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Mogelpackung der Bundesregierung

450 Millionen Euro pro Jahr für die Besatzung Afghanistans / Zivile Aufbauhilfe kümmerlich

Von Christian Klemm *

Die Friedensbewegung demonstriert heute in Stuttgart und Berlin unter dem Motto »Dem Frieden eine Chance, Truppen raus aus Afghanistan« gegen die Verlängerung des Bundeswehrmandates für die internationale Afghanistan-Schutztruppe ISAF.

Anfang Oktober geht die Besatzung Afghanistans in ihr achtes Jahr. Das Land konnte von den kriegführenden Staaten in sieben Jahren weder demokratisiert werden, noch brachte die Intervention Stabilität und Menschenrechte. Vielmehr eskaliert die Lage mehr und mehr. Der Zwischenfall an einem Kontrollpunkt bei Kundus, wo Bundeswehrsoldaten Ende August eine Frau und zwei Kinder erschossen, ist der vorläufige traurige Höhepunkt des deutschen Einsatzes am Hindukusch.

Um diese Eskalation zu beenden, fordert die deutsche Friedensbewegung den vollständigen Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan. Denn Militär verschlimmere die Lage nur und trage nicht zur Befriedung des durch jahrzehntelange Kriege gebeutelten Staates bei. Am heutigen Samstag demonstrieren Friedensaktivisten aus allen Teilen der Bundesrepublik auf zwei Großdemonstrationen in Berlin und Stuttgart gegen die Verlängerung des ISAF-Mandats. Dieses wird voraussichtlich im Oktober ein weiteres Mal verlängert. Eine Erhöhung der Truppenstärke von 3500 auf 4500 Soldaten gilt breits als ausgemacht. Dass es dabei bleibt - nicht.

Reiner Braun, Sprecher der Kooperation für den Frieden, macht Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) für »Willkür, Zerstörung und täglichen Tod« in Afghanistan mitverantwortlich. Der angeblich »zivil-militärische« Einsatz der bundesdeutschen ISAF-Soldaten sei »eine Mogelpackung«, denn die Militärs seien bei dieser Mission »federführend«, der zivile Aufbau dagegen »real nicht vorhanden«. Aufgrund der zivilen Opferzahlen und der steigenden Zahl toter Besatzer zieht Reiner Braun einen Vergleich zum US-amerikanischen Angriffskrieg gegen Vietnam in den sechziger und siebziger Jahren. Außerdem befürchtet er eine Ausweitung des Krieges auf Pakistan, das an Afghanistan grenzt und insgeheim Widerstandskämpfer unterstützt.

Obwohl die Bundesregierung die zivile Aufbauhilfe zu ihrem Schwerpunkt in Afghanistan erklärte, wird für den Krieg ein Vielfaches der Mittel ausgegeben, die für den zivilen Wiederaufbau zur Verfügung stehen, heißt es in dem Demonstrationsaufruf. Ein »entwicklungspolitischer Skandal«, wie Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, meint. Nach Zahlen des Kasseler Politikwissenschaftlers betragen die Ausgaben der Bundesregierung für den Militäreinsatz 450 Millionen Euro pro Jahr; der zivile Aufbau dagegen wird nur mit etwa 140 Millionen Euro jährlich unterstützt. Für das kommende Jahr erwartet Strutynski, dass die Bundesregierung die Finanzmittel für Afghanistan weiter aufstockt. Zusätzlich 100 Millionen für Kriegsmaterial und 30 Millionen für zivile Aufbauprojekte stehen bisher im Raum.

Auch international regt sich Protest gegen den Krieg. In Frankreich, Belgien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Italien mobilisieren Aktivisten, um ihre Forderung nach einem Abzug der Besatzungstruppen auf die Straße zu tragen. Man habe eine neue Stufe der internationalen Vernetzung erreicht, so der Tenor in der deutschen Friedensbewegung. Diese Vernetzung spiegelt sich nach Auffassung von Jutta Kausch von der Initiative »Künstlerinnen und Künstler gegen Krieg« auch bei den Rednern in Berlin und Stuttgart wieder. Neben Madea Benjamin, Direktorin der Hilfsorganisation »Global Exchange«, und Iver Jean Gallas, Vorstandsmitglied des französischen Netzwerkes »mouvement de la paix«, wird auch die Tochter des kubanisch-argentinischen Revolutionärs Ernesto »Che« Guevara, Aleida Guevara March, in Berlin ihre Ablehnung der Kriegsmission zum Ausdruck bringen. In Stuttgart ist neben der afghanischen Frauenrechtlerin Zoya auch Chris Capps von der US-amerikanischen Organisation »Veterans Against the War« als Redner angekündigt.

Im Bundestag stellt sich einzig die Linkspartei gegen den Krieg und ruft ihre Mitglieder dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen. Christine Buchholz, Mitglied im Geschäftsführenden Parteivorstand, erklärte vor der Demonstration: »Die LINKE fordert einen Bruch mit der bisherigen Afghanistanpolitik. (...) Die Bundestagsfraktion der LINKEN wird geschlossen gegen den Bundeswehreinsatz stimmen.«

Informationen gibt es im Internet unter: www.afghanistandemo.de

Zahlen und Fakten

Von 2002 bis 2006 gaben die kriegführenden NATO-Staaten in Afghanistan nach einer Studie der Informationsstelle Militarisierung (IMI) etwa 82 Milliarden US-Dollar aus. In die Entwicklungshilfe wurden dagegen nur rund sieben Milliarden investiert. Die finanzielle Hilfe der NATO-Mitgliedstaaten für Gesundheit und Ernährung lag bei 433 Millionen US-Dollar.

