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Ziviles Gegengewicht zur Parteiendemokratie

Gemeinsamer Aufruf von Wissenschaftlern und Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen zu einer weltweiten Koalition für Leben und Frieden

Presseerklärung
Berlin, den 4.12.2001

Über 40 Persönlichkeiten aus der Wissenschaft, aus Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen haben in einem eindringlichen Appell die zivilgesellschaftlichen Kräfte dazu aufgerufen, als Gegengewicht zu einer sich immer mehr selbst blockierenden Parteiendemokratie eine "weltweite Koalition für Leben und Frieden" zu schließen. Wie die Initiatoren des Aufrufs - Prof. Dr. Hans Peter Dürr vom Global Challenges Network München und Träger des alternativen Nobelpreises, Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Osnabrücker Sozialwissenschaftler und Friedensforscher, und Heiko Kauffmann, Sprecher von Pro Asyl und Träger des diesjährigen Aachener Friedenspreises, - in einer gemeinsamen Erklärung hervorheben, "ist es an der Zeit, zivilgesellschaftliche Organisationen zu ermutigen, viel stärker und unmittelbarer als bisher ihre Kompetenzen und Potentiale bei politischen Entscheidungen zur Geltung zu bringen."

Prof. Hans Peter Dürr erklärte: "Angesichts der Komplexität der Gegenwartsprobleme ist eine viel stärkere Einbeziehung und Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Kräfte nötig, die parteienunabhängig, durch themenbezogene Kompetenz legitimiert, die immer häufiger auftretenden Selbstblockaden der Parteiendemokratie überwinden helfen und zu einer neuen Qualität demokratischer Beteiligung beitragen." Der Sozialwissenschaftler Prof. Mohssen Massarrat ergänzte: "Gerade die rot-grüne Bundesregierung, die innerhalb des demokratischen Systems in Fragen Gesellschaft, Leben und Frieden eine denkbar günstige Parteienkonstellation repräsentiert, führt uns mit ihrer, den eigenen programmatischen Zielen diametral zuwiderlaufenden mehrfachen Zustimmung zum Krieg im Parlament und ihren jeweiligen Parteitagen deutlich und in erschreckender Weise die Grenzen des heutigen politischen Systems vor Augen, wie leichtfertig Friedensperspektiven vermeintlichen 'Sachzwängen' und Loyalitäten innerhalb des Systems geopfert werden." Heiko Kauffmann wies auf den aktuellen Bezug des Aufrufs hin: "Die demokratische Zivilgesellschaft im Ganzen muss sich zur Wehr setzen, wenn Parteien unter dem Vorwand, die Sicherheit zu verstärken, lang erkämpfte Freiheitsrechte der Bürger/innen abbauen und den Kampf um die "Innere Sicherheit" zur Repression gegen Minderheiten umfunktionieren. Ausgrenzung aber ist kein Mittel gegen Terrorismus." Gemeinsames Ziel der Unterzeichner des Aufrufs sei - so die Initiatoren - die zivilgesellschaftlichen Kräfte und Organisationen zu ermutigen, ihre Kompetenz und ihr Engagement, die angesichts der Überforderung und der Defizite des gegenwärtigen Systems der repräsentativen Demokratie unerlässlich sind, zu einer längst fälligen Weiterentwicklung und Erweiterung der Demokratie zu nutzen.

Dürr, Massarrat und Kauffmann erwarten ein großes Echo auf ihren Aufruf und die Unterstützung ihrer Initiative durch weitere Vertreter/innen aus dem friedens-, menschenrechts- und entwicklungspolitischen Bereich. Dazu ist geplant, im 1. Vierteljahr 2002 ein Beratungstreffen zur Abstimmung weiterer Schritte und zur Schaffung eines "zivilgesellschaftlich legitimierten Friedensrates" einzuberufen.

gez.: Frank Uhe


Ziviles Gegengewicht zur Parteiendemokratie:

Aufruf zu einer weltweiten Koalition für Leben und Frieden

Leben und Frieden sind untrennbar miteinander verknüpft. Krieg vernichtet Leben. Mehr: Krieg unterbricht heute den zivilisatorischen Entfaltungsprozess und gefährdet die Zukunft der Menschheit. Die politischen Systeme sind offensichtlich außerstande, Kriege zu verhindern und Herausforderungen der Zukunft, wie die Eindämmung von Umweltkatastrophen, Hunger, Armut und Wasserknappheit, weltweite Geschlechtergerechtigkeit und die Verwirklichung der Menschenrechte, allein zu bewältigen. Wir sind aber der tiefen Überzeugung, dass die Menschen prinzipiell über ein beträchtliches Überlebenspotential verfügen, um die Herausforderungen der Zukunft meistern und dafür auch neue zivilisatorisch weiterführende Wege finden zu können. Dies jedoch nur, wenn wir lernen, Wege zu finden, dass der eigene Vorteil auch zum Vorteil der anderen wird. Die Belebung zivilgesellschaftlicher Potentiale und Fähigkeiten als konstruktives Gegengewicht zu Parteien, staatlichen Institutionen und wirtschaftlichen Eliten steht daher auf der politischen Agenda zu Beginn dieses Jahrhunderts.

