Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die einen dürfen nicht, die anderen können nicht"

Ein Blick auf Friedensforschung und Friedensbewegung

Von Peter Strutynski *

Obwohl es zur guten Gewohnheit geworden ist, dass die Friedensratschläge mit einer welt-, kriegs- und friedenspolitischen Rundumbewertung eingeleitet werden, will ich heute von dieser Praxis abweichen. Nicht weil mich die Weltpolitik und die diversen Bedrohungen nicht interessieren würden, sondern weil ich erstens angesichts unseres Programms weiß, dass fast alles, was in dem Zusammenhang von Bedeutung ist, im Laufe des Kongresses auch zur Sprache kommen wird, und weil ich zweitens selbstverständlich auf den außen- und sicherheitspolitischen Sachverstand der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vertrauen kann. Ich verspreche euch, kein Wort zu Wikileaks zu verlieren – auch wenn es schwer fällt.

Ich will mich in meiner Einleitung auf zwei Themen konzentrieren, die unserer verstärkten Aufmerksamkeit bedürfen: Als jemand, der mehrere Jahre sich in der Zunft der Friedenswissenschaft getummelt hat und auch nach dem formalen Ausscheiden aus dem Hochschuldienst nicht davon lassen kann, möchte ich ein paar Schlaglichter auf den Zustand der deutschen Friedensforschung werfen – wohl wissend, dass ich hier sehr selektiv und sehr subjektiv verfahre. Und als jahrzehntelanger aktiver Mitstreiter in der Friedensbewegung – mein zweites Standbein sozusagen (deswegen stehe ich hier auch so gut) – komme ich gar nicht umhin, über das defizitäre Erscheinungsbild und die dahinter liegenden Probleme der Friedensbewegung ein paar Gedanken zu äußern. Bei beiden Themen geht es weder darum, etwas in Bausch und Bogen zu verdammen, noch schönzureden.

Dieter Senghaas, der Nestor der deutschen Friedensforschung, hat soeben einen Rückblick auf 50 Jahre Friedensforschung veröffentlicht. Sein Aufsatz befindet sich im aktuellen Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik, wovon wir eine größere Anzahl von Exemplaren zur Verfügung gestellt bekommen haben. (Ein Dankeschön an den Verlag!) Senghaas schildert die Entwicklung der Friedensforschung in ihrer jeweiligen Abhängigkeit von den wechselnden weltpolitischen Konstellationen. Die ersten Ansätze der Friedensforschung waren vor dem Hintergrund der Ost-West-Konfrontation und der atomaren Bedrohung sehr stark auf beiderseitige Abrüstung sowie auf Schritte zur Entspannung konzentriert. In der politischen Realität des Kalten Kriegs mündete dies in einer forcierten Rüstungskontrollpolitik (die keine Abrüstung war, sondern nur Rüstungsobergrenzen vereinbarte) sowie in einen fast 20-jährigen Prozess der Annäherung und Vertrauensbildung im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Für die Friedensforschung bedeutete dies eine zunehmende Distanz zur und Kritik an der politischen Macht, die auch nach den beiden Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhundert wieder oder immer noch in militärischen Kategorien dachte. Der Friedensforschung ging es nicht nur darum, einem Zustand des Nicht-Krieges das Wort zu reden, sondern schon sehr früh wurde diesem „negativen Friedensbegriff“ ein „positiver“ Begriff von Frieden gegenüber gestellt – und zwar als eine ständige Aufgabe – um mit Dieter S. Lutz zu sprechen - der „Überwindung von Gewalt und des Aufbaus gewaltfreier Strukturen“. Johan Galtung – wieder so ein großer Name aus der internationalen Friedensforschung – hatte vielleicht als erster den Begriff des positiven Friedens mit der Beseitigung von struktureller Gewalt in Verbindung gebracht und dieses Postulat auch auf das Verhältnis zur Dritten Welt ausgedehnt und somit aus seiner eurozentristischen Beschränkung befreit. Es ist eine Freude zu sehen, wie sich die Pioniere der Friedensforschung, neben Senghaas und Galtung wären hier unbedingt noch Ernst-Otto Czempiel, Egbert Jahn, Fritz Vilmar, Gerd Krell oder Ekkehart Krippendorff zu nennen, in den späten 60er und während der 70er Jahre in den zahlreich erschienen Veröffentlichungen des Suhrkamp-Verlags zu diesen Fragen theoretisch äußerten und wie in dieser Zeit die Friedensforschung auch ihre ersten institutionellen Absicherungen im westdeutschen Wissenschaftsbetrieb erhielt. Andere Länder waren hier schon vorangegangen. Eines der bis heute berühmtesten Friedensforschungsinstitute, das SIPRI in Stockholm, war 1966 von Alva und Gunnar Myrdal gegründet worden.

