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Es ging nicht nur um Afghanistan: "Diskussionen auf hohem Niveau"

Der Friedenspolitische Ratschlag 2009 tagte in Kassel: "Wissenschaftliche Konferenz und Aktivisten-Vernetzung" zugleich - Presse-Echo

Der 16. Friedenspolitische Ratschlag an der Uni Kassel erfreute sich nicht nur eines guten Besuchs und lebhafter Diskussionen, sondern fand auch ein relativ breites Medienecho. Im Folgenden dokumentieren wir folgende Artikel: Ein längeres Voraus-Interview mit einem der Organisatoren des "Ratschlags" haben wir bereits an anderer Stelle dokumentiert: "Fragen vor dem Friedensratschlag"


Friedensbewegung

Ratschlag will Massen mobilisieren

Von Katja Schmidt *

Kassel. "Truppen raus aus Afghanistan" verlangt am Sonntag das Banner über dem Eingang zur Kasseler Ingenieurschule. Hier tagt der Bundesausschuss Friedensratschlag - zugleich wissenschaftliche Konferenz und Aktivisten-Vernetzung. Das Uni-Gebäude hat lange Tradition als Tagungsort der Friedensbewegung.

Drin tagen Plena und Arbeitsgruppen. Das Oberthema lautet "Kapitalismus, Krise und Krieg - den Kreislauf durchbrechen!" Wer gerade nicht diskutiert, kann sich am Büchertisch mit Hintergrundanalysen eindecken - oder mit Kampagnen-Material von T-Shirts bis "Kein Blut für Öl"-Aufkleber.

Die Veranstalter schätzen die Teilnehmerzahl auf 250 bis 300. Seit dem Irak-Krieg halte sich dieses Niveau, sagt Ratschlag-Sprecher Peter Strutynski. Doch in Kassel ist der Wunsch überdeutlich, mehr Menschen zu erreichen, Massen zu mobilisieren.

Traute Sander ist aus Dortmund angereist, gehört dort zur Ostermarsch-Bewegung. Sie glaubt, dass der Krieg in Afghanistan - "jetzt wird der ja auch so genannt" - bald mehr Bürger aufrüttelt. Wenn auch Deutschland seine Truppen aufstocke, seien mehr Menschen direkt betroffen. Silvia Gingold aus Kassel betont, Truppen zu schicken, um Krieg zu beenden, sei widersinnig: "Mit kriegerischen Mitteln ist das Problem einfach nicht zu lösen."

Dass die Bundesregierung mehr Soldaten an den Hindukusch schicken will, halten wohl die meisten Ratschlag-Teilnehmer für ausgemacht. Offiziell will Berlin vor der Londoner Afghanistan-Konferenz Anfang 2010 nichts beschließen. In Kassel hebt die große Plenums-Mehrheit die Hand, als Lühr Henken vom Podium aus nach Zustimmung für eine bundesweite Demo am Tag der Bundestagsabstimmung fragt. Gegenstimmen gibt es nicht. Wohl aber Debatten, wie für die Aktion mobilisiert werden kann und soll.

"Heftige Aufgaben vor uns"

"Krise und Krieg sind zwei Seiten einer Medaille" betont Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) auf dem Podium. Man müsse die Zusammenhänge zwischen Sozialabbau und Repression im Inneren, Abschottung gegen Flüchtlinge und Aggression nach außen deutlicher machen: "Wir haben relativ heftige Aufgaben vor uns - ich wünsche uns viel Spaß dabei."

Für die Beiträge aus dem Plenum stellen sich viele grauhaarige Männer an - aber nicht nur sie. Auch eher jugendliche Menschen sprechen. Einer regt an, die Friedensbewegung solle stärker mit Jüngeren in ganz Europa zusammenarbeiten. Und sie solle überlegen, die Herrschenden mit eigenen Mitteln zu schlagen - ihre Expertise mit modernen PR-Methoden unter die Leute bringen.

