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Paradoxer Mix

Die Montagsdemonstranten sind weniger rechts als gedacht

Von Ines Wallrodt *

Occupy Frieden nennen Bewegungsforscher ihre Studie über die neuen Montagsdemonstrationen. Zwischen beiden Protesten sehen sie starke Parallelen. Die Ukrainekrise ist als Anlass fast zufällig.

Antisemiten, Verschwörungsideologen, Querfrontversammlung – die Etiketten, die die neuen Montagsdemonstrationen für den Frieden in den vergangenen Wochen angeheftet bekommen haben, könnten vernichtender nicht sein. Damit macht man es sich zu einfach, erklärten Bewegungsforscher der Technischen Universität am Montag – um es dann richtig schwer zu machen. Sie haben Teilnehmer der Mahnwachen befragt, um herauszufinden, wer da jede Woche aus welchem Grund demonstriert. Ihre Ergebnisse lassen sich nicht auf eine Formel aus dem gängigen politischen Koordinatensystem bringen, am besten passen Begriffe wie paradox und widersprüchlich.

Ausgehend von Berlin haben sich seit März Friedensmahnwachen für die Ukraine in einigen Dutzend Städte der Bundesrepublik ausgebreitet. Zwischen zehn und 1000 Teilnehmer folgen seither den Aufrufen über soziale Netzwerke. An dem Vorwurf, eine neurechte Bewegung zu sein, sind sie nicht unschuldig: Bei den Mahnwachen treten rechtsextreme Funktionäre genauso auf wie auf Schildern die Zinsknechtschaft der Welt gegeißelt wird.

Vor diesem Hintergrund war die Forschergruppe um Dieter Rucht von den Rückläufen der Online-Befragung selbst überrascht. So sind die Demonstranten linker als erwartet, die meisten wählen die Linkspartei, kritisieren Neoliberalismus, das Freihandelsabkommen TTIP, befürworten ein Grundeinkommen und solidarische Ökonomie. Nur zwei Befragte geben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild an, die Demonstranten sind damit deutlich weniger rechts als die Gesamtbevölkerung. Und doch ist die Bewegung nicht links.

Zwei Drittel der Befragten würden sich zwar nicht wohl fühlen neben einem organisierten Nazi, die Frage ist nur, ob sie ihn erkennen würden. Denn inhaltlich stimmen sie durchaus rechten verschwörungsideologischen Einstellungen zu. So wünschen sich auffällig viele einen »Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert«, oder sind zumindest nicht entschieden gegen diese autoritäre Vision. Die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage ganz oder überwiegend zu, Amerika sei nur der »Knüppel der US-Notenbank FED«. Weitere 40 Prozent sind bei dieser Aussage lediglich unentschieden. Und immerhin ein Viertel der Befragten sieht Zionisten die Welt regieren. Die Forscher interpretieren die Rückmeldungen so, dass die Leute anfällig sind für antisemitische verschwörungstheoretische und antiamerikanische Ansichten.

Das Auffälligste an diesem Welterklärungsmix: All diese widersprüchlichen Positionen stehen munter nebeneinander, nicht nur auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor, sondern sogar in einem einzelnen Kopf. Als Problem wird diese Koexistenz von linken und rechten Inhalten kaum empfunden. Die Wissenschaftler teilen daher Einschätzungen, die bei dieser neuen Friedensbewegung Querfronttendenzen erkennen. Denn obwohl sehr viele Anwesende linke Parteien wählen, geht ein Drittel gar nicht zur Wahl und lehnen vor allem fast 40 Prozent die Einordnung auf einer Links-Rechts-Skala als überholt ab.

Zu ihren Zielen geben die Protestierenden als erstes »Frieden« an, allerdings erscheint es den Wissenschaftlern mehr als abstraktes Stichwort, denn als fundiertes Konzept. Zweitwichtiges Thema ist bereits die Kritik an den Medien, gefolgt von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Geldkritik.