Aber erst der enorme Aufbruch der Friedensbewegung in den frühen 80er Jahren hat der Friedensforschung an den Universitäten den Rücken dafür gestärkt, sich aus der herrschenden Logik der Sicherheitspolitik ganz zu verabschieden, die ja darin bestanden hatte, den status quo der gegenseitigen atomaren Abschreckung zu konservieren, weil die Alternative dazu im Undenkbaren, nämlich im atomaren Untergang der Menschheit gelegen hätte. Der sehr nützliche Beitrag der Friedensforschung bestand in dieser Zeit sowohl darin, der wissbegierigen Friedensbewegung und darüber hinaus der denkenden Öffentlichkeit Fakten und Argumente gegen die Stationierung neuer Atomwaffen in Mitteleuropa zu liefern und zugleich die letzten Endes selbstmörderische Abschreckungsdoktrin grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Kampf gegen die Raketenstationierung zeitigte wohl die bisher engste Zusammenarbeit von Friedenswissenschaft und Friedensbewegung. Die Forscher/innen und Forscher veröffentlichten nicht nur ihre auflagenstarken Expertisen – ich nenne von den Autoren nur Karlheinz Koppe, Jürgen Scheffran, Herbert Wulf, Jürgen Krysmanski, Peter Lock und nicht zuletzt den vor genau einem Jahr verstorbenen Jörg Huffschmid. Nein, sie gingen auch mit auf die Straße oder in den Bonner Hofgarten, wo sich damals mehrmals Hunderttausende gegen die Aufrüstungspolitik der USA und der NATO versammelten.

Die Zeit nach dem Ende der Blockkonfrontation in Europa (ich betone das „in Europa“, weil blockkonfrontative Strukturen etwa in Ostasien weiter existieren) war von einer kurzen Hoffnungsphase geprägt, die sich in dem Begriff der „Friedensdividende“ niederschlug. Gemeint war damit die Erwartung, dass nach dem Ende des staatlich organisierten Sozialismus in Mittel- und Osteuropa und nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags die Menschheit die Früchte einer nun einsetzenden Abrüstungswelle einsammeln könne. Dies geschah leider nur sehr beschränkt – immerhin wurden die weltweiten Rüstungsausgaben zu Beginn der 90er Jahre um mehr als ein 25 Prozent gesenkt – und der Segen war nur von kurzer Dauer. Die Welt der Bipolarität wurde abgelöst von einer Welt mit einer einzigen Weltmacht auf der einen Seite und einer Vielzahl von neu entstehenden gewaltträchtigen Konflikten auf der anderen Seite. Innerhalb von nur zehn Jahren hatten die Rüstungsausgaben wieder das Niveau der Hochzeit des Kalten Kriegs erreicht und neuerdings erreichen die Ausgaben für Militär und Rüstung Jahr für Jahr neue Rekorde.

