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Afghanistan im neuen Millennium:

Taliban, Sanktionen und eine drohende Flüchtlingskatastrophe. Von Jan Heller, Kabul

Nur ein gutes halbes Jahr ist es her, da berichtete das »Time Magazine« aus Herat als dem »Land, wo bei den Taliban Milch und Honig fließen«. »Das Geschäft boomt«, zitierte der Reporter einen einheimischen Geldwechsler, der auf dem Basar der westafghanischen Stadt die Umsätze der Händler aus dem legalen und wohl noch häufiger illegalen Importgeschäft mit dem benachbarten Iran umschlägt. Der Artikel schloß mit einer für das zerstörte mittelasiatische Land so seltenen, weil positiven Feststellung: »In Herat, ungleich zu anderen afghanischen Städten, scheint extreme Armut kein Problem zu sein.«

Inzwischen hat sich Herat rapide verändert. Die alte Hauptstadt des Timuriden-Reiches, in der die gelehrten Nachkommen Dschingis Khans im 15. Jahrhundert einst für eine anhaltende kulturelle, wissenschaftliche und architektonische Blüte unter islamischem Vorzeichen sorgten, beherbergt heute 68 000 Binnenflüchtlinge (displaced persons - DPs), die vor der seit drei Jahren anhaltenden Dürre und dem nun schon 22 Jahre währenden Krieg aus dem Landesinnern hierher geflohen sind. Allein zwischen dem 11. und dem 16. Dezember kamen 4 600 Menschen. Ernteverluste von durchschnittlich 75 Prozent und der Tod von etwa der Hälfte ihres Viehbestands ließen sie aus ihren angestammten Siedlungsgebieten fliehen. Bereits fünf der sechs Flüchtlingslager in Herat sind voll. Bis zu drei Familien - nach UN-Statistik 18 Personen - drängen sich dort notdürftig in einem Zelt. Im neuesten Camp, in Maslaq, müssen Flüchtlinge mangels Unterkünften bereits im Freien übernachten - und das bei Minusgraden. Insgesamt fehlen mindestens 2 500 Unterkünfte, heißt es bei den Vereinten Nationen. Deshalb kampieren verzweifelte Flüchtlinge bereits seit Wochen vor deren Büros und verlangen Unterstützung. Mehrmals mußten die UN-Hilfswerke bereits Verteilungaktionen abbrechen, weil ihre Mitarbeiter dabei des Lebens nicht mehr sicher sein konnten. Und weder die Nahrungsmittel noch die als dürftiges »Dach über dem Kopf« verteilten Plastikfolien reichen für alle.

Den meisten Einheimischen geht es nicht viel besser als den Binnenflüchtlingen. Eine Studie des UN-World Food Programme von Anfang Dezember belegt, daß sich im Ergebnis der Flüchtlingsbewegungen die Lage am städtischen Arbeitsmarkt binnen eines Jahres extrem verschlechtert hat. Mit 77 Prozent war der Zustrom an neuen Arbeitskräften der höchste landesweit, und bei dem mit dem verbundenen »Überangebot« sinkenden Preis für Arbeitskraft fiel der Realwert der Einkommen um 49 Prozent, ebenfalls ein Spitzenwert für Afghanistan. »Herat kann mit den zunehmenden Belastungen, die ihm durch eine verzweifelte Landbevölkerung auferlegt werden, nicht mehr Schritt halten«, faßt das UN-Koordinationsbüro für humanitäre Angelegenheiten in Afghanistan (UNOCHA) die Lage zusammen.

Am anderen Ende des Landes, im Nordosten an der Grenze zu Tadshikistan, spielt sich ein anderes afghanisches Binnen- Flüchtlingsdrama ab. Dort flohen im Herbst bis zu 100 000 Menschen vor einer neuen Angriffswelle der Taliban, die damals mit Taloqan die letzte große Stadt im Besitz ihrer Gegner eroberten. Ungefähr 10 000 von ihnen landeten auf einer Reihe von kargen, sumpfigen Inseln, die vor der Kleinstadt Emam Saheb mitten im tadshikisch-afghanischen Grenzfluß Amu-Darja liegen, bedroht von Überflutung und Krankheiten wie Durchfall, Ruhr, Typhus und Malaria. Für humanitäre Hilfe sind sie dort nur äußert schwer zu erreichen, denn in dem Gebiet mangelt es weitestgehend an Infrastruktur. Einige Gegenden sind nur in tagelangen Märschen zu Fuß oder auf Eseln zu erreichen. Zudem ist es weiterhin Kampfgebiet. Auch der einsetzende Winter hat die Gefechte noch nicht völlig erliegen lassen, die Inseln werden sporadisch mit Artillerie beschossen. Zudem sammelt Anti-Taliban- Kommandant Ahmad Schah Massud Kräfte, um möglichst bald einen Gegenangriff zu starten.

