Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Herr Schröder, wie wär’s nach ihrem öffentlichen Geständnis mit einer förmlichen Selbstanzeige?"

Von Lühr Henken *

Wir sind hier, weil wir gegen Krieg sind und weil wir die Lügen, die zur Vorbereitung von Kriegen stets die Runde machen, als solche entlarven. So war auch die Begründung für den völkerrechtswidrigen NATO-Angriff auf das neutrale Jugoslawien vor 15 Jahren eine Lüge: Es war Bundeskanzler Schröder am 24. März 99, der sagte: „Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident führt dort einen erbarmungslosen Krieg.“

Nichts davon stimmte. Klare Belege dafür, dass dies Lügen waren, lieferte der SPIEGEL schon drei Wochen später: Er zitiert aus Lageberichten der Bundeswehr aus dem Kosovo unmittelbar aus der Zeit vor dem Kriegsbeginn. Leider blieben sie unbeachtet. So für den 22. März. Das war ein Tag vor dem Kriegsbeschluss des NATO-Rats. Die Bundeswehr stellte wörtlich fest: „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.“ (Der Spiegel, 12.4.99) Und auf der NATO-Ratstagung am 23. März selbst sagte der US-Sondergesandte Richard Holbrooke: „Begänne die NATO jetzt mit Luftangriffen, sei mit Völkermord im Kosovo zu rechnen. Unter den serbischen Truppen dort herrsche ’blinder Hass’“. (Der Spiegel 29.3.99) Tags drauf begann das NATO-Bombardement. Die NATO hat die Katastrophe selbst ausgelöst, die sie der jugoslawischen Regierung immerfort in die Schuhe schob. Holbrooke lieferte den Beweis. Krieg verhinderte nicht die Katastrophe, wie Schröder behauptete, sondern löste sie aus.

NATO-Bomber warfen binnen 78 Tagen 20.000 Bomben vor allem auf zivile Ziele in Jugoslawien. Dabei auch deutsche ECR-Tornados. Sie feuerten über 100 Raketen zur Unterdrückung der jugoslawischen Flugabwehr ab (antimilitarismusinformation, 7/99). Am 10. Juni 99 beendete die NATO den Krieg. Er war ein Kriegsverbrechen.

Gerhard Schröder hat vor 14 Tagen öffentlich zugegeben, dass er mit der Bombardierung Jugoslawiens tatsächlich gegen das Völkerrecht verstoßen hat. Eher beiläufig sagte er: Sie hätten „einen souveränen Staat gebombt, ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte“. Herr Schröder, der Angriff auf Jugoslawien brach auch das Grundgesetz und verstieß gegen Gesetze. Sie und das Kabinett machten sich strafbar. Ich sage, Herr Schröder, Krieg ist bedeutend schlimmer als etwa Steuerhinterziehung, wie wär’s nach ihrem öffentlichen Geständnis mit einer förmlichen Selbstanzeige?

Nun zur Ukraine. Die westliche Propaganda behauptet, Putin habe mit der Annexion der Krim auf Konfrontation geschaltet. Ein neuer Kalter Krieg drohe. Putin breche das Völkerrecht und man wisse nicht, wo seine Eroberungsgelüste enden. Sanktionen seien notwendig, um ihn zu stoppen. EU und USA drohen gar mit einem Wirtschaftskrieg. Wir wissen: Der Westen ist schnell dabei, im Anderen die Schuldigen auszumachen, wenn er nicht so will wie er.

Wie ist es? Ist Putin der Böse? Nein, denn die Fakten sagen was anderes.