Die mittlerweile sehr etablierte Friedensforschung – mit immerhin fünf größeren Forschungsinstituten – hat seither eine Entwicklung durchlaufen, die nach meinem Eindruck gekennzeichnet ist von einer hohen Professionalität auf der einen und von einer politisch-normativen Unentschiedenheit auf der anderen Seite. Während zu früheren Zeiten etwa die Jahrestagungen der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung AFK – das ist gewissermaßen der Berufsverband der FriedensforscherInnen – sich mit friedenspolitisch relevanten Themen befassten: z.B. 1981 unter dem Thema „Ressourcensicherung. Neue Friedensbedürfnisse“ oder 1984 „Kriege in der Dritten Welt“, sind die heutigen Themen kaum noch als friedenspolitische Agenden zu erkennen. Die letzten zwei Jahren befasste man sich mit der Deutschen Einheit – und das in der „Heldenstadt“ Leipzig wenig kritisch –, mit dem Klimawandel – man will ja mit der Zeit gehen! – und die Tagung im nächsten Frühjahr widmet sich dem Uraltproblem der „Macht“, ein Thema, das von jedem Soziologentag oder von jedem Politologenkongress auch durchgeführt werden könnte. Werner Ruf hat in einer geharnischten Kritik an diesem neuerlichen Versuch, sich um die aktuellen friedenspolitischen Probleme zu drücken, festgestellt: „Es erscheint mir schlicht als ein Alibi, um ‚wissenschaftlich‘ zu palavern und ein klares Wort zur dringend angesagten Sache zu vermeiden.“

Was wären die „angesagten Sachen“ für die Friedenswissenschaft und ihren Dachverband: der Afghanistankrieg, die sog. Humanitären Interventionen, die Transformation der NATO, die Metamorphose der Europäischen Union zu einem Militärbündnis, der Dauerkonflikt im Nahen Osten – die Liste wichtiger Themen ließe sich fortsetzen.

Etwas anderes erzürnt einen normativen Friedensforscher, der seine wissenschaftliche Arbeit auch als einen Beitrag zur praktischen Politik begreift: die Weigerung der heutigen AFK, sich zu den brennenden Konflikten dieser Welt und den bedrohlichen Militarisierungstendenzen öffentlich zu äußern. Ich selbst habe in einem Vortrag bei einer Jahrestagung den Kolleginnen und Kollegen ins Gewissen geredet und verlangt, der Verband solle sich doch häufiger zu aktuellen Kriegen und den dazu gehörigen politischen Weichenstellungen Stellung beziehen. Großer Beifall – damals, das war 2002. Passiert ist aber seither nichts, sodass der Frust bei den kritischen Friedensforschern steigt. Ich darf noch einmal Werner Ruf zitieren: „Der Vorstand schweigt – zum Kriegsverbrechen von Kundus wie zu einer Positionierung zu den Grundfragen von Krieg und/oder Frieden“.

Es gibt aber auch Beispiele, wo Schweigen sogar besser wäre als das, was manche Friedensforscher zu Papier bringen.

Vor einigen Wochen fand im Deutschen Bundestag eine öffentliche Anhörung mit geladenen Sachverständigen statt, in der es um das neue NATO-Konzept ging, das im November beim Gipfel in Lissabon verabschiedet werden sollte. Dass dieses Konzept selber noch nicht vorlag, dafür konnten die geladenen Wissenschaftler nichts. Für ihre Einlassungen zum Sinn und Zweck der NATO aber sehr wohl. Dass das transatlantische Militärbündnis für Stabilität in der Welt und für ein gutes Verhältnis zwischen USA und Westeuropa gesorgt habe, dass es eine positive politische Rolle im Kalten Krieg gespielt habe und dass ihre Fortexistenz in der Zukunft über jeden Zweifel erhaben sei – das war Konsens unter den Friedensforschern. Matthias Dembinski von der hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung brachte es in seiner schriftlichen Stellungnahme auf eine glatte Formel, die so auch in jedem NATO-Grundsatzpapier stehen könnte:

„Die NATO erfüllt drei wesentliche Kernaufgaben. Sie steht einer Re-Nationalisierung der Sicherheitspolitik entgegen, bildet eine transatlantische Klammer und stellt eine kostengünstige Versicherungspolice dar, ohne die ihre Mitglieder nervöser auf sicherheitspolitische Risikolagen reagieren würden. Die NATO erbringt diese Leistungen verlässlich und gilt deshalb als eines der im historischen Vergleich erfolgreichsten Verteidigungsbündnisse.“