Der Friedensratschlag allerdings muss sich nächstes Jahr auch selbst neu aufstellen. Peter Strutynski geht als Wissenschaftler der Kasseler Uni in Ruhestand. Neue Organisatoren müssen die Tagung verantworten, die Website den Uni-Server verlassen. Man kriege das hin, sagt Strutynski und wirbt - erstmals - um Spenden für die Ratschlags-Arbeit. Der Aufruf dazu ist überschrieben "Frieden braucht Visionen". Strutynski sagt am Sonntag: "Frieden braucht Zaster."

* Aus: Frankfurter Rundschau, 7. Dezember 2009


Afghanistan-Krieg gegen den Willen des Volkes

Kasseler Friedensratschlag über die verfahrene Lage am Hindukusch

Von Christian Klemm, Kassel **


Am Wochenende traf sich die Friedensbewegung im nordhessischen Kassel zum jährlichen Friedensratschlag. Ein Schwerpunkt war wieder einmal der Krieg in Afghanistan.

Das erste Dezember-Wochenende haben sich Friedensbewegte im Kalender rot angekreuzt und für den Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel freigehalten. Dieses Jahr hätte sich die Friedensbewegung den Zeitpunkt für das jährliche Treffen nicht besser aussuchen können: Vergangene Woche wurde das Bundeswehrmandat für den Krieg am Hindukusch für ein Jahr verlängert. Auch wurde bekannt, dass US-Präsident Barack Obama mindestens 30 000 weitere Soldaten nach Afghanistan abkommandiert. Viel Diskussionsstoff also für die zweitägige Tagung unter dem Motto »Kapitalismus, Krise und Krieg – Den Kreislauf durchbrechen!«. Rund 300 Interessenten hatten den Weg nach Kassel angetreten.

Wie in den vergangenen Jahren war die Themenpalette auch dieses Mal vielfältig: Neben dem Militärputsch in Honduras wurden die Weltwirtschaftskrise, der Konflikt mit Iran, die US-Besatzung in Irak, der EU-weite Abbau der Bürgerrechte und die israelische Siedlungspolitik in Palästina auf dem Ratschlag thematisiert. Mit vier Plenarveranstaltungen und 27 Workshops hatte die Konferenz ein straff organisiertes Programm. Neben bekannten Referenten wie Erhard Crome von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Jürgen Grässlin von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen waren auch Nachwuchswissenschaftler wie Ali Fatholla-Nejad und David Salomon geladen.

Seit Jahren dominiert die Situation in Afghanistan die Arbeit der Friedensbewegung. Aufgrund der aktuellen Ereignisse auch dieses Wochenende. Die Mission am Hindukusch sei endgültig zu Obamas Krieg geworden, meinte Friedensratsprecher Peter Strutynski. Keines der US-Ziele sei bisher verwirklicht. Dafür wachse der Widerstand gegen die Besatzung: Rund achtzig Prozent des afghanischen Territoriums stehe heute unter Kontrolle der Taliban, 30 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Auch die Bundesregierung, so die Auffassung des Politikwissenschaftlers, habe keine realistische Einschätzung von der militärischen Lage im Land. Eine Auffassung, die in Kassel jeder wohl teilte.

Deutschlands neueste Kriege sind untrennbar mit der NATO verbunden. Sowohl 1999 im Krieg gegen Ex-Jugoslawien als auch im »Anti-Terrorkrieg« am Hindukusch war und ist das westliche Militärbündnis federführend. Deshalb hält die Friedensbewegung an der Forderung fest, die NATO sechzig Jahre nach ihrer Gründung aufzulösen. Damit wäre ein erster Schritt für eine friedlichere Welt getan, so der Friedensforscher Werner Ruf in seiner Arbeitsgruppe.

