krieg? im klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten steht. Aber emotional ist ?Krieg? das Synonym für Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Beispiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu oft vorkommt: Er oder ich - wer wird überleben? In dieser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt.

Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt: ?Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt?? Ja, die Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Soldaten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen. Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem Krieg nicht allein gelassen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere Freiheit. Wir danken ihnen dafür.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ruprecht Polenz (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie, Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02 nicht wiederholen.

Wir haben in den 90er-Jahren gesehen - rückblickend hat es sich als ein Fehler herausgestellt -, dass es nach dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Terrororganisation brauchte, um die Anschläge auf das World Trade Center, auf das Pentagon und auch in anderen Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie waren auch in Hamburg!)

Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken, die wir heute zum Ausdruck gebracht haben - beginnend mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am Anfang unserer Sitzung -, machen sich doch auch die Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von 220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten und in Aserbaidschan - ich will jetzt nicht die über 40 Länder alle aufzählen - nicht zu der gleichen Einschätzung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach wie vor richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU), an die SPD gewandt: Wollt ihr nicht klatschen? - Gegenruf des Abg. Christian Lange (Backnang) (SPD): Wir nicken!)

Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhüten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den Stichwörtern ?Taliban? und ?Frauen? nachzuschauen. Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frauenorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu erleiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschriften oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Fingernägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnitten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Ruprecht Polenz (CDU/CSU):

Ja.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Muss das sein?)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt. Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das nie wieder passiert.

(Lachen bei der CDU/CSU - Jörg van Essen (FDP): Wie denn? Dann sagen Sie mal, wie Sie es machen wollen!)

Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg leiden.

Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisationen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Situation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qualen - des Geschlagenwerdens usw. - nicht ertragen. Das heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft, diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt gegenüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung gehört, zu beseitigen - auch unter dieser Regierung nicht. Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es darzustellen.

Ruprecht Polenz (CDU/CSU):

Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afghanischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlimmen Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen in die Schulen gehen können, Frauen studieren können und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land verbessert.

Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Taliban in Kabul wieder herrschen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sagen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr präzise beschrieben:

The insurgents have two primary objectives: controlling the Afghan people and breaking the coalition?s will. Their aim is to expel international forces ...

Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel.

Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schrecklichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen, gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Uta Zapf (SPD))

Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur die Assoziation ?Turban, langer Mantel, barfuß oder mit Sandalen, Kalaschnikow? haben, sondern müssen auch an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spiegel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deutschen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfolgen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen. Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die Diskussion führt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen sicherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses Bild auch in unseren Reden vermitteln.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihr Wort in Guttenbergs Ohr!)

Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der Außenminister und der Verteidigungsminister - sie alle tun es in der gleichen Weise - von kriegsähnlichen Zuständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrechtliche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll,

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völkerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen, dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso.

Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Vermengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher Einsatz nach Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich gesehen, keinen Krieg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ihnen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verantwortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan geherrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze möglichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht verzichten. Sie wissen aber sehr genau - deshalb war Ihr Vorwurf unredlich -, dass bei den Gesprächen, die Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungsprozess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die afghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll, worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Gewalt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgrenzung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess abspielen muss.

Eine letzte kurze - meine Redezeit ist gleich zu Ende - Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir sprechen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Afghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr geredet. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Drogenanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida.

Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region zubilligen.

(Beifall des Abg. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da haben Sie recht!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Ich schließe die Aussprache.

Quelle: Deutscher Bundestag: Vorläufiges Protokoll der 37. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 22. April 2010; www.bundestag.de


Zu anderen Bundestags-Sitzungen

Zur Afghanistan-Seite

Zur Sonderseite "Truppen raus aus Afghanistan"

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zurück zur Homepage