Schließlich konnte sich auch die tadshikische Regierung, trotz wiederholter Appelle der UNO, noch nicht dazu entschließen, die Grenze für die Fliehenden zu öffnen. Die Wirtschaft hielte diese Belastung nicht aus, heißt es zur Begründung in Duschanbe. Nach Auskunft des örtlichen UN- Koordinators haben auch die tadshikischen Dorfgemeinschaften, die sich ihrerseits der schlimmsten Dürre seit 70 Jahren gegenüber sehen, keine Reserven mehr, den Flüchtlingen Hilfe zu leisten. Ein paar hundert Kilometer weiter südlich hat Pakistan bereits im November den Grenzübergang Torkham am legendären Khyber-Paß geschlossen bzw. - wie es offiziell heißt - »reguliert den Flüchtlingszustrom«. In wenigen Wochen seien dort laut UNHCR 30 000 Menschen »im Zustand reiner Verzweiflung« eingetroffen.

Selbst in der afghanischen Hauptstadt Kabul ist die Lage dramatisch. Dort kampieren in den zerschossenen Wohnblocks der ehemaligen sowjetischen Botschaft noch immer 3 000 Flüchtlingsfamilien - etwa 18 000 Menschen -, argwöhnisch von Taliban-Kämpfern bewacht, denn sie kommen aus einem »unzuverlässigen« Gebiet, einer Hochburg des Taliban- Gegners Massud nördlich von Kabul. Eine Entspannung zeichnet sich weder für die Flüchtlinge noch die UNO oder die anderen Hilfsorganisationen ab. Nachdem der UN- Sicherheitsrat kurz vor Weihnachten neue Sanktionen gegen die herrschenden Taliban verhängte und diese darauf mit einem Boykott der UN-Vermittlungsbemühungen reagierten, sind die Aussichten auf Frieden weiter gesunken. Im nächsten Frühjahr und Sommer werden neue Militäroffensiven beider Kriegsparteien - der Taliban wie ihrer Gegner von der Vereinigten Islamischen Front zur Rettung Afghanistans unter Kommandant Massud erwartet. Dies wird naturgemäß zu weiteren Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und Vertreibungen führen.

Dagegen kann die UNO wenig ausrichten, zumal ihre Bemühungen von ebenjenen ihrer Mitgliedsstaaten anhaltend torpediert werden, die in jedem Jahr mit schöner Regelmäßigkeit in der Vollversammlung für eine friedliche Lösung des Afghanistan-Konflikts stimmen. Nach einem im Dezember veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorgaisation Human Rights Watch versorgt nicht nur Pakistan die Taliban mit Waffen, Munition, militärischer Beratung und Planung - sowie nach Ansicht mancher Beobachter mit als Freiwilligen getarnten Militärangehörigen -, sondern auch Massud erhält militärischen Nachschub vor allem aus Iran und Rußland, »mit sekundären Rollen« für Tadshikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgistan. Die neuen Anti-Taliban- Sanktionen, die unter anderem ein einseitiges Waffenembargo gegen die ultraislamistische Bewegung sogenannter Koranschüler beinhalten, geben diesen Ländern für Waffenlieferungen an Massud einen Freibrief. Die politische Selbstisolation der Taliban, die sich weigern, den in den USA gesuchten Islamistenchef Osama bin Laden auszuliefern - die Hauptursache für die neuen Sanktionen -, führt dazu, daß bei den Geberländern für die humanitäre Hilfe die vielzitierte »donor fatigue« (Gebermüdigkeit) weiter um sich greift.

Nach dem alljährlichen UN-Appell für humanitäre Projekte im Umfang von 220,8 Millionen US-Dollar kamen im vergangenen Jahr (bis zur bisher letzten Auswertung im September) nur 98,2 Millionen Dollar - das sind 44,5 Prozent - zusammen. Dabei sorgen überdurchschnittliche Gaben an das Welternährungsprogramm WFP - die UN-Agentur mit dem größten Finanzvolumen in Afghanistan - für einen guten Schnitt. Die Schattenseite: Zum Jahresende mußten die Projekte weniger begünstigter UN-Gliederungen wie des Drogenbekämpfungsprogramm UNDCP eingestellt werden.

Das gleiche Schicksal konnte bei der Entminung - unter anderem durch einen deutschen Zuschuß - gerade noch abgewendet werden. Hier schlagen die Sanktionen indirekt aber doch durch, auch wenn das von den treibenden Kräften dahinter in Washington und Moskau stets zurückgewiesen wird. Kurz vor ihrer Verabschiedung spracht der für Südasien zuständige US-Außenstaatssekretär Karl Inderfurth noch von »smarten Sanktionen«, »maßgeschneidert, um zu verhindern, daß dem afghanischen Volk nicht geschadet wird«. Das weisen in Afghanistan tätige große NGOs wie Oxfam und Medecins sans frontieres strikt zurück. Als sich die Geberländer für Afghanistan jüngst in Montreux trafen, äußerten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme ihre »einhellige Opposition« gegen Sanktionen, weil »sie einen weiteren destabilisierenden Einfluß auf die Wirtschaft und die Lebenshaltungskosten der einfachen Afghanen« haben werden und »zu dem profunden Gefühl in der afghanischen Öffentlichkeit beitragen, daß die internationale Gemeinschaft sich gegen sie gewendet hat und sie für die Aktionen der afghanischen Behörden (gemeint sind die Taliban - d.A.) verantwortlich hält«.

Aus: junge welt, 6. Januar 2001


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