Der Invasion am Hindukusch fielen von Oktober bis Dezember 2001 rund 20 000 Menschen zum Opfer. Seit Beginn dieses Jahres wurden laut UNO insgesamt 1445 Zivilisten in Afghanistan Opfer von Gewalt. Dies seien 39 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Allein im August starben 330 Zivilisten. Das sei die höchste Zahl in einem Monat seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001.

War die Akzeptanz der ausländischen Soldaten in der afghanischen Bevölkerung zu Beginn des Konfliktes noch relativ hoch, fiel sie besonders nach 2005 deutlich ab. Die Angriffe gegen die Besatzungstruppen nahmen deutlich zu. Wurden 2005 27 Selbstmordattentate, 783 Straßenbomben und 1588 Direktangriffe gezählt, waren es im folgenden Jahr bereits 139 Selbstmordanschläge, 1677 Straßenbomben und 1588 direkte Angriffe auf ausländische Soldaten.

Die Forderung der NATO nach einer Ausweitung des Afghanistan-Krieges lehnt eine Mehrheit der Bundesbürger ab. Wie der »ARD-DeutschlandTrend« am 7. Februar dieses Jahres bekannt gab, sprechen sich 86 Prozent der Deutschen gegen eine Kriegsbeteiligung der Bundeswehr in dem zentralasiatischen Land aus. Lediglich 13 Prozent sind der Ansicht, dass die Bundeswehr -- ebenso wie die Truppen anderer Staaten -- sich auch an Kampfeinsätzen beteiligen sollen. 55 Prozent der Bürger plädieren dafür, die Soldaten möglichst schnell aus Afghanistan abzuziehen. ckl



* Aus: Neues Deutschland, 20. September 2008


"Militär ist keine Lösung"

Aktivist fordert Alternativen für Afghanistan **

Herr Strutynski, was antworten Sie fortschrittlichen Kräften in Afghanistan - wie etwa einer Frauenrechtlerin -, die die internationale Gemeinschaft bitten: Überlasst uns nicht wieder den Taliban und Warlords?

Afghanistan hat ein grundsätzlicheres Problem. Taliban und andere Aufständische kontrollieren rund 60 Prozent des Landes. Die restlichen Regionen werden von Warlords, Drogenbaronen und kriminellen Kräften beherrscht. Sie alle eint ein relativ rückschrittlicher Islam. Diese Probleme kann das Militär nicht lösen.

Löst ein Abzug der internationalen Schutztruppe Isaf die Probleme?

Es gibt viele Hilfsorganisationen in Afghanistan, die dort gute Arbeit leisten. Die meisten sagen: Der Aufbau des Landes kann dort am besten geleistet werden, wo die fremde Besatzungsmacht nicht ist. Denn in dem Moment, in dem die Hilfskräfte zu sehr mit der Besatzungsmacht identifiziert werden, geraten sie ins Visier der Widerstandskräfte oder Kriminellen. Afghanistan wird also nicht zur Ruhe kommen, solange die Besatzer da sind.

Die Lage in Afghanistan wird immer instabiler. Würde ein Isaf-Abzug diese Situation nicht verschärfen?

Es herrscht bereits das Chaos. Wenn Sie sich die tägliche Zahl von Attentaten und Zwischenfällen anschauen, dann wird deutlich, wie rechtlos das Land bereits ist. Die Macht der Zentralregierung endet doch an der Stadtgrenze Kabuls. Es wird also nicht erst gestorben, wenn die Besatzer abziehen.


Zur Person:
Peter Strutynski ist Mitorganisator der Demonstrationen in Berlin und Stuttgart, wo Tausende gegen den Krieg in Afghanistan auf die Straße gehen.
Zu den Kundgebungen haben bundesweit 250 Friedensinitiativen aufgerufen. Der 63-Jährige ist Politikwissenschaftler an der Uni Kassel.



Wird es nach dem Abzug nicht schlimmer - wie nach dem Abzug der sowjetischen Truppen?

Das wird man vorher nicht wissen. Es kann, muss aber nicht sein. Die ausländische Besatzung ist nun einmal der Grund für immer neue Unruhen. Bis jetzt wird jedenfalls die Zahl der Soldaten jedes Jahr erhöht. Gleichzeitig erhöht sich die Zahl der Attentate.

Viele - auch Hilfsorganisationen - fordern einen Strategiewechsel, um den Aufbau zu intensivieren und erste Erfolge zu sichern. Was sagen Sie dazu?

Wir fordern ebenfalls einen Strategiewechsel - allerdings einen grundlegenden. Dabei muss eine militärische Antwort durch eine zivile ersetzt werden.

Wie stellen Sie sicher, dass das Pflänzchen eines demokratischen Staates nach dem Isaf-Abzug nicht zertreten wird?

Das zarte Pflänzchen gibt es doch gar nicht. Das Parlament in Kabul besteht zu einem Drittel aus Dschihadisten. Die Übrigen sind beherrscht von Warlords, Stammesfürsten und Drogenhändlern. Außerdem haben wir es mit einer durch und durch korrupten Elite zu tun - das geht bis in die Spitze der Regierung. Das alles zeigt: Man kann einem fremden Land mit militärischen Mitteln weder Menschenrechte noch Demokratie von außen bringen.

Interview: Andreas Schwarzkopf

** Aus: Frankfurter Rundschau, 20. September 2008


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