Bleiben wir einen Moment bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, übrigens das größte Institut seiner Art in Deutschland. Im Sommer 2010 veröffentlichte ihr Direktor, Harald Müller, eine Politikanalyse unter dem Titel „Krieg in Sicht? Das iranische Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma Israels“. Das Papier, das gewiss eine Reihe brauchbarer Informationen und Überlegungen enthält, gipfelt in der Schlusspassage in folgender Aussage:

„Ein israelischer Angriff auf die Infrastruktur des iranischen Nuklearprogramms ist riskant und wird schwerwiegende negative Folgen haben. Die politischen Führer Israels können – in voller Erwartung dieser negativen Folgen – zu dem Schluss kommen, dass er dennoch die einzige Option ist, die ihnen bleibt, um ihr Land und Volk vor einem nuklearen Holocaust zu schützen. Wenn es zu einer Militäroperation Israels kommt, werde ich diese Folgen fürchten und die Opfer auf beiden Seiten beklagen. Aber ich hoffe, dass der Westen und mein eigenes Land dann nicht Israel die Schuld zuschieben. Ahmadinejad und die Extremisten, die ihn umgeben, fordern die Tragödie heraus.“

Dieses Zitat stammt nicht etwa aus einer Studie eines neokonservativen Think Tanks der USA oder der NATO, sondern aus einem Policypaper eines Friedensforschungsinstituts. Und ich frage: Ist das noch verantwortliche Friedenswissenschaft? Oder ist das ein Freibrief zum Krieg?

Ein letztes Beispiel: Am 31. Mai 2010 überfielen israelische Streitkräfte einen internationalen Hilfskonvoi für Gaza und töteten dabei mindestens neun unbewaffnete türkische Besatzungsmitglieder. Die weltweite Empörung war allgemein und alle Versuche der israelischen Regierung, die Verantwortung für den Piratenakt den Opfern zuzuschieben, sind kläglich gescheitert. Der Autopsiebericht eines forensischen Instituts in Istanbul enthüllte, dass die Getöteten insgesamt 30 Schusswunden aufwiesen. Fünf Personen waren durch Kopfschüsse aus geringer Entfernung getötet worden. Einige Leichen wiesen bis zu fünf Schusswunden auf, etliche waren in den Rücken oder den Hinterkopf getroffen worden. Nur ein Mann war durch einen Schuss in die Stirn aus größerer Entfernung getötet worden. All dies und die Weigerung Israels, eine unabhängige Kommission zur Untersuchung der Ereignisse zuzulassen, hinderten einen angesehenen Friedensforscher, Theodor Ebert, nicht, in einem Beitrag für eine friedenswissenschaftliche Zeitschrift die Behauptung aufzustellen, die Solidaritätsaktion der Gaza-Flotille sei keineswegs gewaltfrei gewesen. Vielmehr hätten gerade die türkischen Aktivisten versucht, die „Kontrolle des Schiffes durch das intervenierende israelische Militär mittels Einsatz physischer ... Gewalt zu verhindern.“ Damit, so seine Schlussfolgerung, „tragen sie auch eine Mitverantwortung für die tödlichen Folgen“. Und, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, gibt der emeritierte Professor den Demonstranten noch eine dringende Empfehlung: „Wer gewaltfreie Aktionen durchführt, muss mit dem Schlimmsten rechnen und schon im Vorfeld entsprechende Trainings durchführen und Bezugsgruppen bilden.“ Aber Herr Ebert, was, wenn sich die Angreifer nicht an die Spielregeln der Gewaltfreiheit halten?

