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"Wir glauben, die Errungenschaften der letzten zehn Jahren sind zu dürftig, geradezu deprimierend"

Offener Brief der "Konföderation der Afghanen im Ausland" an die Teilnehmer der "Zweiten Konferenz bei Bonn", an die UN und an die deutsche Regierung


Im Folgenden dokumentieren wir einen "Offenen Brief" von Exil-Afghanen, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern leben. Ihre Kritik an den Verhältnissen in ihrem Land, das sie teils während der sowjetischen Zeit, während der Schreckensherrschaft der Taliban, teils aber auch erst seit dem NATO-Krieg verlassen haben, hebt sich deutlich ab von den offiziellen Schönfärbereien des Karzai-Regimes oder denen der Bundesregierung. Von demselben Bündnis stammt auch ein 13-Punkte-Forderungskatalog an die Bonner Konferenz, den wir an anderer Stelle dokumentieren: Die Resolution der Protestbewegung ...".



Offener Brief an die Teilnehmer der "Zweiten Konferenz bei Bonn", an die UN und an die deutsche Regierung

Vor zehn Jahren wurde auf der Petersberger Konferenz bei Bonn eine Regierung für Afghanistan ins Leben gerufen, zu der die wirklichen Vertreter der Afghanen nicht geladen wurden. Dabei wurde das Schicksal und die Zukunft des afghanischen Volkes einer provisorischen Regierung unter Präsident Karzai überlassen. Wenn wir die Entwicklung der letzten zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban genau unter die Lupe nehmen, können wir einen großen Unterschied zwischen den Punkten, zu denen die "Weltgemeinschaft" sich verpflichtet hatte, und dem, was in der Realität geschah, feststellen. Die wichtigsten Ziele der "Weltgemeinschaft" bestanden damals darin, die durch die Taliban aufgebauten rückständigen Strukturen zu zerstören, den Terrorismus zu bekämpfen, die Führung der Al Kaida und Taliban vor Gericht zu stellen, die Opiumproduktion zu verhindern, die Waffen unter der Bevölkerung zu konfiszieren und schließlich eine neue Ordnung zu schaffen, in der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau und soziale Gerechtigkeit nach und nach realisiert würden. Dies waren die Hauptziele der ersten Bonner Konferenz. Aber was geschah in der Realität?

Es geht nicht darum, dass wir die zweifellos auch initiierten positiven Entwicklungen in Afghanistan infrage stellen. Es geht darum, eine Bilanz zu ziehen! Milliarden Gelder flossen nach Afghanistan, Tausende von Zivilisten und Sicherheitskräften verloren ihre Leben. Rechtfertigt dieser Preis das bis jetzt Erreichte? Wir glauben, die Errungenschaften der letzten zehn Jahren sind zu dürftig, geradezu deprimierend. Offensichtlich liegt der Grund dieses Misserfolgs darin, dass Afghanistan über drei Dekaden vom Bürgerkrieg heimgesucht wurde, praktisch in Schutt und Asche liegt, sich nicht auf diejenigen verlassen kann, die selbst an dieser Misere schuld waren und sind. Es stellt sich die Frage: Warum scheiterte diese Vorgehensweise?

Wir sehen zwei Hauptgründe für dieses Scheitern:
  1. Mangel an Strategie westlicher Politiker und Ineffizienz ihrer afghanischen Partner.
  2. Das Fehlen einer demokratisch legitimierten Regierung, die professionell und zielorientiert Krisen bewältigt.
Wir sind überzeugt, solange diese Fragen und die unten aufgestellten Probleme nicht beantwortet werden, werden wir auch in zehn Jahren noch da stehen, wo wir bereits jetzt sind.

Sicherheit: Die Bürger jedes Staates brauchen einen Lebensraum, in dem Sicherheit und Frieden garantiert ist. Es ist die Aufgabe des Staates, die Sicherheit im Lande herzustellen und seine Bürger zu schützen. Dieses grundlegende Ziel ist in Afghanistan bis heute nicht gelöst worden, jeden Tag werden viele Menschen Opfer entweder organisierter Kriminalität oder der Gewalt radikaler politischer Gruppierungen.