Es waren USA und NATO, die seit 1945 mit einem beispiellosen Atomwaffenprogramm die Sowjetunion bedrohten und die Welt an den atomaren Abgrund manövrierten. Nachdem sie Sieger des Kalten Krieges wurden, der Warschauer Pakt zerfiel, rückten sie Russland weiter auf den Pelz und nutzen die Territorien der neuen NATO-Mitglieder für ein Raketenabwehrprogramm, das gegen Russland gerichtet ist. Es ist der exklusive Club EU, der mit seinen Konzernen diese Länder ihren Kapitalverwertungsbedingungen unterwirft. Russland, in der Defensive, fühlt sich ständig vom Westen unter Druck gesetzt, gar gedemütigt. Die Ukraine ist aufgrund ihrer Größe und Lage von geopolitischer Bedeutung. In der US-amerikanischen Dominanz-Doktrin, nicht noch einmal einen Rivalen neben sich zu dulden, der die Größe der Sowjetunion erlangt, spielt die Ukraine die zentrale Rolle. Wird Russland der Zugriff auf die Ukraine verwehrt, so das Kalkül, kann es keine Weltmachtrolle mehr spielen. Der Assoziierungsvertrag zwischen der Ukraine und der EU sollte für diese Abtrennung die Weichen stellen. Würde die Ukraine dieses Freihandelsabkommen unterschreiben, wäre eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Union mit Russland, Kasachstan und Weißrussland, einer Zollunion, ausgeschlossen. Die berechtigte Angst Moskaus ist, dass die Ukraine dann eines Tages Mitglied der EU und auch tatsächlich Mitglied der NATO würde, wie es ihr seit 2008 versprochen ist. Von EU-Seite zu behaupten, die Ukraine brauche sich nicht zwischen der EU und Russland zu entscheiden, ist eine Lüge. Der Assoziierungsvertrag ist der Auslöser für diesen Konflikt. Die Verantwortung für die Eskalation liegt in Washington, Berlin und Brüssel.

Richtig ist auch, die russische Annexion der Krim war völkerrechtswidrig. Sezessionen sind erlaubt, aber nur, wenn sie im Einvernehmen mit dem Reststaat geschehen. Und das ist hier nicht der Fall. Das Völkerrecht entschleunigt den Prozess der Abtrennung, um Kriege zu vermeiden. Mit ihrem Coup unterläuft die russische Regierung das Völkerrecht.

Dass der Westen nun am lautesten Völkerrechtsbruch in Richtung Moskau schreit, ist schon sehr verwunderlich, denn er war es doch, der Völkerrechtsbrüche am laufenden Band geliefert hat: Heute vor 15 Jahren beim Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien, 2003 beim US-Angriff auf den Irak, jeweils vorbei am UN-Sicherheitsrat, oder 2011 beim NATO-Angriff auf Libyen, bei dem das UN-Mandat den Regime-Change nicht hergab. Die NATO- und EU-Regierungen haben sämtliche Glaubwürdigkeit verspielt, lieferten sie doch Russland geradezu die Blaupausen durch ihre völkerrechtswidrigen Kriege.

Jedoch muss auch gesagt werden, eine völkerrechtskonforme Ablösung der Krim aus der Ukraine hätte möglicherweise Spannungen vermieden. Denn so ist die Lage hektisch geworden. Die Ukraine rüstet auf und macht mobil, die Faschisten der Ukraine kündigen an, bewaffnet auf die Krim zu ziehen, Russland verschiebt Militär dorthin. Transnistrien erneuert seinen Wunsch nach Beitritt zur russischen Föderation, Russland führt Manöver in Transnistrien durch. Die Lage in der Ostukraine ist unübersichtlich, von russischen Truppenaufmärschen entlang der Ostgrenze der Ukraine wird berichtet. Der Westen eskaliert die Sanktionen, die NATO reklamiert ihre Existenzberechtigung und verlegt Kampfflugzeuge an Russlands Westgrenze. Die Versorgungslage der Krimbewohner ist ungewiss. Ihre Versorgung mit Wasser und Strom erfolgt fast komplett von der Ukraine aus. Stromabschaltungen wurden schon gemeldet. Wie werden die Bürgerrechte der Minderheiten, insbesondere der Krimtataren gesichert? Alles unbeantwortete Fragen, die der russische Annexionscoup ausgelöst hat.

Liebe Freundinnen und Freunde, eines macht das russische Vorgehen jedoch unmissverständlich klar und ist die zentrale Erkenntnis aus den Vorgängen: Russland ist nicht länger bereit, das westliche Dominanzgebaren vor seiner Haustür hinzunehmen! Westliche Politik muss dem Rechnung tragen! Wie? Als Erstes muss die EU das Freihandelsabkommen mit Kiew auf Eis legen! Und auch das mit Moldawien, denn in Moldawien ist die Minderheit der Gagausen mit dem Westkurs der Regierung in Chisinau überhaupt nicht einverstanden. Moldawien und Ukraine sind ähnlich gelagerte Konflikte. USA und EU müssen die Sanktionen zurücknehmen! Und die Bundesregierung? Sie muss die unerträgliche Kumpanei mit der von Faschisten durchsetzten Putsch-Regierung in Kiew einstellen! Der Westen muss zu kooperativen Formen der Konfliktaustragung zurückfinden, denn seine fortgesetzte Konfrontationspolitik führt unweigerlich zurück in den Kalten Krieg und verschärft die Spannungen in der Welt. Krieg darf kein Mittel der Politik sein!