Im Vergleich zu anderen Protestbewegungen und insbesondere zur traditionellen Friedensbewegung sind die neuen Demonstranten überdurchschnittlich jung – fast die Hälfte ist unter 40. Für viele sind die Ukraine-Mahnwachen die ersten Demonstrationen ihres Lebens. Sie finden Demokratie als Idee toll, haben aber bislang keinerlei praktische Erfahrungen mit demokratischem Engagement. Entsprechend dünnhäutig reagieren sie nun auf die verbreitete Ablehnung ihrer Aktionen. Sie bestätigt in gewisser Weise ihre Vorurteile über das politische System und insbesondere die Medien. Kritik an der eigenen Aktion und vor allem an Rednern auf ihren Demonstrationen weisen sie als unberechtigt zurück. »Die Abkapselung ist immens«, meint Simon Teune.

Vieles erinnert die Wissenschaftler an die Occupy-Bewegung, aber auch an das Protestspektrum gegen Stuttgart21: tiefes Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen wie Parteien, Kirchen, Medien, aber auch Begeisterung für Spontaneität, Gefühlsausbrüche, Unprofessionalität. Die Demonstrationen sind Ausdruck eines sehr diffusen, aber starken Unbehagens von Menschen, die sozial zwar gut integriert sind, sich politisch aber im Abseits wähnen. Das politische System funktioniert in ihren Augen nicht mehr, sich selbst sehen sie jedoch als weitgehend machtlos, die Verhältnisse zu beeinflussen. »Es ist ein Problem für ein demokratisches System, wenn es einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentiert«, sagt Peter Ullrich.

Es gibt Anzeichen, dass die Mahnwachen über den Sommer versanden könnten. Verschwinden wird das Phänomen damit aber nicht. Die Anlässe sind einigermaßen willkürlich, wann diese Unzufriedenheit erneut in die Öffentlichkeit drängt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


Die Frage des Umgangs

In der traditionellen Friedensbewegung und (radikalen) Linken steht noch nicht fest, ob und wie man sich verhält

Von Ines Wallrodt **


Das Auftauchen der neuen Montagsmahnwachen überrumpelte vor einigen Monaten die etablierten Streiter für den Frieden. Seitdem ist man auf der Suche nach Antworten auf das Phänomen.

Eigentlich ist es eine tragische Situation für die Friedensbewegung: Da gehen endlich bislang unorganisierte, zudem noch zumeist junge Menschen auf die Straße, weil sie die Eskalation in der Ukraine beunruhigt. Sie folgen jedoch nicht dem Aufruf von Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen oder Pax Christi, sondern einem dubiosen Lars Mährholz auf Facebook. Seit es diese »neue Friedensbewegung« gibt, hat die alte ein Problem. Wie soll sie sich verhalten? Die Positionen schwanken derzeit zwischen Ausgrenzen, Ignorieren, Einmischen.

Zunächst waren die Reaktionen allerdings einhellig ablehnend: Echte Friedensfreunde, so hieß es, würden sich an dieser neurechten Bewegung nicht beteiligen. Die Kooperation für den Frieden, Bundesausschuss Friedensratschlag [1], Attac und Linkspartei verabschiedeten scharfe Distanzierungen. Damit war die Debatte jedoch nicht beendet, sondern erst eröffnet. In allen Organisationen meldeten sich Kritiker zu Wort, man habe die Montagsdemos vorschnell ins abseits gestellt. Das Spektrum sei zwar diffus bis wirr und mit Sicherheit unerfahren, aber auch nicht in Gänze neurechts und antisemitisch. Ein Aufruf zur »solidarischen Auseinandersetzung mit den Montagsmahnwachen«, den der LINKE-Abgeordnete Andrej Hunko initiierte, hat Unterstützer aus der klassischen Friedensbewegung wie der radikalen Linken. Sie fordern eine differenziertere Wahrnehmung und sie betonen, dass die »neue« Bewegung in einigen Städten »mittlerweile einen klaren Trennstrich nach rechts gezogen« habe.

