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Kontrapunkt gesetzt

"Frieden statt NATO": Am Sonnabend fand in Berlin die XX. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz mit einem neuen Rekordbesuch statt

Von Arnold Schölzel *

Das gab es vor der Berliner Urania zu einer Rosa-Luxemburg-Konferenz noch nicht: Wer keine Eintrittskarte hatte, musste sich Stunden vor Beginn in eine Warteschlange vor dem Gebäude einreihen, der Hauptsaal war wegen Überfüllung schon während des ersten Referats geschlossen, es war eng, vor allem dort, wo die Redebeiträge an Monitoren verfolgt werden konnten. Der Ansturm auf die XX. Konferenz, der sich seit Beginn des Kartenvorverkaufs im November 2014 andeutete – mehr als 2300 Besucher waren es am Ende –, ist offenkundig ein Signal: Krieg und Kriegsgefahr beunruhigen viele, weit über die politische Linke hinaus. Der CDU-Sicherheitsexperte Willy Wimmer hatte am Freitag in jW geschrieben, das Thema der Konferenz, »Frieden statt NATO«, ziele »auf Herz und Verstand der Bevölkerung«. Der Januar müsse »in diesen Fragen verantwortlich beginnen und den notwendigen Kontrapunkt« zur »angeblichen Sicherheitskonferenz«, die vom 6. bis 8. Februar 2015 in München stattfindet, setzen. Denn dort solle nur »die Politik der schiefen Ebene fortgesetzt werden«.

Der Kontrapunkt wurde gesetzt, aber ein vorläufiges Fazit des Gesagten lautet auch: Das sehenden Auges politisch herbeigeführte Abrutschen in die Verschärfung von Krise und Kriegsgefahr ist nicht gestoppt. Es bedarf, wie z. B. in der abschließenden Podiumsdiskussion vom früheren Vorsitzenden der Linkspartei Oskar Lafontaine formuliert wurde, unermüdlich der Aufklärung, des Aussprechens dessen, was ist, der Schaffung des Bewusstseins von dem, was nötig für eine Änderung ist.

Lafontaine forderte in einer programmatischen Rede die Schaffung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands. Sein Ausgangspunkt waren die Reaktionen von Medien und Politikern auf die Attentate in Paris und die Tatsache, dass es in der Debatte »an klaren Begriffen« fehle. Man könne keine Diskussion führen, ohne zu fragen: »Wo ist Terror, und was ist Terrorismus?« Seine Antwort: Interventionen und terroristische Kriege sind »die Grundlage für die Ausbreitung weltweiten Terrors«. Sollte die Linke eingeladen werden zur Bildung einer Regierung, sei Voraussetzung: »Sie darf sich nie an einem Interventionskrieg beteiligen.« Wer – wie z. B. Grüne-Politiker – dazu schweige, dass etwa der US-Drohnenkrieg von deutschem Boden aus gelenkt werde, sollte sich an dieser Debatte nicht beteiligen. Letztlich aber könne Frieden nur erreicht werden, wenn eine Gesellschaft entstehe, die tatsächlich demokratisch sei, in der die Mehrheit der Bevölkerung bestimme, in der Ausbeutung ein Ende habe.

Das aktuelle Geschehen in Paris, aber noch mehr die neueste deutsche Bereitschaft, in NATO-Kriege zu ziehen, bildeten den roten Faden der Referate und der Podiumsdiskussion. Der Publizist Otto Köhler, der es sich nicht nehmen ließ, seinen 80. Geburtstag mit den Konferenzteilnehmern zu begehen, machte mit seinem, dem ersten Redebeitrag, einen Aufschlag, der es in sich hatte: Aufklärerisch in seiner Haltung gegen Krieg, spöttisch bis sarkastisch übers politische Spitzenpersonal, beißend über dessen Hang zur Menschenvernichtung. Sein Vorschlag, eine undurchdringliche Dornenhecke ums Schloss Bellevue zu pflanzen, hinter der sich »der alles bedrohende« Joachim Gauck auf Lebenszeit als Bundespräsident einrichten könne – »ohne Post, ohne Internet, ausgeliefert nur der ARD« –, fand begeisterten Applaus. Erst recht sein Nachsatz, leider habe »niemand die Absicht, eine Dornenhecke hochzuziehen«.