Die Friedensbewegung hat bei ihrer Forderung nach Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan die Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite: Laut einer aktuellen Umfrage plädieren 69 Prozent der Bevölkerung für einen schnellstmöglichen Abzug der deutschen Armee. Dennoch sieht es nicht danach aus, dass dieses Votum bei der Bundesregierung Gehör finden wird. »Es ist nicht zu leugnen, dass es momentan eine Tendenz zu noch mehr Krieg gibt«, meinte Conrad Schuler, Vorsitzender des Instituts für sozialökologische Wirtschaftsforschung.

** Aus: Neues Deutschland, 7. Dezember 2009


"Das Spielcasino läuft weiter"

Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im Interview

Von Yvonne Albrecht

Herr Professor Butterwegge, die Freiheit des Marktes wird vor allem von Neoliberalen oft als Allheilmittel dargestellt. Ist dies angesichts der Wirtschaftskrise noch haltbar?

Christoph Butterwegge: Durch die globale Krise hat der Neoliberalismus Legitimationsprobleme bekommen. Er ist allerdings nicht tot. Wenn man sieht, wie die Finanzmärkte schon wieder expandieren, wie spekuliert und wie gezockt wird - das Spielcasino läuft weiter. Das heißt, dass wir in der Gefahr sind, wieder in die gleichen Turbulenzen zu geraten. Und das, obwohl gesagt wird, wir hätten das Gröbste hinter uns. Der Neoliberalismus ist weiter wirksam und muss bekämpft werden. Der ständige Leistungs- und Konkurrenzdruck, der die Gesellschaft durchzieht, macht sie zunehmend unfriedlicher.

Sie haben den Begriff Paternoster-Effekt geprägt: Die einen fahren nach oben, während die anderen sich nach unten bewegen. Der Begriff steht für die wachsende Kluft zwischen arm und reich. Wird der Effekt durch die Krise verschärft?

Butterwegge: Es sieht ganz danach aus. Es gibt Menschen, die an der Krise verdienen. Auf der andere Seite steigen mehr Menschen ab und sind durch zunehmende Arbeitslosigkeit bedroht. Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Weniger fahren hoch, viele runter.

Besteht darin eine Gefahr für den Frieden?

Butterwegge: Aufgrund der neoliberalen Reformen wie dem Abbau des Sozialstaates nehmen Gewalttätigkeit und Kriminalität zu. Derzeit ist insbesondere das Wachstumsbeschleunigungsgesetz der schwarz-gelben Regierung als kritisch zu sehen. Dadurch werden ausschließlich die Interessen eines besser gestellten Klientels bedient. Auf der anderen Seite muss man befürchten, dass Sozialleistungen gekürzt werden. Das bedeutet, die Menschen in der Gesellschaft, denen es eher schlecht geht, müssen künftig größere Lasten tragen. Wohingegen die entlastet werden, die eigentlich mehr verkraften könnten. Das soziale Klima wird rauer. Das bedeutet nichts Gutes für den Frieden.

Frieden und Liberalismus standen aber früher in enger Verbindung zueinander. Passen Frieden und Neoliberalismus heute nicht mehr zusammen?

Butterwegge: Der Neoliberalismus hält die Freiheit hoch, zumindest die wirtschaftliche. Aber er hat autoritäre Züge, wenn es darum geht, Herrschaft zu sichern - zum Beispiel in militärischen Aktivitäten zur Sicherung von Rohstoffquellen. Viele neoliberale Politiker befürworten dies.

Was bedeutet das für die anstehenden Probleme?

Butterwegge: Es wird sie geben, so lange es den Neoliberalismus gibt. Und so lange die Auffassung herrscht, wer viel leistet, soll viel bekommen und wer wenig leistet, soll wenig oder gar nichts bekommen. Da stellt sich automatisch die Frage, wie Leistung definiert wird. Wer entscheidet darüber, was ein Mensch in seinem Leben geleistet hat? Wenn man auf den Markt vertraut und glaubt, die Konkurrenz regelt alles, dann äußert sich der Druck, der dadurch in der Gesellschaft entsteht, in Gewalt und Unfrieden. Ungleich verteilter Reichtum führt immer zu Konflikten zwischen den Menschen.

