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Machtprobe mit Mursi

Rücknahme der Selbstermächtigung oder Rücktritt des Präsidenten: Hunderttausende Ägypter gehen gegen den neuen Staatschef auf die Straßen

Von Karin Leukefeld *

Die Bilder aus Kairo und anderen Städten Ägyptens erinnern an die »Tage der Revolution« im Januar 2011. Damals gingen Hunderttausende Ägypter gegen den langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak auf die Straße und erzwangen schließlich seinen Rücktritt. Seit Tagen demonstrieren nun erneut Hunderttausende, dieses Mal gegen den neuen Staatschef Mohammed Mursi. Der hat den Zorn großer Teile der ägyptischen Gesellschaft auf sich gezogen, weil er am vergangenen Donnerstag seine Machtbefugnisse eigenmächtig ausgeweitet hatte. Bis zur Wahl eines neuen Parlaments und der Verabschiedung einer neuen Verfassung hat Mursi sich per Dekret gegenüber der Kontrolle der Justiz des Landes quasi immun erklärt.

Bis zu 300000 Menschen forderten am Dienstag abend auf dem Tahrir-Platz und den angrenzenden Straßen in Kairo den Rücktritt Mursis, sollte er nicht die Verfassungserklärung über seine Selbstermächtigung rückgängig machen. Die Demonstranten beschimpften den Präsidenten als »Diktator«, Transparente und Parolen gaben Mursi den Titel früherer ägyptischer Herrscher: »Pharao«. Vor der nahe gelegenen US-Botschaft kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Ein Passant starb, als die Polizei massiv Tränengas einsetzte. Eine zur Unterstützung von Mursi angekündigte Kundgebung der Muslimbruderschaft wurde abgesagt, »um die Spannung zu entschärfen«, wie es hieß.

Karin Leukefeld

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Was habt ihr dem arabischen Frühling in Libyen und Syrien angetan!?
Hier geht es zum Programm des Kongresses



In Alexandria, Suez, Minja und Assiut sowie in der Industriestadt Mahalla Al-Kubra kam es am Montag und Dienstag zu wütenden Protesten und teilweise gewaltsamen Angriffen auf die Büros der Muslimbruderschaft. In Mahalla versuchten deren Mitglieder, die aufgebrachten Mursi-Gegner mit einer Menschenkette zu stoppen. Ägyptische Medien berichteten von 300 Verletzten. Die Muslimbruderschaft habe schließlich den Beistand des Militärs angefordert, um ihre Büros zu schützen.

Für scharfen Protest aus Kreisen der Muslimbruderschaft sorgte derweil eine Äußerung von Oppositionsführer Mohamed ElBaradei gegenüber dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel. Auf die Frage, warum so viele liberale Kräfte sich aus der verfassungsgebenden Versammlung zurückgezogen hätten, antwortete ElBaradei, daß es aus Protest gegen eine voraussichtlich »sehr islamistische Verfassung« geschehen sei. Unter denjenigen, die in der Versammlung verblieben seien, seien solche, »die Musik verbieten wollen (…) und andere, die den Holocaust leugnen und wieder andere, die offen die Demokratie ablehnen.« ElBaradei erntete daraufhin Spott und Kritik in sozialen Netzwerken, die islamistischen Gruppen und der Muslimbruderschaft nahe stehen.

Ob die zahlreichen Oppositionsgruppen, die sich in den vergangenen Monaten nicht auf ein gemeinsames Vorgehen hatten einigen könnten, angesichts der massenhaften Proteste enger zusammenrücken werden, muß sich noch zeigen. Tausende Anwälte demonstrierten in Kairo gegen Mursi, die Richtervereinigung hatte bereits am Wochenende in Alexandria einen Streik ausgerufen. Mursis Fehler habe die Leute wachgerüttelt, sagte ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz. Der Muslimbruderschaft warf er vor, »die Revolution gekapert« zu haben. Auf einem Protestbanner hieß es: »Die Bruderschaft hat das Land gestohlen.«

In der Millionenmetropole Kairo herrschte nach Korrespondentenangaben am Dienstag ungewöhnlich wenig Verkehr. Viele Geschäfte und Behörden blieben geschlossen. Die Polizei kontrollierte auf dem Weg ins Stadtzentrum Autos und Ausweise. Offenbar wurde aber niemand daran gehindert, auf den Tahrir-Platz zu dem Protestlager zu gelangen. Für den morgigen Freitag hat die Opposition zu weiteren Massenprotesten aufgerufen.