Es gibt viele Gründe für regressive Tendenzen in der Friedensforschung. Ein wichtiger Punkt ist sicher die Abhängigkeit von staatlichen Geldern und von Drittmittelaufträgen. Trotz aller Freiheit der Wissenschaft gilt auch in diesem Metier die simple Formel: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Die dicksten Aufträge im Bereich der Friedensforschung kommen aus dem Außen- und Verteidigungsministerium. Hieraus werden mittlerweile ganze Sonderforschungsbereiche alimentiert wie z.B. der Sonderforschungsbereich an der FU Berlin: „Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Ergebnis eines der jüngsten Produkte ist ein "Plädoyer für zukunftsorientiertes Handeln in Räumen begrenzter Staatlichkeit“, dargestellt an Beispielen wie Afghanistan, Kongo oder Sudan. Eine der Empfehlungen an „westliche Staatenbauer“ lautet, „auf Dauer innenpolitische Unterstützung und Ressourcen für ihre Auslandseinsätze zu mobilisieren“.

Ein weiterer Grund mag darin liegen, dass viele Friedensforscher, wenn sie Karriere machen wollen, sich dem unausgesprochenen Mainstream des jeweiligen Faches anpassen müssen. Dieter Senghaas hat das in seinem schon erwähnten Aufsatz höflicher formuliert und von der „Paradigmatose“ der jüngeren Generation gesprochen. Danach werden den jungen Forscherinnen und Forschern politikwissenschaftliche oder soziologische Paradigmen, also bestimmte Theorieansätze oder Denkschulen vorgesetzt, denen sie dann einen „exklusiven analytischen oder gar friedenstheoretischen Wert zusprechen“ – anstatt es mit der „Analyse konkreter Problemlagen, historischer Reflexion, struktureller Analyse sowie komparativer Analyse“ zu versuchen.

Von solchen Zwängen sollte die Friedensbewegung frei sein. Sie hat aber gleichwohl ihre Probleme. Diese liegen im Unterschied zur Friedensforschung nicht darin, dass sie nicht darf, wie sie will, sondern dass sie nicht kann, wie sie will.

Ich spreche von der Mobilisierungsschwäche der Friedensbewegung – und zwar am Beispiel des so schwierigen Kampfes gegen den Afghanistankrieg. Ich denke, das Problem, dem sich die Friedensbewegung seit geraumer Zeit gegenüber sieht, hat mit zwei Faktoren zu tun, die nur schwer und nicht von heute auf morgen zu beeinflussen sind.

Zum einen dürfte der ausbleibende Erfolg der bis dahin größten Massenbewegung gegen einen drohenden Krieg eine große Rolle spielen. Was am 15. Februar 2003 zu einem globalen Fanal gegen den angekündigten Krieg gegen Irak wurde und die Friedensbewegung laut New York Times neben den USA zu einer zweiten „Supermacht“ gemacht hatte, geriet in der Folge zu einer Quelle nachlassenden Engagements. Wenn es selbst Millionen und Abermillionen von Menschen nicht möglich ist, einen offenkundig völkerrechtswidrigen, auf Lügen aufgebauten imperialistischen Krieg zu verhindern, bevor er begonnen hat, wie sollen sich dann friedenspolitische Entscheidungen in weniger spektakulären Fällen mit durchsetzen lassen? Die Friedensbewegung mobilisiert ihre Anhänger ja nicht, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu gelangen, sondern um die Politik zum Frieden zu zwingen. Die frustrierende Erfahrung des „Die da oben machen ja doch, was sie wollen!“ hat auch in anderen Politikbereichen zu einem dramatischen Rückgang außerparlamentarischer Initiativen und Bewegungen geführt. Die für viele überraschend gut besuchten Massenaktionen gegen die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke und gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 im Herbst 2010 stellen noch keine Trendumkehr, wohl aber einen ersten Schritt dazu dar. Allgemein gesprochen gilt es, die in den vergangenen Jahren grassierende Politikabstinenz zurück zu drängen. Dies wird umso eher gelingen, als die Früchte der außerparlamentarischen Bewegung und der Massenstimmung gegen den Afghanistankrieg sich in einer zunehmenden parlamentarischen Abwehrfront gegen die Mandatsverlängerungen materialisieren.