Wirtschaftssektor: Drei Dekaden Kriege und Bürgerkriege haben Afghanistan völlig zerstört und die Infrastruktur der afghanischen Wirtschaft vernichtet. Die Folgen dieser Zerstörung sind Arbeitslosigkeit, Armut, Hungersnot, Obdachlosigkeit, Korruption und Kriminalität. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind die Kehrseite dieser Medaille, die viele junge Männer zum Terrorismus verleitet. Der erste Schritt zur Überwindung dieser Misere sollte der Wiederaufbau der Infrastruktur sein: Straßen, Autobahnen, Schulen, Hochschulen usw. sind die Anfangsschritte. Nur durch solche Großprojekte kann man Arbeitsplätze schaffen und die jungen Menschen gesellschaftlich integrieren. Hat die Regierung in den letzten zehn Jahren solche Projekte realisiert? Leider nein!

Landwirtschaft und Tierhaltung: Afghanistan ist hauptsächlich abhängig von Landwirtschaft und Tierhaltung. Dieser Hauptsektor der afghanischen Wirtschaft funktioniert wie vor Tausend Jahren. Es gibt kein Zeichen von modernen Arbeitsweisen in diesem Bereich. Nach dem Sturz der Taliban wurden keine technischen Erneuerungen in der Landwirtschaft eingeführt. Die afghanischen Bauer sind immer wieder den Überschwemmungen und Dürren ausgesetzt. Millionen von Menschen leiden unter Not und Hunger. Den Angaben der internaNonalen InsNtuNonen zufolge leben über 9 Millionen Afghanen unter der Armutsgrenze. Konsequenz: Die Afghanen schenken der Regierung Karzai faktisch kein Vertrauen.

Menschenrechte: Was die Einhaltung der Menschenrechte in Afghanistan anbetrifft, hat die afghanische Regierung versagt. Die Rechte der Frauen, der Kinder, der Kriegsversehrten und Abertausender Menschen werden immer noch auf brutalste Weise mit Füßen getreten. Jährlich begehen über 3000 Frauen Selbstmord durch Selbstverbrennung; Nasen und Ohren von etlichen Frauen werden abgeschnitten oder sie werden gesteinigt. Auf der ersten Bonner Konferenz verpflichteten sich die Teilnehmer, die Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und somit der Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Aber bedauerlicherweise sehen wir das Gegenteil. Die Kriegsverbrecher bleiben nicht nur verschont, sie bekommen sogar die Möglichkeit, in höchsten Behörden Verantwortung zu übernehmen und lukrativste Posten zu erringen. Mit dieser Doppelmoral und Inkonsequenz ist die Einhaltung der Menschenrechte in Afghanistan nicht zu erreichen?

Sozialer Wohlstand: Was im Masterplan zum Wiederaufbau Afghanistans das stärkste Echo hatte, war "Wohlstand" für die afghanische Bevölkerung! Was ist daraus geworden ist? Im Laufe der letzten zehn Jahre haben sich zwei Pole in Afghanistan gebildet: eine kleine Schicht, die sich unentwegt bereichert und eine breite Bevölkerung, die tagtäglich ärmer wird. Nach den Berichten von FAO (Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation), den UN und der Weltbank leben 85% der afghanischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze; über 5 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit, in die Schule zu gehen, denn sie müssen für ihre Familien arbeiten. Von öffentlichen und sozialen Projekten wie Wasserversorgung und Stromversorgung sieht man nichts. Kein Wunder, dass jedes Jahr Tausende Afghanen versuchen, das Land zu verlassen, um einfach zu überleben. Arbeitslosigkeit, Krieg und Gewalt sind die Hauptgründe dieses Exodus. Ein weiteres Problem, das Afghanistan von innen zerfrisst, ist die Problematik der NichtsesshaPen. Über 1,5 Millionen Wandermenschen leben in Afghanistan. Obwohl die Regierung über Tausende Hektar Ländereien verfügt, gibt sie den Nichtsesshaften keine Möglichkeit, sich sesshaft zu machen. Abgesehen von den daraus resultierenden Konflikten zwischen diesen Gruppen und anderen leiden vor allem Frauen und Kinder, die ständig herumziehen müssen. Unter solchen Bedingungen werden diese Menschen nie die Möglichkeit bekommen, sich in eine zukünftige Zivilgesellschaft zu integrieren und die Möglichkeiten einer Zivilgesellschaft wie Bildung und feste Arbeit zu genießen.