Präsident Mursi zeigt derweil keine Bereitschaft zum Einlenken. Das machte sein Amtschef Mohammed Refaa Al-Tahtawi in einem Interview am Dienstag deutlich. Dem Satellitensender Al-Hayat sagte er, es gebe »kein Zurück«. Er wolle nicht drohen, doch sei der Präsident »auf jede Eskalation vorbereitet«. Die Unterstützer Mursis seien bei weitem mehr, als die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, so Tahtawi weiter. Der Präsident unterstütze die freie Meinungsäußerung, doch man werde es nicht zulassen, wenn jemand »Unruhe stiften« wolle. Mursi wolle mit seinem Schritt nur sicherstellen, daß die neue Verfassung so schnell wie möglich fertiggestellt werden könne. Die Ägypter sollten dann in einem Referendum darüber entscheiden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 29. November 2012

Hintergrund: Islamisches Reich

Die Türkei, Katar und Saudi-Arabien sind in den Ländern des »Arabischen Frühlings« bisher als Sieger hervorgegangen. Mit Hilfe des Westens haben sie die Muslimbruderschaft an die Macht gebracht und ihr als Unterstützer und Bedrohung zugleich die Salafisten an die Seite gestellt. Säkulare, liberale und sozialistische Kräfte haben Mühe, von dem »islamistischen Tsunami« nicht davon gespült zu werden.

Jahrelang hatte der Westen – in braver Gefolgschaft Israels – vor einem »schiitischen Halbmond« in der Region gewarnt. Darauf basiert die aggressive Politik gegenüber dem Iran. Eine Politik, die Hunderttausende das Leben kostete. Hisbollah im Libanon, Damaskus, Bagdad und Teheran stellten die Sicherheit Israels in Frage, so der obzessive Grundgedanke westlicher Politik. Klarer formulieren es die reaktionären Königshäuser am Golf und die AKP-Regierung in der Türkei, die den Iran und seine Verbündeten als Widersacher im Wettstreit um die sunnitische Vormachtstellung in der Region bekämpfen.

Heute sehen sich die Warner im Westen und Israel nicht nur mit einem »schiitischen Halbmond« konfrontiert, vor ihnen sind gleich zwei »sunnitische Mondhälften« aufgestiegen. Die eine erstreckt sich von Doha, Riad, über Kairo bis nach Tunis und Rabat, die andere reicht von den Golfmonarchien über Kairo, Gaza, Amman, Damaskus (möchte gern) bis nach Istanbul.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hat der ägyptische Präsident Mohammed Mursi sich per Dekret über die Verfassung erhoben, womit er zwar Hunderttausende Ägypter vor den Kopf stößt, die entscheidenden Stützen seiner Macht aber hinter sich weiß. Die Selbstermächtigung Mursis und sein Schulterzucken gegenüber den Demonstranten machen deutlich, daß es nach den emanzipatorischen Aufständen im vergangenen Jahr nicht um Demokratie und Menschenrechte, nicht um wirtschaftliche Teilhabe und nicht um die Gleichberechtigung für Frauen und Männer geht. Es geht um die Wiedererrichtung eines Islamischen Reichs unter der Führung der Muslimbruderschaften. Vielleicht mehr, auf keinen Fall weniger. (kl)




Revolution enttäuscht Ägypterinnen

Islamisten streben neues Scheidungs- und Sorgerecht an. Frauen nach Sturz Mubaraks aus Führungspositionen verdrängt **

Während der Revolution standen Ägyptens Frauen im Kampf um Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit mit den Männern an vorderster Front. Doch die Hoffnungen, der Aufstand werde sie zu gleichberechtigten Akteuren des Wandels machen, hat sich nicht erfüllt. Heute sind die Frauen des nordafrikanischen Landes noch schlechter dran als unter dem gestürtzten Diktator Hosni Mubarak.