Zum anderen kann die Bundesregierung auf den Gewöhnungseffekt setzen. Nach achteinhalb Jahren Krieg in Afghanistan ist es schwer, den täglichen Skandal des Krieges in der Öffentlichkeit wach zu halten. Umfrageergebnisse reflektieren zunächst ja nur Meinungen, nicht aber die Bereitschaft dafür auch auf die Straße zu gehen. In keiner Phase der politischen Auseinandersetzung um den Afghanistankrieg ist erkennbar geworden, dass der Krieg in der Gesellschaft eine größere Betroffenheit erzeugt hätte. Dies ist aber Voraussetzung für eine Massenmobilisierung. Selbst die sich häufenden Fälle getöteter Bundeswehrsoldaten haben diesbezüglich keine Änderung bewirkt. Im Gegenteil: Wir haben im Frühjahr erlebt, wie die Bundesregierung die Inszenierung der „Trauer“ um die gefallenen Soldaten sogar weidlich ausschlachtet, um eine neopatriotische Stimmung im Land zu erzeugen. Dass sich hieran sogar Familienministerin Kristina Schröder (CDU) beteiligt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Nervosität der Regierenden, die offenbar an alle Fronten meinen mobil machen zu müssen. Auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010 in München, der der ehemaligen Bischöfin und Kriegskritikerin Käßmann zujubelte, klagte Schröder mehr „Empathie“ für die Kriegssoldaten ein. Die deutsche Gesellschaft solle sich bei der Solidarität für die Bundeswehrkräfte im Auslandseinsatz die USA zum Vorbild nehmen, sagte Schröder bei einer Podiumsrunde zum Thema „Soldatenfamilien und Einsatzbelastung“. Es müsse möglich sein, etwa bei Sportereignissen „unsere Soldaten zu grüßen“ (dpa, 13.05.2010). SportmoderatorInnen lassen sich dafür gewiss finden, wie die Entgleisung von Katrin Müller-Hohenstein (ZDF) beweist, die bei Kloses 2:0 im Weltmeisterschaftsspiel gegen Australien dessen „inneren Reichsparteitag“ beschwor.

Da sich die Kriegsskepsis der Bevölkerung, die auf einer in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sich verfestigenden Überzeugung beruht, dass Deutschland am besten im Frieden gedeiht, nicht so einfach in einen militaristischen Hurra-Patriotismus umkehren lässt, versuchen die Herrschenden schon seit längerem, die Interventionspolitik von NATO, EU und Bundesregierung „humanitär“ umzudeuten. Alle Militärinterventionen der neuen Zeitrechnung nach dem Ende der Bipolarität - vom Somalia-Einsatz 1993 über die Teilnahme am NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bis zum „Antiterror“- und „Antipiraten“-Krieg in Afghanistan und am Horn von Afrika – waren humanitär begründet worden: Entweder ging es darum, eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern oder Menschen vor einem menschenverachtenden Regime in Schutz zu nehmen oder demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sowie allgemein gültige Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte durchzusetzen oder dem internationalen (See-)recht zum Durchbruch zu verhelfen. Diese regierungsamtliche Lesart wird bereitwillig von den Massenmedien – von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten bis zu den Printmedien von FAZ bis zur taz – verbreitet; abweichende Meinungen bleiben ausgewählten Magazinsendungen und den Feuilletons sowie Leserbriefspalten der Zeitungen vorbehalten. Und natürlich den wenigen linken Zeitungen – ich nenne das Neue Deutschland, die junge Welt und die UZ, die alle hier auf dem Kongress zu haben sind.