Den Ursachen der vom Westen vor allem mit Hilfe der NATO geführten Kriege gingen die in Kanada lehrende Ökonomin Radhika Desai und der Vorsitzende der belgischen Partei der Arbeit, Peter Mertens, nach. Radhika Desai untersuchte aus Sicht der von ihr konzipierten »globalen politischen Ökonomie« wirtschaftliche Hintergründe der neuen Konfrontation. Die These, es handele sich dabei um einen neuen kalten Krieg, lehnte sie unter Hinweis auf eine völlig andere Konstellation als seinerzeit zwischen Sowjetunion und USA ab. Mertens betonte analog, die imperialistischen Länder versuchten mit allen Mitteln, einschließlich Krieg, die Verlagerung des Zentrums der Weltwirtschaft nach Ostasien zu behindern. Die NATO erweise sich dabei als »Schlüssel« für eine Strategie gegen Demokratie, Souveränität und Marginalisierung der UN.

Schöne Aussichten waren keinem der Referate zu entnehmen, um so wichtiger waren die »kleinen« Beiträge zur Konferenz, in denen über konkrete Aktionen, gemeinsame Vorhaben und die Praxis von Protest und Widerstand berichtet wurde. Das reichte von der Information über die Medienkooperation von vier europäischen linken Tageszeitungen (Freja Wedenborg, Kopenhagen) über Berichte zu Initiativen gegen die Münchner Sicherheitskonferenz und den G-7-Gipfel im Juni in Bayern, zur Unterstützung von Flüchtlingen oder für eine Zivilklausel an Hochschulen, einer eindrucksvollen Darstellung aktueller Vorhaben der »Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) und ihrer Regionalorganisation in Israel, einem Statement über das parallel zur Konferenz stattfindende Jugendforum der SDAJ bis zum Gespräch von M&R-Chefredakteurin Susann Witt-Stahl mit Band-Mitgliedern von Banda Bassotti über deren Teilnahme an einer antifaschistischen Karawane in die Ostukraine.

Wie stets meldete sich der US-Publizist Mumia Abu-Jamal akustisch aus dem Gefängnis, diesmal begleitet durch einen Beitrag des US-Journalistikprofessors Linn Washington, der mit und für Abu-Jamal seit mehr als 40 Jahren arbeitet. Und schließlich und vor allem: Es galt, einen Erfolg, einen Sieg zu feiern. Die »Cuban Five« in Freiheit. Der Botschafter Kubas in der BRD, René Juan Mujica Cantelar, trug ihren Gruß an die Konferenz vor; Hans Modrow, der sein mit Volker Hermsdorf erarbeitetes Buch über die kubanische Revolution vorstellte, machte auf die strategische Bedeutung dieser Niederlage der USA aufmerksam. Möglich, dass dieses Ereignis und seine Folgen die kommende Rosa-Luxemburg-Konferenz prägen werden.

* Aus: junge Welt, Montag, 12. Januar 2015


"Wir brauchen keine fünfte Hartz-IV-Partei"

Die Bedrohung des Friedens und eine neue "Sicherheitsarchitektur" für Europa standen im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion zum Abschluss der XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz **

Eine neue »Sicherheitsarchitektur« für Europa unter Einschluss Russlands hatte der frühere Linkspartei-Vorsitzende Oskar Lafontaine am Samstag in einem Redebeitrag auf der XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin gefordert. Das Motto der Veranstaltung »Frieden statt NATO« stand dann auch im Mittelpunkt der anschließenden Podiumsdiskussion, an der außer Lafontaine der CDU-Politiker Willy Wimmer und der Schauspieler Rolf Becker teilnahmen. Moderiert wurde die Talkrunde von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel. Hier einige redaktionell bearbeitete Auszüge.

Arnold Schözel: 2014 hat mehr als in den vergangenen 25 Jahren gezeigt, wie dringend notwendig es ist, dass eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa an die Stelle der NATO tritt. Als Oskar Lafontaine dieses Thema ansprach, fiel mir spontan ein böser Scherz des DDR-Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski ein. Noch bevor die Brandtsche Ostpolitik gegriffen hatte, sagte er, aus seiner Sicht habe es in der deutschen Geschichte nur drei Politiker gegeben, die wirklich begriffen hätten, was das Verhältnis zu Russland für Deutschland bedeutet: Otto von Bismarck, Ernst Thälmann und Walter Ulbricht. Da kann man sicher noch einige hinzufügen – man hofft ja …
Ein Fazit des Jahres 2014 ist für mich die Frage: Warum schafft es das deutsche Großkapital – oder auch nur Teile davon – im Moment nicht einmal, sich zur Position Bismarcks durchzuringen? Es würde mich schon interessieren, wenn darauf eine Antwort käme …