»Nach der Revolution gingen die ägyptische Gesellschaft und vor allem die Islamisten gegen die Frauenrechte vor«, sagt Azza Kamel, eine bekannte Aktivistin. »Sie begannen damit, die Rechte zu stutzen, die sich die Frauen lange vor der Revolution erkämpft hatten. Sie streben ein neues Scheidungs- und Sorgerecht an und setzen sich für die weibliche Genitalverstümmlung und eine Herabsetzung des Heiratsalters von 18 auf neun Jahre ein.«

Wie Kamel kritisiert, sind Frauen seit dem Sturz Mubaraks fast vollständig aus den Führungs- und Entscheidungspositionen verschwunden. Der Ausschuß der Weisen, ein während des Volksaufstands gebildetes Beratergremium, besteht aus 29 Männern und nur einer Frau. Es wurden zudem keine Frauen zu Gouverneurinnen ernannt, auch der Staatsrat blieb männlich. Und in allen Post-Mubarak-Institutionen sind Frauen nur schwach vertreten. »Wir hatten mehr erwartet«, meinte Kamel. »Ohne Gleichheit kann es keine Demokratie geben, dennoch sind Frauen in allen Bereichen außen vor.«

Ägypterinnen sind seit 1956 wahlberechtigt – 15 Jahre vor den Schweizerinnen. Doch im politischen Leben sind sie unterrepräsentiert. Die ersten freien und fairen Parlamentswahlen brachten den Frauen weitere Rückschläge. Sie konnten in dem inzwischen wieder aufgelösten Unterhaus gerade einmal acht der 508 Sitze ergattern. 2010 waren es dank einer Frauenquote mehr als 60 Sitze gewesen.

Die politischen Parteien, die nach dem Sturz Mubaraks 2011 gegründet worden waren, begrüßten zwar Frauen in ihren Reihen, doch als der Wahltermin näher rückte, taten sie sich schwer damit, weibliche Kandidaten aufzustellen. Die Wahlgesetze verlangen allen politischen Kräften des Landes ab, mindestens eine Parlamentskandidatin ins Rennen zu schicken. Doch selbst liberale Parteien plazierten die Frauen möglichst auf die hinteren Listenplätze, wodurch sich ihre Chancen schmälerten, gewählt zu werden.

Kamel wirft den politischen Parteien und vor allem der Muslimbruderschaft vor, Unterstützung für die Frauen zu heucheln, um sich auf diese Weise die Präsenz von Frauen an öffentlichen Veranstaltungen und an den Wahlurnen zu sichern. Viele Frauen hatten den Rückschlag kommen sehen, als Präsident Mohammed Mursi sein angekündigtes Versprechen brach, eine Frau zu seiner Stellvertreterin zu machen. Der ehemalige Chef der Muslimbruderschaft hat sich zudem mit einem fast ausschließlich männlichen Beratertroß umgeben. Die einzigen beiden Frauen in seinem Kabinett sind Überbleibsel der vorangegangenen Regierung.

Für noch beunruhigender hält Kamel den Vorstoß der von muslimischen Männern dominierten verfassunggebenden Versammlung, Regelungen in das Grundgesetz aufzunehmen, die die Rechte von Frauen unterlaufen. Zudem versuchen die vielen in der Versammlung reichlich vertretenen Islamisten, der ägyptischen Gesellschaft ihre konservativen religiösen Werte aufzupfropfen. Viele der liberalen und weltlichen Mitglieder haben aus Protest das Gremium verlassen.

Besonders strittig ist Artikel 68 des Verfassungsentwurfes, in dem es heißt, daß Frauen Männern im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben gleichgestellt sind, solange diese Gleichheit nicht den Gesetzen der Scharia, dem islamischen Recht, zuwiderläuft. Nehad Abu Komsan vom Ägyptischen Zentrum für Frauenrechte (ECWR) zufolge wurde die Scharia schon oft benutzt, um Frauen in ihren Freiheiten einzuschränken. Frauenrechte an undefinierte Bestimmungen des islamischen Rechts zu koppeln, werde radikalen und frauenfeindlichen Interpretationen Tür und Tore öffnen, warnt sie. »Die Scharia läßt sich unterschiedlich interpretieren«, so Abu Komsan. »Saudi-Arabien nimmt in seiner Verfassung Bezug auf die Scharia und verbietet den Frauen das Autofahren. Pakistan bezieht sich in seiner Verfassung auf die Scharia und hatte eine Frau als Premierministerin.«Cam McGrath (IPS)

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 29. November 2012


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