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Im NATO-Protektorat

Bilanz und Ausblick nach der Berliner Afghanistan-Konferenz

Von Matin Baraki*

Nach zwei Konferenzen auf dem Petersberg bei Bonn Ende 2001 und 2002 berieten am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche in Berlin 65 Delegationen aus 56 Staaten zum dritten Mal zu Afghanistan. Im Zentrum standen dabei die Themen Sicherheit und Finanzen.

Waren Afghanistan im Januar 2002 in Tokio 5,25 Milliarden US-Dollar an »Wiederaufbauhilfe« zugesagt worden, so ergab sich diesmal eine Summe von 8,2 Milliarden Dollar für die kommenden drei Jahre. Dabei dürfte sich auch künftig nichts an der Praxis der Vergangenheit ändern, daß die Gelder direkt auf die Konten der Unternehmen der Geberländer fließen – durch Aufträge, die von deren Regierungen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) vergeben werden. Afghanistan ist zu einem Eldorado für die teilweise unsinnigsten Produkte der Industrieländer geworden; 99 Prozent der Waren werden importiert. Die aktuelle, von den Geberländern der Administration von Hamid Karsai zugesagte Summe fiel bedeutend geringer aus, als ursprünglich von afghanischer Seite erwartet. Diese veranschlagte für die nächsten sieben Jahre einen Bedarf von 27,5 Milliarden Dollar. Und selbst die 8,2 Milliarden werden der Kabuler Administration nicht ausgehändigt, da zu ihr niemand Vertrauen hat: Das Geld wird zunächst auf einem Konto der Weltbank geparkt, je nach Bedarf nach Kabul überwiesen und dort von NGOs verwaltet. Ein Großteil wird für deren Verwaltung sowie für Gehälter in der staatlichen Administration verausgabt. Korruption und Vetternwirtschaft sind an der Tagesordnung. Die Vereinten Nationen beschuldigen gar Minister, sich unrechtmäßig Land von afghanischen Bürgern angeeignet zu haben. Ganze Straßenzüge in Kabul gehören verschiedenen Amtsträgern. Folgerichtig taucht in der afghanischen Bevölkerung verstärkt die Frage auf, wo die Milliarden Dollar, die seit Anfang 2002 in das Land am Hindukusch geflossen sind, wohl geblieben sein könnten. Von einer Verbesserung der Lage der Menschen zumindest ist kaum etwas zu merken.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hob in seiner Ansprache auf der Konferenz die Leistung Karsais für die Stabilität und den wirtschaftlichen Aufbau Afghanistans hervor. Afghanistan ist von Stabilität jedoch so weit entfernt wie die Erde vom Mars. Terror, Raubüberfälle, Vergewaltigung und Mord sind an der Tagesordnung. Selbst in der Hauptstadt Kabul werden täglich Menschen umgebracht. In den umliegenden Orten müssen die Bewohner Nachtwachen aufstellen. Niemand traut sich, wegen der massenhaften Übergriffe zur Polizei zu gehen, um eine Anzeige zu erstatten; häufig stecken die Polizisten mit den Dieben unter einer Decke.

Auch US-Außenminister Colin Powell lobte Karsais Leistungen – aus seiner Sicht zu Recht: Selbst einfache Afghanen nennen den eingesetzten Präsidenten eine Marionette der USA. Ohne Erlaubnis oder Befehl seines Führungsoffiziers Zalmay Khalilzad, US-Botschafter in Kabul, darf er nichts entscheiden. Dafür gibt es aus Sicht der »internationalen Gemeinschaft« vor allem einen Grund: Sie gibt für ihr Militärengagement im geostrategisch wichtigsten Land der Region jährlich zwölf Milliarden US-Dollar aus. Dementsprechend wird die NATO so lange in Afghanistan bleiben, »bis wir unseren Job erledigt haben«, wie NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer betonte. Das dürfte eher eine unendliche Geschichte werden. Karsai braucht die NATO zu seinem Schutz, da er in der Bevölkerung keinen Rückhalt und sogar in seiner eigenen Administration viele Gegner hat. Bis heute wurden drei Minister seiner Regierung auf Veranlassung anderer Minister oder hochrangiger Militärs umgebracht. Auch Karsai selbst entging diesem Schicksal in seinem Heimatort nur knapp.

Die äußerst prekäre Sicherheits- und Menschenrechtssituation, die die einfachen afghanischen Menschen betrifft, spielte auf der Berliner Konferenz keine nennenswerte Rolle. Die nationale Armee mit ihren 7000 Soldaten ist nicht einmal in der Lage, die Stadt Kabul zu sichern. Die Polizei, von deutschen Spezialisten ausgebildet und von der BRD ausgerüstet, setzt sich größtenteils aus Räubern und Kriminellen zusammen. Manche sind ehemalige Mudschahedin, an deren Händen auch Blut klebt.

Von Drogenanbau, Drogenhandel und Drogenbekämpfung war dagegen auf der Konferenz viel die Rede. Aber wer soll wen bekämpfen? Afghanistan ist schon seit Jahren ein »Drogenmafiastaat«, wie der Kabuler Finanzminister und US-Bürger Mohammad Aschraf Ghani festgestellt hat. Will man das Problem tatsächlich anpacken, müßte zunächst innerhalb der Karsai-Administration aufgeräumt werden.

Von der großspurig angekündigten Entwicklungsbilanz der vergangenen Jahre in Afghanistan wurde in Berlin indes wenig bekannt. Wer sich jedoch die Eckpfeiler der Politik in Afghanistan genauer ansieht, muß ein Versagen der Kabuler Administration, einschließlich ihrer internationalen Mentoren, konstatieren. Die so oft beschworene »Demokratisierung« sowie die »Staatenbildung« lassen auf allen Ebenen auf sich warten. Die angekündigten »Reformen« im Verteidigungsministerium, die der Vielvölkerstaatlichkeit des Landes Rechnung tragen sollten, wurden vom tadschikischen Verteidigungsminister und selbsternannten Marschall, Mohammad Qasim Fahim, bislang torpediert. Das Demobilisierungsprogramm für 100 000 private Milizionäre der Warlords, das von Japan verantwortet wird, wurde mehrfach verschoben.

Trotzdem bezeichnete Schröder ebenso wie weitere Redner Afghanistan als »Modell« für das gemeinsame Vorgehen der internationalen Gemeinschaft. Tatsächlich ist Afghanistan ein Modell der Rekolonialisierung des Südens im 21. Jahrhundert. Ob es uns Afghanen gefällt oder nicht: Unser Land wird mittelfristig ein Protektorat der NATO-Länder bleiben, unabhängig davon, welcher Euro- oder US-Afghane uns formal regiert und welche Regierungsform das Land auch haben wird.

* Dr. Matin Baraki, Marburg, Politikwissenschaftler; Lehrbeauftragter u.a. an der Universität Kassel; referierte verschiedentlich auf den "Friedensratschlägen".
Der vorliegende Beitrag erschien am 5. April 2004 in der "jungen Welt".



Weitere Beiträge zur Berliner Konferenz:
Kollekte für Afghanistan - War's das?
Ergebnisse der Berliner Konferenz im Spiegel der Medien - Kommentare (3. April 2004)
Berliner Erklärung
Im Wortlaut: Abschlusserklärung der Internationalen Afghanistan-Konferenz 2004 in Berlin (2. April 2004)
The Berlin Declaration on Counter-Narcotics / Berliner Erklärung zur Drogenbekämpfung (englisch)
Within the Framework of the Kabul Good Neighbourly Relations Declaration (2. April 2004)




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