Rolf Becker: Warum verhält sich die herrschende Klasse so, wie sie es zur Zeit macht? Aus ihrer Sicht hat sie gar keine andere Möglichkeit, um ihre Besitzstände wahren zu können. Umgekehrt sollten wir fragen: Was können wir tun, um sie daran zu hindern? Wo können wir ansetzen? Ich habe dazu Vorschläge.
Wir sind 1999 nach Jugoslawien gefahren, mit dem Satz von Franz Kafka im Gepäck: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Warum sind wir gefahren? Zum einen, weil dort der Krieg begann – zum ersten Mal ging von deutschem Boden wieder ein Angriffskrieg aus! Der damalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sagt heute selbst, das sei völkerrechtswidrig gewesen. Er hat gegen alles verstoßen, wogegen man verstoßen konnte. Ein zweiter Grund für unsere Reise war, dass der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte nach Schröders Erklärung zum Krieg ohne jede Rücksprache im Namen der Gewerkschaften seine Zustimmung zum Krieg erklärte. Unsere Reise war ein kleines Zeichen der Solidarität.
Zwei Schlussfolgerungen aus dieser Reise: Zum einen fielen damals täglich Bomben auf Jugoslawien. Es war ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung – auch wenn sie nicht das unmittelbare Ziel war. Nach heutigen Erkenntnissen gab es dabei zwischen 2.000 und 4.000 Tote. Die indirekten Todesfälle wurden allerdings nicht gezählt.
Stellen wir uns Hamburg, Berlin oder eine andere deutsche Stadt in ähnlicher Lage vor: Sämtliche Wasserwerke zerdeppert, keine Kraftwerke mehr, keine Kommunikationsverbindungen, keine Verkehrswege. Wie sich das auf die Menschen auswirkt, haben wir konkret in den Familien erlebt, die wir besuchten: Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Frau namens Milena, deren Beinstümpfe angefault waren, weil es kein brauchbares Insulin mehr gab. Da aus Strommangel die Kühlschränke nicht mehr funktionierten, waren die Vorräte unbrauchbar geworden. Es wurden Chemiewerke, die Autofabrik Zastava sowie etwa 400 Hochschulen und Schulen zerbombt, unter dem Vorwand, die serbische Armee könne sich in den Gebäuden verstecken. Die hat kaum Schäden davongetragen – wohl aber die Zivilbevölkerung: Vergiftungen, Strahlenbelastung durch Uranmunition, Erkrankungen von Neugeborenen. Es war ein Krieg, so wie jetzt in Syrien, im Irak, in Afghanistan und so weiter.
Die zweite Schlussfolgerung: Dieser Angriff auf Jugoslawien war die Voraussetzung für die folgenden Kriege: Zur Kontrolle des Nahen Ostens und zur weiteren Einkreisung von Russland und China.

Willy Wimmer: Oskar Lafontaine hat darauf aufmerksam gemacht, dass die schwierige Situation des Kalten Krieges durch Verhandlungen überwunden werden konnte. Wir sind doch die obersten Profiteure dieser Entwicklung gewesen – wir würden hier heute nicht sitzen, wenn diese Verhandlungen nicht zu einem Ergebnis geführt hätten.
Wir brauchen gar keine neuen Forderungen aufzustellen, wir müssen nur das, was Brandt und andere damals umgesetzt haben, neu einfordern. Tragisch ist allerdings der Umstand, dass wir unserer eigenen Verfassung nicht mehr trauen, in der steht, dass Deutschland einen wesentlichen Beitrag zum Weltfrieden leisten soll und sich nicht an Angriffskriegen beteiligen darf. Wenn aber ein ehemaliger Kanzler fröhlich sagt: »Ich habe das Völkerrecht gebrochen«, dann stelle ich mir die Frage: Auf was legen solche Politiker eigentlich ihren Amtseid ab? Auf Grimms Märchen oder das Grundgesetz? Auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben ein Anrecht darauf, dass es die vornehmste Aufgabe der Staatsspitze ist, die Verfassung zu achten.
In diesen Tagen wird im Zusammenhang mit der Ukraine viel über Völkerrecht und die internationale Rechtsordnung nach 1945 gesprochen: Beide sind durch den Angriffskrieg auf Jugoslawien in den Orkus gedrückt worden. Der Krieg wird wieder zum Normalfall. Ich rede auch deshalb so engagiert, weil ich im Auftrag des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl die persönlichen Gespräche mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic geführt habe. Ich weiß, wovon ich rede – mit Kohl hätte es den Jugoslawien-Krieg jedenfalls nicht gegeben! Die politische Konsequenz aus dem, was wir erlebt haben und was wir heute sehen, hat Oskar Lafontaine schon benannt: Wir müssen eine Sicherheitsstruktur in Europa bekommen, die alle gleichberechtigt an einen Tisch bringt. Auch unseren russischen Nachbarn! Und ich sage das mit allem Nachdruck: Niemand will die USA oder Kanada aus Europa vertreiben – jedenfalls ich nicht.