Der Umgang mit den Taliban: Die afghanische Bevölkerung will Frieden und Versöhnung. Die jetzige Regierung will aber unter dem Einwand der Versöhnung und des Friedens mit den fragwürdigen Kräften wie den Taliban einen „Deal“ machen. Das widerspricht allem, was die afghanische Bevölkerung will. Trotz der anfänglichen Beschlüsse, Taliban und Al-Kaida zu isolieren, zeigt nun die Regierung diesen rückständigen Kräften grünes Licht zur Beteiligung an der Macht. Das kann nicht gut gehen! Denn sie werden der afghanischen Politik ein zweites Mal ihren menschenverachtenden Stempel aufdrücken. Und sie werden versuchen in Afghanistan archaische Verhältnisse wiederherzustellen. Diese Art von „Versöhnungspolitik“ bedeutet eine Rückkehr zur schwarzen Herrschaft der Taliban vor dem 11. September 2001.

Außenpolitik und diplomatische Beziehungen: Die afghanische Regierung und ihre internationalen Unterstützer verfügen über keine klare und transparente Politik und handeln kurzfristig und planlos. Dabei fordern wir, dass die Einmischung der Nachbarländer wie Iran und Pakistan ein Ende findet. Vor allem Pakistan spielt eine hässliche Rolle in der Region. Die pakistanische Regierung verkompliziert die afghanische politische Lage, indem sie Taliban und andere von ihr finanzierten Gruppierungen unterstützt. Die internationale Gemeinde muss Pakistan untersagen, sich in Afghanistan einzumischen. Afghanistan braucht eine aktive Außenpolitik, die dem Wettkampf von Pakistan und Iran auf dem afghanischen Boden Paroli bietet.

Die o.a. Forderungen sind keine Utopien. Sie sind realistisch und machbar. Eine demokratisch gewählte Regierung, die sich wirklich vornimmt, das Land wiederaufzubauen, kann mithilfe der Weltgemeinschaft das Land planmäßig aufbauen. Geschichtlich gesehen sehen sich die Regierungen Afghanistans nicht als Diener des Volkes, sondern als Herrscher, die sich tyrannisch alles erlauben. Die Welt hat sich verändert, und die Menschen betrachten sich nicht mehr als Untertanen, sondern als Bürger. Jede Regierung muss die Rechte der Bürger, wie das Recht auf Freiheit, Meinungsäußerung, Versammlung, Glauben usw. anerkennen und respektieren. Nur so kann Vertrauen zwischen der Bevölkerung und der Regierung aufgebaut werden und das Land Fortschritte erleben.

Wir sind afghanische Aktivisten; manche gehören den politischen Parteien und Organisationen an, manche sind privat und politisch selbstständig. Wir sehen, dass die erste Bonner Konferenz und die daraus resultierende Regierung ihre Verpflichtungen nicht erfüllt haben. Die Regierung hat sich der Korruption unterworfen und somit ihre eigene Legitimität ad absurdum geführt. Wir sind überzeugt, solange diese Strategie fortgesetzt wird, d.h., solange die Regierung ihre in der Petersberger Konferenz von 2001 formulierten Ziele nicht glaubwürdig und konsequent umsetzt, wird die zweite Bonner Konferenz eine traurige Wiederholung der Ersten sein.

Das Vorbereitungskomitee für die Protestaktion gegen die zweite Bonner Konferenz, 16. Okt. 2011


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