Tatsächlich haben etwa in Aachen, Stuttgart und Leipzig alte und neue Friedensbewegung zueinander gefunden. Das Engagement lohnt sich, ist Attac-Aktivist Mike Nagler überzeugt. Er hat sich zusammen mit Leuten von der LINKEN und etablierten Friedensvereinen in Leipzig schon früh in die Vorbereitungen der Mahnwachen eingebracht.

Inzwischen hat sich einiges an ihrem Charakter verändert. Die Veranstaltungen finden nicht nur unter dem Motto »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« statt. Es wurden auch konkrete Maßnahmen ergriffen, um allzu kruden Welterklärungen weniger Raum zu bieten und Nazis gänzlich fern zu halten. So gibt es ein offenes Mikro inzwischen nicht mehr drei Stunden, sondern nur noch 30 Minuten, pro Beitrag gibt es drei Minuten. Längere Reden müssen angemeldet werden. Und man hat Antifa-Aktivisten dazu geholt, damit die Abgrenzung von Nazis nicht nur verbal, sondern real vollzogen werden kann. Sie passen auf und wenn der »um den Frieden besorgte Bürger aus Schneeberg« mit Redewunsch der dortige NPD-Chef ist, wird der Mann des Platzes verwiesen.

Anderswo lief es nicht so gut: So endete in Erfurt die Diskussion um den ex-linken Querfrontstrategen Jürgen Elsässer mit der Verdrängung der (linken) Kritiker. Diese versammeln sich nun dienstags, während die Elsässer-Fangemeinde am Montag unter sich ist. Bei der Berliner Mahnwache vor dem Brandenburger Tor, wo der wegen Holocaust-Verharmlosung vom RBB entlassene Radiomoderator Ken Jepsen eine wichtige Rolle spielt, schauen linke Kriegsgegner allenfalls als Beobachter vorbei. Nur einzelne treten offen auf, wie der Attac-Aktivist Pedram Shahyar und der Liedermacher Prinz Chaos II., die in ihren Reden die Eskalation in der Ukraine genauso deutlich verurteilen wie Nationalismus, Homophobie und Antisemitismus. Zuletzt stand Dieter Dehm (LINKE) als erster Bundestagsabgeordneter auf der Bühne. Der Auftritt bringt Fraktionskollegen erboste Facebook-Einträge aus der Friedensbewegung ein, Dehm endlich in die Schranken zu weisen, und ihm persönlich einen Beschluss des Berliner Landesvorstands, der seine Mitglieder im Bundesgremium auffordert, Dehms Missachtung der Distanzierungsauflage zur Sprache zu bringen.

Manche Organisationen haben inzwischen ihre erste Stellungnahme relativiert. So unterscheidet Attac nun zwischen »rechten Demagogen, die die Montagsdemonstrationen nutzen, um ihr reaktionäres Politikverständnis unter die Menschen zu bringen«, und »vielen Teilnehmer_innen, die dieses Ansinnen nicht teilen«. Die Kooperation für den Frieden will am Mittwoch bei einem Vorstandstreffen über die Montagsdemos reden. Bei der Interventionistischen Linken stand das Thema am Wochenende bei einem bundesweiten Treffen in Hannover auf der Tagesordnung. Es hat ein bisschen geknallt, weil einige Mitglieder öffentlich dafür warben, sich aktiver bei den Montagsmahnwachen einzubringen. Einige haben mit Austritt gedroht, sollte man sich für die Demos öffnen. Eine gemeinsame »Linie« wurde nicht beschlossen, man habe aber eine Basis für die Diskussion gefunden, bei Fortbestand der Differenzen, berichten Teilnehmer. Viele halten die Demos vor allem für irrelevant.