Arnold Schölzel: Ich hatte im vergangenen Jahr schon den Eindruck, dass es auch Die Linke nicht einmal bis zu Bismarck schafft. Die großen Wirtschaftsverbände verkünden zwar, sie seien an guten Beziehungen zu Russland interessiert, der Primat gehöre aber der Politik. Ich übersetze das so: »Wir unterwerfen uns dem State Department in Washington.« Ich habe nicht erlebt, dass die parlamentarische Linke groß dagegengehalten hätte …

Oskar Lafontaine: Ich will nur zu der Bemerkung hinsichtlich der Verhältnisse im Deutschen Bundestag etwas sagen: Das ist ja die Wahrheit! Auch wenn ich hier Die Linke vertrete – es würde einen völlig falschen Eindruck erwecken, wenn man sagte: Wir haben diese und jene Vorstellung und setzen die jetzt auch durch. Die Partei kann nur dann etwas bewirken, wenn sie sich klar darüber ist, welche Möglichkeiten sie hat und welche nicht. Die Linke ist als Korrekturfaktor der deutschen Politik gegründet worden, vor allem was das Soziale und die Außenpolitik angeht. Solange ich in dieser Partei irgendwie mitwirken kann, werde ich alles daran setzen, dass die bisherige Linie gehalten wird. Ich sage es mal ganz platt: Noch eine Hartz-IV-Partei und noch eine Kriegspartei sind wirklich nicht nötig. Wir haben schon vier davon – wir brauchen nicht nicht noch eine fünfte.

Willy Wimmer: Ich bin mal mit der Linken und dem CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler gemeinsam vor das Verfassungsgericht gegangen, vor diesem Hintergrund freue ich mich über jeden Koalitionspartner, den ich kriegen kann. Wir haben gegen den »Tornado«-Einsatz in Afghanistan geklagt und argumentiert, dass die von diesen Aufklärungsmaschinen gesammelten Daten völkerrechtswidrig verwendet werden. Erst vor wenigen Tagen haben deutsche Generäle damit renommiert, dass sie genau das gemacht haben.
Dass wir überhaupt klagen konnten, lag daran, dass die Bundestagsfraktion der Linkspartei dabei war, einzelne Abgeordnete hätten diese Möglichkeit nicht gehabt. Wenige Monate nach dem von uns gemeinsam erstrittenen Urteil wurde das »Tornado«-Geschwader übrigens abgezogen.
Das ist aus meiner Sicht ein Kernpunkt: Seit 1999 ist das Völkerrecht für jede Bundesregierung ein Waisenkind, das ziemlich alleine in der Ecke steht. Und das Verfassungsgericht macht jeden Klimmzug, um den NATO-Vertrag zu überdehnen. Dazu kann ich eine Menge sagen: Der Deutsche Bundestag hat dieser NATO, so wie wir sie heute kennen, nie zugestimmt.