Eigenartig ist dennoch, dass die geballte kriegsfreundliche Propagandaoffensive der Bevölkerung bisher so wenig anhaben konnte. Die Ergebnisse aller einschlägigen Umfragen der letzten Jahre und Monate legen die Vermutung nahe, dass es ein großes Potenzial in der Bevölkerung gibt, das den Afghanistankrieg aus wohl erwogenen Gründen ablehnt und sich von der Regierungspropaganda nicht ins Bockshorn jagen lässt. Offen bleibt „nur“ die Frage, wie sich aus diesem Potenzial eine kritische Masse einer Protestbewegung gegen den Krieg gewinnen lässt. Darauf gibt es von meiner Seite keine schlüssige Antwort, sondern allenfalls überlegenswerte Anstöße.
  1. So sicher wie der Krieg in Afghanistan in den kommenden Monaten eskalieren und sich in der angrenzenden pakistanischen Region ausweiten wird, so wenig sollte man auf einen Mechanismus setzen, wonach diese Eskalation die Antikriegsbewegung beflügeln werde. Es gibt auch keinen Automatismus, wonach eine steigende Zahl gefallener Bundeswehrsoldaten die Menschen zahlreicher auf die Straße treibt. Die Vietnam-Bewegung in den USA hatte mehr als ein Jahrzehnt gebraucht, um wirklich massenwirksame Aktionen zu entfalten und noch ein paar Jahre mehr, um die Politik zur Umkehr zu veranlassen. Der kriegsmüden Heimatfront kam dabei die drohende militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld zu Hilfe. Ähnliches ist in Afghanistan nicht zu erwarten. Der bewaffnete Widerstand wird zwar zunehmen, er ist aber in absehbarer Zeit wohl nicht von der „Qualität“, den Invasionstruppen eine entscheidende Niederlage beizubringen. Dennoch ist es richtig, den Krieg weiter zu skandalisieren und von einer „Vietnamisierung“ des Krieges zu sprechen. Gerade weil er militärisch für den Westen nicht zu gewinnen ist, liegt diese Analogie nahe und sie trifft in ganz besonderer Weise für die Bundeswehr zu, die solche Erfahrungen bisher nicht machen musste.
  2. Von größerer Bedeutung dürfte es sein, den geballten Regierungslügen über die angebliche Besserung der Lage in Afghanistan mit fundierten Gegeninformationen entgegen zu treten. Das Wort der damaligen Landesbischöfin und Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschland, Margot Käßmann: „Nichts ist gut in Afghanistan“, lässt sich mit belastbaren Daten belegen. Ich denke, wir werden nachher von Matin Baraki hierzu einiges hören. Das einzige, was wirklich blüht in Afghanistan, sind der Mohnanbau und die allgegenwärtige Korruption. All dies gilt es in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und für ein Ende der Kriegspolitik zu werben.
  3. Die Beendigung des Krieges und der Abzug der Interventionstruppen sind alternativlos, weil damit eine wesentliche Quelle der Feindseligkeiten und der bewaffneten Kämpfe beseitigt wäre. Doch auch darüber muss der Öffentlichkeit von Seiten der Friedensbewegung reiner Wein eingeschenkt werden: Mit dem Abzug der Bundeswehr und anderer Besatzungstruppen wird nicht der Frieden in Afghanistan einkehren.
  4. Daher dürfen Land und Volk am Hindukusch nicht sich selbst überlassen werden. Es ist erstens ein Gebot der Gerechtigkeit, dass diejenigen, die den Krieg ins Land getragen haben und für einen Großteil der materiellen Zerstörungen und der immateriellen Schäden verantwortlich sind, sich am zivilen Wiederaufbau zu beteiligen. Früher nannte man das „Reparationen bezahlen“! Darüber hinaus gebietet es der Internationalismus der Staatengemeinschaft in der globalisierten Welt, von Krieg und Bürgerkrieg geschwächten Staaten zu helfen. Diese Hilfe muss ausschließlich ziviler Natur sein und dort erfolgen, wo die betroffene Bevölkerung bzw. ihre legitimen Vertretungen entsprechende Bedürfnisse und Wünsche äußern.
  5. Für die Entfaltung einer breiteren Protestbewegung gegen den Krieg und einer Solidaritätsbewegung für die geschundene afghanische Bevölkerung ist ein Unterschriften-Appell nützlich, der im Juni 2010 veröffentlicht wurde und von großen Teilen der deutschen Friedensbewegung getragenen wird. Dieser Appell („Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen“) konzentriert sich auf die vordringlichsten Forderungen an die Adresse der Bundesregierung und des Bundestags: Beendigung der Kämpfe in Afghanistan, sofortiger Beginn des Abzugs der Bundeswehr und Aufstockung der Mittel für die ausschließlich zivile Hilfe. Die Initiatoren des Appells, unter ihnen alle großen Friedensorganisationen, verbinden mit ihm die Hoffnung, über verschiedene gesellschaftliche Gruppen und politische Organisationen (Gewerkschaften, Kirchen) in breite Kreise der Bevölkerung hinein zu wirken – nicht um sie von der Unsinnigkeit des Krieges zu überzeugen (das sind sie schon), sondern um sie über dieses Vehikel zur politischen Aktivität zu motivieren.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat gestern ein Aktionsprogramm für das kommende Jahr verabschiedet, das der Friedensbewegung politische Orientierung sein und helfen soll, die breit gefächerte und sehr komplexe Friedensagenda auf wenige, nämlich 10 Schwerpunkte zu reduzieren. Ich möchte aus aktuellem Anlass einen Punkt, es ist Punkt neun, herausgreifen und ein paar Anmerkungen machen.

Es gilt, die ideologische Offensive der Bundeswehr abzuwehren, die sich heute an Schulen, Messen („Karrieretreffs“), Volksfesten oder bei Gelöbnissen und Zapfenstreichen manifestiert. Die im Zuge der Bundeswehrreform schwindende Möglichkeit, ausreichenden Nachwuchs zu rekrutieren, wie das bisher über den Weg der Wehrpflicht geschah, soll offenbar durch verstärkte Werbeanstrengungen wettgemacht werden. Diese Offensive setzt auf die Militarisierung der Bildung und des Denkens der Menschen und macht weder vor Schule und Hochschule noch vor Jahrmärkten und Volksfesten halt. Der Friedensbewegung muss es im Grunde genommen darum gehen, das Militärische zurückzudrängen und den öffentlichen Raum zu zivilisieren.

Es ist mehr als bemerkenswert, dass dieses Problem von Schülerinnen und Schülern ebenfalls erkannt und vereinzelt schon Gegenstand politischer Debatten und Aktionen wurde. Am letzten Wochenende verabschiedete die Delegiertenversammlung LandesschülerInnen-Vertretung Nordrhein-Westfaleneine Resolution zum Thema "Bundeswehr und Schule". Darin heißt es u.a.:
„Es regt sich immer mehr Widerstand gegen die Militarisierung der Schulen. Ein wichtiger Schritt gegen den Bundeswehr-Werbeapparat muss die Kündigung der Kooperationsvereinbarung sein, da diese Vereinbarung den Zugang in die Schulen erleichtert. Aber auch ohne Kooperationsvereinbarung ist es der Bundeswehr möglich, in den Schulen zu werben.
Aus diesem Grund ist es notwendig, SchülerInnen zu ermutigen, an ihrer eigenen Schule gegen Bundeswehrbesuche vorzugehen. Immer mehr Schulen muss es gelingen, durch die Schulkonferenz beschließen zu lassen, dass Bundeswehrbesuche generell nicht stattfinden dürfen. Nur von unten durch ein friedenspolitisches Bewusstsein ist es möglich, der Bundeswehr Paroli zu bieten.“


Auch wenn sich das noch nicht unbedingt in der altersmäßigen Zusammensetzung unserer Konferenz widerspiegelt: Die Jugend ist unterwegs zu uns. Gehen wir ihr entgegen!

Der 17. Friedenspolitische Ratschlag ist eröffnet. Herzlich willkommen!

* Einleitender Beitrag zum 17. Friedenspolitischen Ratschlag, 4./5. Dezember 2010, Universität Kassel.


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