Seit der Französischen Revolution hat die Menschheit beachtliche Fortschritte vor allem für den inneren Frieden und die Demokratie erzielt, ein Fortschritt für den Frieden innerhalb und zwischen vielen Staaten lässt dagegen immer noch auf sich warten. Selbst Staaten mit demokratischer Verfassung und Kultur führten in der Vergangenheit und führen auch heute Krieg zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen andere Staaten. Kolonialismus, zwei Weltkriege, das gigantische Wettrüsten zwischen den Machtblöcken und unzählige Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg sind Ausdruck der Unreife und der mangelnden Fähigkeit, das Lebensprinzip "wenn es den anderen gut geht, dann geht es auch mir gut" zur Richtschnur jeglichen Handelns zu machen und dadurch auch die Grundlagen für innerstaatlichen wie zwischenstaatlichen Frieden zu legen. Gleichzeitig führt die Menschheit einen schleichenden Krieg gegen die Natur und zerstört seit Beginn der Industrialisierung mit wachsendem Tempo die natürlichen Lebensgrundlagen.

Die politischen Systeme erweisen sich zunehmend als unfähig, für existentielle Probleme zukunftsfähige Lösungen zu finden. Wir registrieren immer deutlicher eine tiefgreifende Demokratielücke. Wichtige Akteure der "großen Politik" begreifen sich als Vollstrecker der Interessen einer kleinen, wirtschaftlich mächtigen und politisch einflussreichen Elite. Die Anfälligkeit der gegenwärtigen politischen Systeme für ihre Instrumentalisierung zugunsten einer Elite ist eine der Hauptursachen für folgenreiche Ungleichgewichte und Spannungen, die in ökologische Verwüstungen, Armut und Elend, Fluchtbewegungen, Terrorismus und letztlich zu Kriegen führen.

Zur Bewältigung dieser Aufgabe rufen wir dazu auf, eine weltweite Koalition von gesellschaftlichen Kräften für Leben und Frieden zu bilden. Wir rufen alle Menschen dazu auf, ihre Erfahrungen, Kompetenzen und ihr Wissen, unabhängig von Parteien, in das jeweilige politische System einzubringen. Wir betrachten diese historische Aufgabe als einen Beitrag für die Weiterentwicklung der Demokratie und der menschlichen Zivilisation und gegen die Vernichtung von Leben. Wir wollen, dass Menschen neue Hoffnungen schöpfen, anstatt in Hoffnungslosigkeit, Lethargie und Misstrauen gegenüber der Zukunft zu verfallen. Wir wollen uns global vernetzen, um gemeinsam die Hindernisse auf diesem Weg zu bewältigen. Dabei ist uns bewusst, dass es erheblicher Ausdauer, Geduld, Weitsicht und schöpferischer Kraft bedarf, die Parteien und das Parlament von der Notwendigkeit der Übertragung eines Teils ihrer Macht und Legitimation zu Gunsten eines zivilgesellschaftlich legitimierten Gegengewichts zu überzeugen. Irgendwann muss aber mit Engagement für diese höchst anspruchsvolle historische Aufgabe begonnen werden: Heute.

ErstunterzeichnerInnen:
Dr. Franz Alt, Egon Bahr, Thilo Bode, Michael Bouteiller, Dr. Dieter Bricke, Daniela Dahn, Gerhard Diefenbach, Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Brigitte Erler, Helmut Frenz, Prof. Dr. Ulrich Gottstein, Jürgen Grässlin, Jörn Heher, Irmgard Heilberger, Prof. Dr. Johannes Heinrichs, Prof. Dr. Heinz Hilgers, Willi Hoss, Prof. Dr. Siegfried und Dr. Margarete Jäger, Prof. Dr. Walter Jens, Heiko Kauffmann, Prof. Dr. Ekkehard Krippendorf, Christiane Lammers, Herbert Leuninger, Volker Lindemann, Barbara Lochbihler, Dr. Heinz Loquai, Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Dr. Till Müller-Heidelberg, Prof. Dr. Oskar Negt, Leonie Ossowski, Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter, Peter Rühmkorf, Halo Saibold, Prof. Dr. Michael Schneider, Axel Schmidt-Gödelitz, Friedrich Schorlemmer, Heide Schütz, Dr. Reiner Steinweg, Frank Uhe, Peter Vonnahme, Dr. Reinhard Voß, Walter Wilken.


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