Rede auf der Protestkundgebung "Kriege beginnen mit Lügen" am 24. März 2014 in Berlin (Breitscheidplatz)

* Lühr Henken, Friedenskoordination Berlin und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


Nach der Hybris

Rückbesinnung auf das Völkerrecht

Von Alexander S. Neu **


Jugoslawien-Krieg, Irak-Inva­sion, Libyen-Intervention – die im Wahn der Hybris begangenen Völkerrechtsbrüche der »westlichen Wertegemeinschaft« rächen sich jetzt. Nichtwestliche Staaten, hier konkret Rußland, nutzen die geschaffenen Präzedenzfälle, um eigene geostrategische Interessen durchzusetzen. Es besteht die Gefahr der weiteren Erosion des Völkerrechtes. Daher muß der Westen dringend umdenken und sich im Zeichen einer multipolaren Weltordnung endlich wieder auf internationales Recht besinnen. Ein erster Schritt ist die kritische Selbstreflexion des westlichen Rechtsnihilismus – also das offene Eingeständnis, massive Rechtsverstöße begangen und andere Staaten und deren Menschen zur reinen Verfügungsmasse eigener Interessenspolitik degradiert zu haben.

Die Verurteilungsorgien gegen Rußland zeugen jedoch nicht von dieser Einsicht. Wie auch? Die Hybris ist ja nicht rational, sondern Resultat einer krankhaften Selbstüberschätzung. Erstaunlich ist, wie unkritisch hiesige Medien diese weiter befeuern. Die sogenannte vierte Gewalt versagt in der Außen- und Sicherheitspolitik noch jämmerlicher als in der Innenpolitik. Journalisten betätigen sich als mediale Militärstrategen und Feldkommandeure, statt ihrer Aufgabe der Informationsverbreitung nachzukommen.

Auch die Verhaltensweisen der SPD und Grünen zeugen davon, wo sie stehen, wo sie standen und wo sie auch weiter stehen werden. Es ist zwar erfrischend, daß ausgemusterte Politiker wie Gerhard Schröder, Günter Verheugen oder Antje Vollmer Klartext reden. Aber täten sie dies auch, wenn sie noch in Amt und Würden wären? Eher unwahrscheinlich. Das zeigt auch: Wer etwas in diesem Land werden oder bleiben will, muß die Klaviatur des Imperialismus mitspielen.

Ob die Entscheidung Moskaus im Hinblick auf die Krim das Völkerrecht nun weiter erodieren läßt oder im Gegenteil sogar zu neuer Lebendigkeit führt, liegt nicht an Rußland, sondern in der Verantwortung des Westens: Reagiert dieser auf die realexistierende multipolare Weltordnung mit Rückbesinnung auf das Völkerrecht, oder versucht man nun erst recht, mit Brachialgewalt die Uhren auf Unipolarität zurückzudrehen? Im Falle einer Rückbesinnung des Westens auf das Völkerrecht hätte die Entscheidung Rußlands, die Krim zu übernehmen, ironischerweise für die internationale Rechtsordnung auf indirekte Weise etwas Gutes gehabt. Das Völkerrecht gilt entweder für alle oder für keinen.

Die Linke ist gefordert, für ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zusammen mit Rußland einzutreten. Etwaige Überlegungen, das Kriegsbündnis NATO selbst zu einem Sicherheitskollektiv zu transformieren, negieren den gegensätzlichen Charakter eines Sicherheitskollektivs und eines Interventionsbündnisses. Die NATO gehört aufgelöst.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 25. März 2013 (Gastkommentar)


Zurück zur Friedensbewegungs-Seite

Zur Friedensbewegungs-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Seite "NATO-Krieg gegen Jugoslawien"

Zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage