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Von erstaunlicher Konstanz: Friedenspolitischer Ratschlag mit großer Resonanz

Trotz Schnee und Eis: 300 Teilnehmer/innen kamen nach Kassel, um über die Agenda von Friedensforschung und Friedensbewegung zu diskutieren

Von Peter Strutynski

Wie jedes Jahr gaben sich Friedensbewegung, Friedensforscher/innen und Politiker/innen am ersten Dezemberwochenende ein Stelldichein in Kassel. Bei einem Kongress in der Universität diskutierten zwei Tage lang rund 300 Teilnehmer/innen über aktuelle Fragen der Außen-und Sicherheitspolitik, über Rohstoffkriege und bewaffnete Konflikte in aller Welt, die neue NATO-Strategie sowie die Metamorphose der Europäischen Union von einer Wirtschaftsunion in ein Militärbündnis.

Mehr als 30 Referentinnen und Referenten beschäftigten sich in vier Plenarveranstaltungen und 25 Workshops mit dem neuen strategischen Konzept der NATO, der Transformation der Bundeswehr in eine reine Interventionsarmee zur Verteidigung "wirtschaftlicher Interessen" Deutschlands in aller Welt, mit geostrategischen Zielsetzungen der Großmächte und ihrer militärischen Absicherung, mit der nach wie vor aktuellen atomaren Bedrohung der Menschheit durch Atomwaffen, aber auch der sog. "friedlichen Nutzung" der Atomenergie, mit der Lage im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt, der bedrohlichen Entwicklung im Streit um das iranische Atomprogramm, mit alten und neu heraufziehenden Gewaltkonflikten in Afrika (z.B. Sudan) sowie mit Fragen einer umweltschonenden, nachhaltigen Energie- und Ressourcenpolitik.

Dr. Ueli Mäder, Soziologieprofessor aus Basel, ging in seinem Eröffnungsreferat auf den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und der Zunahme von globalen Konflikten ein. Häufig sind die Ursachen von Gewalt und bewaffneten Konflikten in der als zunehmend unerträglich empfundenen Kluft zwischen extremem Reichtum auf der einen und extremer Armut auf der anderen Seite zu suchen. Dies träfe aber nicht nur auf das Verhältnis zwischen Erster (wohlhabender) und Dritter Welt zu, sondern lasse sich auch in den entwickelten Staaten des Nordens selbst erkennen. Häufig reagierten die Mittelschichten auf den eigenen sozialen Abstieg mit einer verstärkten Hinwendung zu rechtspopulistischen einfachen Antworten, wie das fatale Abstimmungsergebnis zur Erleichterung der Abschiebung von Fremden aus der Schweiz belegt.

Auch in der Bundesrepublik, so stellte die Gewerkschafterin Karola Stötzel fest, nähmen die sozialen Probleme und die damit einher gehenden Diskriminierungen und Ausgrenzungen sozial Schwacher und "Ausländer" zu. Doch anstatt dass die Politik hier wirksam gegensteuert und mit wirksamen Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse Linderung und Abhilfe schafft, diskutiert sie über Sozialabbau und "Schuldenbremse". Der Absicht der hessischen Landesregierung, mit einer Änderung der hessischen Verfassung eine "Schuldenbremse" verfassungsrechtlich zu verankern, sei ein weiterer Schritt in den Abgrund. Er binde die Regierenden langfristig an einen Kurs Krisenabwälzung auf die sozial Schwachen.

Der Exilafghane und Politikwissenschaftler Dr. Matin Baraki (Marburg), zeichnete ein erschütterndes Bild von der realen Situation in Afghanistan nach über neun Jahren NATO-Krieg. Wie recht habe doch die frühere Landesbischöfin Margot Käßmann gehabt, als sie sagte: "Nicht ist gut in Afghanistan." Baraki berichtete von der steigenden Zahl ziviler Todesopfer in dem Krieg, von der Verschärfung des Hungers und des Massenelends, von Prostitution, Drogenökonomie und Korruption sowie von der zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen, die in ihrem Leben nichts anderes als Krieg und Gewalt kennengelernt haben. Das offenkundige Scheitern der NATO-Besatzung müsse so schnell wie möglich durch einen Waffenstillstand und den Abzug der Truppen aus Afghanistan beantwortet werden. Die Regierenden wollen aber aus geostrategischen Gründen langfristig in Afghanistan bleiben und damit den strategisch wichtigen zentralasiatischen Raum zu beherrschen.

In einem mit viel Spannung erwarteten Vortrag des früheren jugoslawischen Außenministers Živadin Jovanović, wurde auf die nach wie vor prekäre Lage im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina hingewiesen. Bosnien-H. sei auch 15 Jahre nach dem Dayton-Paris Abkommen immer noch ein Protektorat der NATO und der EU. Hier befindet sich die größte US-Militärbasis der Welt (Bondsteel). Jovanovic fordert eine Beendigung des Protektorat-Status von Bosnien-H. Lokalen Institutionen und Politikern müsse eine Chance gegeben werden zusammenzuarbeiten, Kompromisse zu finden und das Land zu leiten, rief er unter dem Beifall der Zuhörer aus. Das sich Serbien mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht einverstanden erklären könne, begründete Jovanovic sowohl historisch als auch völkerrechtlich. Am Schluss seiner Rede berichtete er von einer höchst seltsamen Gründung einer "Gruppe von Freunden des Sandschak", einer südserbischen, muslimisch geprägten Provinz, durch die Botschafter der USA, Kanadas, Großbritanniens und Deutschlands in Belgrad. "Die Gründung einer 'Gruppe der Freunde' von einem besonderen Teil, einer Region eines souveränen Staates durch akkreditierte Diplomaten in diesem Land ist weder diplomatisch noch respektiert es Partnerschaft oder Gastfreundschaft des jeweiligen Landes", gab Jovanovic zu bedenken.

Ein Debut ganz besonderer Art beim Friedensratschlag gab der bekannte Strafverteidiger und Kinderbuchautor Heinrich Hannover: Er las aus einem Kapitel seines vor kurzem erschienenen Buches "Reden vor Gericht". In diesem Buch sind Plädoyers Hannovers aus über 40 Jahren Gerichtspraxis versammelt. Zu seinen Mandanten zählten Kriegsdienstverweigerer und RAF-Häftlinge, Kommunisten und Friedensaktivisten, ehemalige DDR-Funktionäre und Gewalttäter. Hannover las aus dem Kapitel, das sich mit dem Fall Lorenz Knorr befasste, der - heute 89 Jahre alt - im Publikum saß. Lorenz Knorr hatte 1961 in einer Rede in Solingen eine Reihe von namentlich genannten Generälen der Bundeswehr als "Nazi-Generale" und "Massenmörder" bezeichnet. Dagegen hatten vier Generäle, ein Admiral und Franz Josef Strauß eine Beleidigungsklage gegen ihn erwirkt. Das Pikante am Prozess: Die Anklage vertrat ein Staatsanwalt, der selbst an der Naziterrorjustiz beteiligt gewesen war; und der vorsitzende Richter des Schöffengerichts war im "Dritten Reich" Ankläger am Sondergericht Wuppertal gewesen. Das Plädoyer, das Heinrich Hannover noch einmal verlas - nicht ohne die ein oder andere aktuelle Parallele zu ziehen - war ein Musterbeispiel gekonnter und fundierter Beweisführung und eine Geschichtslehrstunde in Sachen deutscher Militarismus und Obrigkeitsstaat. Die Veranstaltung mit Hannover erhielt zusätzlichen Reiz dadurch, dass die Diskussion von Prof. Dr. Hans Mausbach moderiert wurde, der selbst einmal Opfer politischer Verfolgung geworden war: Der damalige Assistenzarzt im Frankfurter Nordwest-Krankenhaus war 1971 nach einem Auftritt in der ARD-Sendung "Halbgott in Weiß" gekündigt worden und wurde in dem anschließenden Rechtsstreit ebenfalls von Heinrich Hannover verteidigt. Die Ratschlagsteilnehmer/innen bedankten sich für die geistreiche Lesung mit lang anhaltendem Beifall - und einem Run auf das Buch "Reden vor Gericht".

Zum Ausklang des Friedensratschlags diskutierten unter der umsichtigen Leitung von Sabine Schiffer Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialer Bewegungen über die Perspektiven der Friedensbewegung. Angelika Claussen von der Internationalen Ärztevereinigung IPPNW machte z.B. den Vorschlag, dass Friedens- und Anti-Atombewegung zu Ostern 2011 wegen der Nähe zum 25. Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl gemeinsam demonstrieren sollten. Die sog. "friedliche" Nutzung der Kernenergie sei schließlich von ihrer militärischen Nutzung nicht zu trennen. Horst Schmitthenner (IG Metall) betonte in seinem kritisch-optimistischen Rückblick auf die Herbstaktionen der Gewerkschaften die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Friedensbewegung. Während Jürgen Rose von der Vereinigung kritischer Soldaten ("Darmstädter Signal") rhetorische Breitseiten gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung und der NATO abfeuerte, berichtete Julia Hillebrandt (SDS) von einem Antikriegskongress, der ein Wochenende zuvor an der TU in Berlin stattgefunden hatte. Ihre Enttäuschung darüber, dass dort nur die Hälfte der Teilnehmer/innen Studierende waren, wäre für den Friedensratschlag, ein riesiger Fortschritt. Jan van Aken, Bundestagsabgeordneter der Linken, unterstrich seine politische Übereinstimmung mit den Positionen der Friedensbewegung und wies auf mögliche kommende Auseinandersetzungen im Sudan hin, wenn sich erwartungsgemäß nach dem Referendum im Januar 2011 der Süden vom Norden abspalten wird.

In seinem Schlusswort ging Peter Strutynski auf die Beiträge des Podiums ein und stellte erstens fest, dass sich die Agenda der Friedensbewegung weder auf die Abschaffung der Atomwaffen noch auf die Beendigung des Afghanistan-Krieges reduzieren ließe. Gerade das soeben verabschiedete friedenspolitische Aktionsprogramm des Bundesausschusses mit seinen zehn Schwerpunkten zeige, wie vielgestaltig die Agenda der Friedensbewegung sei. Jeder einzelne Punkt darin habe seine Berechtigung und alle Punkte hingen zusammen. Zweitens empfahl er der Friedensbewegung, das Angebot von Angelika Claussen anzunehmen. Es sollte versucht werden, eine gemeinsame Erklärung zu den Ostermärschen und zum Tschernobyl-Tag zu erarbeiten. Und es wäre nur zu begrüßen, wenn an Ostern nicht nur die traditionellen Ostermärsche in ca. 70 bis 80 Städten stattfänden, sondern wenn zusätzlich an den AKW-Standorten demonstriert würde. Das wäre eine "echte Bereicherung". Überhaupt käme es für die Friedensbewegung - was die Anzahl der Aktionsanlässe betrifft - im nächsten Frühjahr "knüppeldick". Ende Januar müsse gegen die Verlängerung des Mandats für den Afghanistankrieg durch den Bundestag Front gemacht werden; am 4./5. Februar folge die Münchner Sicherheitskonferenz mit den Gegenaktionen der Friedensbewegung. Diese bedürften einer stärkeren bundesweiten Unterstützung. Ebenfalls im Februar würde bundesweit nach Dresden mobilisiert, um sich dort tausendfach den Nazis entgegenzustellen und deren Aufmarsch wie im letzten Jahr erfolgreich zu verhindern. Strutynski machte drittens auf den 10. Jahrestag des Beginns des Afghanistankrieges am 7. Oktober 2011 aufmerksam. Der "Friedensratschlag" lade die Friedensbewegung ein, aus diesem Anlass ein Afghanistan-Tribunal zu veranstalten. Die Veranstaltung müsse ein Forum für die Opfer und ein Tribunal für die Verantwortlichen des Krieges werden. Unter dem ungeteilten Beifall der Teilnehmer/innen erklärte Strutynski, dass der "Friedenspolitische Ratschlag" auch weiterhin in Kassel bleiben werde und lud vorsorglich schon zum 18. Ratschlag für den 3./4. Dezember 2011 ein.

Dann sollte am Vorabend bestimmt wieder ein kulturelles Programm angeboten werden. So wie diesmal. Da war der Schauspieler und Rezitator Rolf Becker mit einem Heine-Programm aufgetreten, welches das zahlreich erschienene Publikum (der Saal war überfüllt) restlos begeisterte. Der gute Geist dieser Veranstaltung war auch bei der zweitägigen Konferenz zu spüren.

Ausgewählte Beiträge aus den Plenarveranstaltungen und Workshops werden sukzessive auf der Website der AG Friedensforschung veröffentlicht. Eine Buchveröffentlichung in der Reihe "Kasseler Schriften zur Friedenspolitik" soll Mitte 2011 erscheinen.


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