Was ist für Sie die Alternative?

Butterwegge: Werte wie soziale Verantwortung, Solidarität und Gerechtigkeit müssen wieder stärker in den Mittelpunkt rücken. Der Sozialstaat in Deutschland darf nicht abgebaut, sondern muss um- und ausgebaut werden. 2,8 Millionen Kinder leben in Deutschland auf oder unter dem Sozialhilfeniveau. Das heißt, ihnen stehen immer abhängig vom Alter 215 bis 287 Euro zur Verfügung. Dabei ist das Land reich wie nie. Es ist nicht einzusehen, dass viele Menschen nicht in den Genuss dieser materiellen Vorteile kommen.

Aus: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA), 3. Dezember 2009



Kein alter Hut

Friedenspolitischer Ratschlag diskutierte über anstehende Aufgaben

Von Birgit Gärtner, Kassel ***

Alle Jahre wieder trifft sich die Friedensbewegung Anfang Dezember zu einem Ratschlag an der Uni Kassel. So auch am vergangenen Wochenende: Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft diskutierten mit Aktiven von der Basis über Analysen, politische Notwendigkeiten und daraus resultierende Schritte. Die Organisatoren zeigten sich mit dem Ergebnis zufrieden: »Es war eine Diskussion auf sehr hohem Niveau«, bilanzierte Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. »In sehr kompetenter Weise wurden alle Problemfelder aufgefächert, unter denen die Friedensbewegung agiert«.

Conrad Schuhler vom ISW in München beleuchtete die Frage des Zusammenhanges zwischen Krieg und Kapitalismus auf theoretischer Grundlage. Es folgte ein Beitrag des Sozialwissenschaftlers Christoph Butterwegge, der die praktischen Folgen der Krise für die Masse der Bevölkerung darstellte. Schließlich führte Rechtsanwalt Rolf Gössner die Auswirkungen des staatlichen Kontroll- und Überwachungswahns für das alltägliche Leben vor Augen.

Nach den Einführungsreferaten debattierten die mehr als 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diverse Fragen in Workshops. Unter anderem ging es um aktuelle Kampagnen der Friedensbewegung, zum Beispiel gegen die Stationierung von Atomwaffen. Einige Themen begleiten die Friedensbewegung seit geraumer Zeit. Sie sind trotzdem kein alter Hut, wie der Hamburger Rüstungsspezialist Lühr Henken in der Arbeitsgruppe zu Afghanistan unter Beweis stellte. Kriege seien unterdessen selbst in der Friedensbewegung in Vergessenheit geraten, obwohl ein Ende nicht in Sicht sei, beklagte Joachim Guilliard in der Diskussionsrunde zum Thema Irak. Weitere Problemfelder wie Piraterie sind relativ neu – und entsprechend hoch war der Informationsbedarf, den Friedensforscher Volker Matthies gut befriedigen konnte. Auch die Volksabstimmung in der Schweiz gegen den Bau von Minaretten spielte eine Rolle. Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer stellte anschaulich dar, wie Islamophobie medial geschürt und von der Politik gezielt als Propagandamittel zur ideologischen Legitimation von Kriegen eingesetzt wird.

Strutynski bewertete den Kongreß als Erfolg, wies aber auch auf die Schwächen der Bewegung hin: »Der Ratschlag findet statt in einer Zeit, in der sowohl die Herrschenden als auch die Friedensbewegung keine Rezepte haben. Die Herrschenden eiern in der Afghanistanfrage rum und verschieben notwendige Entscheidungen auf einen günstigeren Zeitpunkt, und wir wissen die Mehrheit der Bevölkerung hinter uns, tun uns aber schwer, zum Beispiel die Ablehnung des Krieges am Hindukusch in deutlich sicht- und hörbaren Protest umzuwandeln. Unsere Aufgabe im nächsten Jahr wird es sein, viel mehr Menschen in Aktion zu bringen.«

*** Aus: junge Welt, 7. Dezember 2009


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