Rolf Becker: Wenn wir zur Orientierung beitragen wollen, müssen wir auf die Frage eingehen: Warum verhält sich das Kapital so? Bertholt Brecht hat gesagt, die Kapitalisten wollten keinen Krieg, sie müssten ihn wollen.
Aber warum müssen sie das in der aktuellen Lage? Grund dafür ist die fortschreitende Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen nur mit Geldspritzen geflickt oder in Form von Hypotheken an kommende Generationen weitergereicht werden.
Das Kapital hat nur zwei Möglichkeiten, die Krise zu überwinden: Zum einen, die vorhandenen Märkte noch gründlicher als bisher auszubeuten. Dieses Herangehen breitet sich wie ein Flächenbrand aus. Die Ausplünderung stößt allerdings an ihre Grenzen, schauen wir nur nach Griechenland. Dort fängt die Bevölkerung an zu rebellieren, deshalb müssen wir die linke Partei Syriza auch unterstützen. Die zweite Möglichkeit ist die Erschließung neuer Märkte, das aber heißt: Krieg. Ob erst gegen Russland und dann gegen China, oder gegen beide gleichzeitig – das bleibt abzuwarten.
Die USA werden von den Sanktionen gegen Russland kaum erfasst, die Handelsbeziehungen gehen gegen null. Dahingegen werden die Volkswirtschaften von Deutschland und anderen EU-Staaten in erheblichem Maße getroffen. Wir müssen sehen, wie sich das entwickelt, der Umtauschwert des Euro gegenüber dem Dollar ist jedenfalls in nur einem Jahr um 15 Prozent gesunken.
Und wie sieht das aus, wenn sich dieser wirtschaftliche Konflikt auf das Militärische ausdehnt? Wenn es zu einem großen Krieg kommt – wohin sollen die Russen schießen? Langstreckenraketen auf die USA sind ziemlich sinnlos – die für Russland bedrohlichsten US-Stützpunkte befinden sich nämlich im Saarland, in der Bremer Gegend und bei Husum. Frankreich betreibt 54 Atomkraftwerke, wenn eines oder mehrere davon getroffen werden, reicht die Radioaktivität aus, einen großen Teil Westeuropas auszulöschen.
Das Konzept der USA, das im Zweiten Weltkrieg nicht aufgegangen ist, könnte dieses Mal erfolgreich sein: Russland geht kaputt, und der Konkurrent Westeuropa geht ebenfalls den Bach runter. Das, denke ich, ist die konkrete Gefahr, wobei die Kämpfe wohl nicht mit Bodentruppen der USA ausgetragen werden. Die dortige Bevölkerung hat die Schnauze voll von Kriegen.
Falls Syriza in Griechenland die Wahl gewinnt, werden die europäischen Regierungen alles tun, um den Machtwechsel ins Leere laufen zu lassen – sie fürchten, dass sich die Entwicklung in Athen zu einem Flächenbrand ausweiten und Italien, Spanien sowie Portugal erfassen könnte. Aus unserer Sicht müssen wir alles tun, um Solidarität aufzubauen – nicht mit Syriza, sondern mit der griechischen Bevölkerung, die sich gegen die Diktate der »Troika« zur Wehr setzt.

Willy Wimmer: Man ist in Deutschland in einer schwierigen Situation, Oskar Lafontaine hat eben darauf aufmerksam gemacht. Was über die Absichten der USA zu sagen ist, ist doch keine Erfindung der Herren Lafontaine, Becker, Wimmer oder Schölzel. Die Amtsträger der USA sprechen es ganz offen aus, man braucht sich nur die letzte Rede des US-Präsidenten vor der Militärakademie Westpoint im Mai vergangenen Jahres durchzulesen.
Vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte versage ich mir dazu einen längeren Kommentar. Das, was er dort gesagt hat, ist in seiner Wortwahl so ungeheuerlich und schlimm, dass man es eigentlich der deutschen Bevölkerung vorenthalten sollte. Schon Obamas Vorgänger George W. Bush hatte ein Verständnis von Präventivkriegen, dass ich nur sagen kann: Der hat beim Führer gelernt. Der Zweite Weltkrieg begann bekanntlich mit dem Überfall deutscher Soldaten auf den polnischen Sender in Gleiwitz – das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir an den Abschuss des Fluges MH17 über der Ostukraine denken. Wenn ich in meine nieder­rheinische Heimat gehe, stelle ich immer wieder fest, dass die Leute den Regierungen gar nichts mehr glauben.
Offiziell wird uns das eine erklärt, gemacht wird das andere. Ich habe in meinem politischen Leben noch nie so viel blanken Zorn über offizielle Erklärungen entwickelt wie in diesen Wochen und Monaten. Ich selbst habe keine Meinungsumfrage betrieben, aber ich gehe mal davon aus, dass 80 bis 90 Prozent unserer Bevölkerung diese Kritik teilen.
Als Gegenbild dazu will ich den amtierenden Bundespräsidenten heranziehen. Vor einem Jahr hat er in München bei der Sicherheitskonferenz eine Kriegsrede gehalten. Wenn er mal ins deutsche Volk hineinhören würde, wüsste er, dass es in all den Fragen, die er angesprochen hat, anders denkt.
Wir müssen das alles wieder ins Normalmaß bringen, die Meinung der Bevölkerung muss ihren Ausdruck finden in der Politik dieses Landes. Eine größere Erwartung kann man am Anfang eines neuen Jahres gar nicht äußern.