Einer Aussage können alle etwas abgewinnen: Die traditionelle Friedensbewegung müsse dringend eigene Angebote schaffen. Was sie auch tut. Infoabende und Mahnwachen finden überall in der Republik statt. Ende Mai zog ein bundesweiter Aktionstag mehrere Tausend Menschen auf die Straße, hier mit, dort ohne Beteiligung von neuen Friedensfreunden. Die Montagsfrage beantwortete das allerdings nicht.

Vielleicht erledigt sich das Problem von selbst, wenn Sommerferien und Fußball-WM ihre Wirkung entfalten. Sollten sich die Montagsdemos in den nächsten Wochen tot laufen, könnte allerdings eine andere Frage für die Friedensbewegung in den Vordergrund treten, die bislang überlagert wird: Wie hältst du es mit Russland?

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014

[1] Vom Bundesausschuss Friedensratschlag existiert keinerlei Stellungnahme. Es gibt allerdings eine Meinungsäußerung von Peter Strutynski, einem der Sprecher des Friedensratschlags: Wie das Kaninchen auf die Schlange. (Anm. der AGF)


Angebote schaffen, nicht verschwistern ***

Peter Ullrich ist Mitautor der Studie über die Montagsdemonstrationen. Mit polarisierenden Themen kennt er sich aus: Seine Doktorarbeit schrieb der Soziologe über den »Nahostkonflikt und die Linke in Großbritannien und der BRD«. Mit dem Bewegungsforscher sprach Ines Wallrodt.

Die Friedensbewegung streitet über den richtigen Umgang mit den neuen Montagsdemonstrationen. Welche Chance sehen Sie, aus der bislang diffusen eine emanzipatorische Bewegung zu machen?

Ich glaube nicht, dass man die Hegemonie dort nach links drehen kann. Aber viele Teilnehmenden sind zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demo und werden dort jetzt politisch sozialisiert. Es ist daher zentral, diesen Leuten ein Angebot mit einer linken Interpretation des Konflikts zu machen, so lange dafür noch Offenheit besteht.

Also hingehen und kluge Reden halten?

Nicht unbedingt. Man muss sich nicht verschwistern. Ich meine mit Angebot auch eine differenzierte Wahrnehmung der Bewegung. Die reflexhafte Ablehnung in der Linken ist falsch, da sie zu sehr pauschalisiert. Zwischen dem Neurechten Andreas Popp und vielen der Anwesenden besteht offenbar ein großer Unterschied. Es ist sicher auch nicht verkehrt, denen ein linkes Flugblatt in die Hand zu drücken und einen Teil der Leute auf linke Veranstaltungen einzuladen.

Sind die noch offen für Deutungen, bei denen nicht Medienkartelle oder Geheimbünde die Strippen ziehen?

Einen Teil wird man natürlich nicht erreichen. Das sind verbohrte Verschwörungsideologen. Aber viele sind durchaus noch auf der Suche nach Deutungen. Deshalb findet dort ja auch jedwede Thematik ein Forum, von autarker Ernährung durch Gemüse auf dem Fensterbrett bis hin zum Heizen durch Abholzung der Parkbäume, dazwischen kommt dann wieder ein bisschen Frieden. Mit ihrer Grundkritik an der westlichen Intervention in der Ukraine und der Doppelbödigkeit der Berichterstattung formulieren sie aber teilweise linke Positionen. Und sie sind mit ihrer Unzufriedenheit über ungerechte und undemokratische politische Verhältnisse immerhin schon auf der Straße.

Nur eines darf man nicht: Kritik an ihrer Demo üben. Die Abschottung ist so immens, dass man keine Chance hat, mit einer Antiposition die Veranstaltung positiv zu beeinflussen.

Werben Rechte mehr um die Montagsdemonstranten?

Die Anzeichen sind evident. Nazis treten dort auf, Leute positionieren sich eindeutig rechts. Die Demonstranten selbst sind im Kern antipolitisch. Sie glauben, wenn sie sich da treffen, ist das gut für den Frieden. Die haben keinerlei Plan, was ihre konkreten Ziele sind. Die Demos sind ein Ventil für ihre Unzufriedenheit, die raus muss.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


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