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"Krieg mit oder ohne Piloten an Bord"

Protest gegen NATO-Leitstelle in Kalkar am 3. Oktober. Gewerkschaften fürchten um militärnahe Arbeitsplätze. Ein Gespräch mit Ulrich Sander *


Ulrich Sander ist Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Bereits 1960 hat er am ersten Ostermarsch teilgenommen.


Für den offiziellen deutschen Nationalfeiertag am 3. Oktober ruft die nordrhein-westfälische Friedensbewegung zu einer Protestdemo zum »Zentrum Luftoperationen« in Kalkar auf. Dort baut die NATO zur Zeit ihre Kriegsführungszentrale aus – in welchem Ausmaß?

Das Luftkriegszentrum der NATO ist operativ tätig. Erstens: Diese Leitstelle arbeitet jetzt daran, Eurofighter und AWACS-Flugzeuge ganz nah an die russische Grenze heranzuführen. Kalkar/Uedem soll zudem einen Kampfdrohnenkrieg in aller Welt ermöglichen. Seit 2012 sind dort 1000 Fachleute des Tötens stationiert worden, die jetzt noch um 600 aufgestockt werden. Sie dirigieren Eurofighter auch über deutschem Luftraum. Um die Abwehr angeblicher russischer Invasoren zu organisieren, so die offizielle Propaganda. Von Kalkar aus leitet die NATO Manöver, die seit April 2014 in baltischen Ländern stattfinden. Zweitens: Ein Thinktank veranstaltet dort theoretische Übungen und Konferenzen. Dort beschäftigt man sich intensiv damit, wie ein dritter, mit Luftwaffen zu bestreitender Weltkrieg führbar wäre. Anfang Oktober wird sich dort das Militär treffen, um sich mit der Digitalisierung der Kriegsführung zu befassen: Sie wollen unbemannte technische Systeme einbeziehen und bezeichnen dies als »Revolution der Kriegstechnologie«.

Geplant ist auch die Anschaffung von Kampfdrohnen, die von dort aus eingesetzt werden sollen – im Rahmen eines »Raketenabwehrschirms«, der von der NATO gegen Rußland aufgebaut wird, so die offizielle Sprechweise. Ursprünglich war beschlossen, den »Schirm« in Polen und Tschechien aufzubauen.

Aus welcher Quelle stammt ihr Wissen über die NATO-Pläne?

Wir haben keine Spione der Friedensbewegung plaziert. Einiges wissen wir, weil wir aufmerksam das Material der Bundeswehr lesen. Anderes haben wir aus kleinen, spärlichen Meldungen, mitunter in Lokalzeitungen. Die Presse wertet kaum Bundeswehrdokumente aus. Die VVN-BdA empfiehlt dazu aber eine eigene Broschüre mit dem Titel: »Mordbefehl vom Niederrhein.Kriegsführung des 21. Jahrhunderts – von Kalkar aus gesteuert«.

Vom zwölften bis zum 23. Mai übte die Bundeswehr von Kalkar aus ganz praktisch. Die Übung hieß JAWREX 2014, ein Kürzel aus dem Englischen, das soviel wie Vereinte taktische Luftkriegsübung bedeutet …

Die Kriege der Zukunft sind solche in der Luft, ob mit oder ohne Piloten an Bord. Über 4000 Soldaten und Offiziere mit 100 Flugzeugen nahmen an der Übung teil. Ihr Einsatzgebiet: Mecklenburg-Vorpommern, nur wenige hundert Kilometer von der Ukraine entfernt. Hinzu kamen noch die rund 800 »Experten«, die von der Leitstelle in Kalkar/Uedem am Niederrhein aus die Übung kommandierten. Die Amerikaner haben den Hut auf, NATO und Bundeswehr machen mit.

Wie schätzen Sie die Gefahr eines Krieges gegen Rußland ein?

Die VVN-BdA beunruhigt insbesondere, daß in der Ukraine Faschisten an der Regierung sind, denen die NATO Einfluß gewährt.

Sind Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) Kriegstreiber oder von der NATO Getriebene?

Beides. Die Zeiten, als Merkel und Steinmeier sich besorgt über ­NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussens wahnsinnige Rhetorik äußerten, sind vorbei. Seit dem ­NATO-Gipfel sind sie auf seinen Kurs eingeschwenkt. Leuchtet irgendwo aus der Ukraine und Rußland ein kleines Zeichen der Entspannung auf, mahnt sofort die NATO, den kalten Krieg fortzusetzen. Sie stört bei jeder möglichen Verhandlungslösung zwischen Kiew und Moskau.

Was fordert die Friedensbewegung konkret am 3. Oktober in Kalkar?

Wir fordern, das dortige NATO-Luftwaffenhauptquartier zu schließen, am Standort ein Konversionsprogramm einzurichten, weder Kampfdrohnen noch Ersatz dafür anzuschaffen – und atomare Aufrüstung zu stoppen. An die Friedensfreunde haben wir ein Anliegen: Kalkar ist abgelegen. Wer sich an unserem Protest beteiligen will, sollte Fahrgemeinschaften bilden. Daß Gewerkschaften Busse organisieren, ist leider Zukunftsmusik: Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat Zivilangestellte der Bundeswehr in ihren Reihen, die ihr Veto einlegen. Die IG Metall nimmt Rücksicht auf Mitarbeiter der Rüstungsindustrie.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Donnerstag 18. September 2014


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