Oskar Lafontaine: Ich hab’ ja gesagt, dass wir nur marginale Möglichkeiten haben. Ich bin dankbar dafür, dass Willy Wimmer die gemeinsame Klage mit unserer Bundestagsfraktion angesprochen hat. Für mich ist entscheidend, dass es Leute wie ihn oder Peter Gauweiler in der CSU gibt, die das Theater von Rechtsbruch und Verlogenheit nicht mitspielen.
Es gibt ja auch in der Linken die ewige Diskussion über eine Regierungsbeteiligung, für die man die Bedingungen klar formulieren muss. Regierungen unter Beteiligung von Linken sind ein großes Wagnis, weil der Kapitalismus tausend Krakenarme hat, um Leute zu vereinnahmen oder auch gefügig zu machen.
Ob eine Regierung erfolgreich ist, sieht man am Ergebnis. Überall, wo eine linke Partei in Europa versagt hat – und das gilt nicht nur für die Bundesrepublik –, hat sie von den Wählerinnen und Wählern anschließend die Quittung bekommen. Wenn also eine Partei wie Die Linke mit dem Anspruch einer spürbaren Kurskorrektur in der Sozial- und der Außenpolitik in eine Regierung eintritt und das dann nicht einlöst, dann wird sie zu Recht abgestraft. Und manchmal verschwindet sie sogar ganz aus dem Parlament. Das ist der schmale Grat, auf dem wir balancieren, deshalb habe ich auch auf die tausend Krakenarme hingewiesen. Es wird mit allen möglichen Tricks gearbeitet, um die Leute einzuwickeln. Dafür steht auch eine riesige Propagandamaschine zur Verfügung.
Man muss versuchen, standhaft zu bleiben und einigermaßen aufrecht zu gehen. Wenn man nur gebückt läuft, wird einem irgendwo hineingetreten, was man dann auch verdient hat. Es bleibt also nichts anderes übrig, als den aufrechten Gang durchzuhalten.
Ich glaube, es ist durchaus möglich, Korrekturen in der deutschen Politik durchzusetzen. Man darf sich nicht über Spielräume täuschen, die sind nun mal gering. Und man muss versuchen, Bündnispartner zu finden und zwar nicht nur im politischen Raum, sondern auch außerhalb. Ich freue mich jedenfalls, dass jetzt an der Spitze der katholischen Kirche ein Papst steht, der so radikale Auffassungen hat, dass er Schwierigkeiten hätte, von linken Parteien in Europa aufgenommen zu werden. Welcher Linke hätte sich denn getraut, im Parlament zu sagen: »Diese Wirtschaft tötet!«

Wir müssen also Bündnisse schließen, dabei hilft der Streit wenig, wer der bessere Linke ist. Und wenn wir uns auf das Wagnis einer Regierungsbeteiligung einlassen, müssen wir auf jeden Fall den aufrechten Gang beibehalten. Nach vier Jahren müssen wir immer noch in den Spiegel schauen können und sagen: Das und das haben wir erreicht.

Arnold Schölzel: Die Frage, was zu tun wäre, würde ich zum Schluss noch einmal in die Runde werfen. Oskar Lafontaine hat das soeben erweitert: Unter bestimmten Bedingungen kann man das auch mit einer Regierungsbeteiligung machen. Oder ich zitiere Willy Wimmer aus seinem Aufsatz in der jW: Es wäre wichtig, gegen die Hybris der Mächtigen auf dem Weg in den globalen Krieg die Glocken läuten zu lassen.
Wenn die Lage also so ist, wie Sie drei sie geschildert haben – was müsste jetzt möglichst rasch gemacht werden?

Willy Wimmer: Ich bin möglicherweise ungeeignet, eine Antwort zu geben – ich gehöre dieser Formation ja nicht an. Das ist durchaus machbar. Und es gibt ja so ein Hämekartell in den deutschen Medien, wo jeder, der ein bisschen aus dem Graben rauskommt, sofort niedergemacht wird.
Wir müssen das nicht mitmachen, egal, wo wir politisch stehen. Denn irgendwann sind wir alle Opfer. Das kann man sagen, egal ob man der Linken, den Sozialdemokraten, den Grünen oder wem auch immer angehört.

Oskar Lafontaine: Auf die Frage, was zu tun wäre, können wir nur mit bescheidenen Antworten aufwarten. Es muss versucht werden, aufzuklären, und das sollte bei der Sprache beginnen. Ich finde es zum Beispiel gut, dass die junge Welt im Zusammenhang mit Militäreinsätzen auch mal von Besatzungstruppen spricht und nicht die für die Öffentlichkeit gedachte Propaganda wiedergibt, die Bundeswehr sei eine Art Hilfsorgan für das Bohren von Brunnen. Wir müssen dieses Lügengebäude durchbrechen. Wie der Philosoph Immanuel Kant schon sagte: Wir müssen uns des eigenen Verstandes bedienen und das, was man denkt, auch aussprechen.
Ich war einmal gemeinsam mit Willy Wimmer bei einer Podiumsdiskussion – er sprach dort von den »angelsächsischen Brandstiftern«. Nach Jahrzehnten war es für mich ein Highlight, dieses Wort aus dem Munde eines CDU-Politikers zu hören. Muss man doch mal sagen.
Und er hat ja auch die Wahrheit gesagt; es ist doch ungeheuerlich, was im Nahen Osten abläuft: Da rüsten die USA erst diese ganzen Gruppen auf – von den Taliban bis zum »Islamischen Staat«. Gegen diese Gruppen wird dann wieder aufgerüstet und so weiter, das ist nur noch irre. Das muss man auch auszusprechen wagen. Wenn man gegen den Mainstream angeht, muss man damit rechnen, dass man von ihm eins in die Fresse bekommt.
Die Antwort kann ja selbst dann nur sein, dass man weiter den aufrechten Gang versucht – selbst wenn es nur um marginale Korrekturen geht. Nicht einzuknicken, das ist die Hauptaufgabe eines jeden Linken.
Willy Wimmer hat vorhin gesagt, mit Kohl hätte es den Jugoslawien-Krieg nicht gegeben. Ich kann das abschließend nicht beurteilen. Aber ich kenne Kohl einigermaßen und bin der letzte, der ihn heilig- oder seligsprechen würde. Aber etwas hat er gehabt: Er hätte nicht jede Wendung der amerikanischen Politik mitgemacht, wie die jetzige Pfarrerstochter, die im Kanzleramt sitzt.

Rof Becker: Ich halte es zunächst einmal mit Rosa Luxemburg: Der erste Schritt zu revolutionärer Tat ist, auszusprechen, was ist. Zweitens: Lasst uns alles tun, damit in Griechenland der Wagen mit Syriza nicht in eine reaktionäre Richtung umkippt. Das ist nämlich immer die Gefahr, wenn Linke eine Niederlage erleiden. Und drittens: Wir müssen die Eigentumsverhältnisse in Frage stellen und ändern. Wo immer sie angegriffen werden, ganz egal, auf welcher Ebene. Im kleinsten Betrieb müssen wir Solidarität mit denen üben, die anfangen zu handeln.
Wir müssen die Überheblichkeit unsererseits überwinden, den Dünkel abgeben an der Garderobe. Wir wollen schließlich diejenigen gewinnen, die heute noch mit Illusionen rumlaufen, egal, ob sie SPD oder was auch immer oder gar nicht wählen. Wir wollen sie gewinnen, weil sie Kolleginnen und Kollegen sind und zu Genossinnen und Genossen werden sollen.
Deswegen rufe ich den Journalisten, meinen Berufskollegen und dem gesamten künstlerischen Bereich zu: Kommt raus aus den Elfenbeintürmen, lasst uns gemeinsam unsere Fähigkeiten und Kräfte einsetzen, um der arbeitenden Bevölkerung hierzulande und in Europa wieder zu einer Orientierung zu verhelfen.

Videomitschnitt der Podiumsdiskussion unter: http://kurzlink.de/rlk15-podium

** Aus: junge Welt, Montag, 12. Januar 2015

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