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"Gewaltfreiheit hat mit Untätigkeit, feigem Heraushalten und naiver Träumerei nichts zu tun"

Rede von Oberlandeskirchenrätin Ruth Gütter zum Antikriegstag in Kassel *

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen,

heute vor genau 75 Jahren am frühen Morgen des 1. September 1939 begann mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen der 2. Weltkrieg. Ein Krieg, der in deutschen Namen unsagbar viel Leid und Tod über die ganze Welt gebracht hat. 60 Millionen Soldaten und Zivilisten wurden durch diesen Krieg getötet, viele Städte weltweit zerstört, unzählige Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. 6 Millionen Juden und andere gesellschaftliche Minderheiten wurden durch die nationalsozialistische Schreckensherrschaft umgebracht. Daran erinnert uns auch dieses Mahnmal. Daran denken wir heute als Deutsche mit Trauer und Scham zurück.

Auch die Stadt Kassel hat im 2. Weltkrieg als Standort für Rüstungsindustrie viel Leid und Zerstörung erlebt. Die Kasseler Innenstadt wurde fast vollständig zerstört. Meine 84 jährige Mutter z.B. hat als Kind die großen Bombenangriffe auf Kassel erlebt, sie hat wie viele andere in ihrem Alter Schreckliches gesehen und bis heute nicht vergessen. Als wir vor kurzem in dem Stück Anne Frank waren, das hier am Staatstheater aufgeführt wurde, und dort akustisch die Angriffe simuliert wurden, hat sie auch nach über 70 Jahren noch gezittert. Übrigens wäre Anne Frank, wenn sie überlebt hätte, heute auch 84 Jahre alt.

Nur wenige Menschen waren bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten hellsichtig und mutig genug, um sich gegen die menschenverachtende Politik Hitlers zu stellen. Auch in den Kirchen waren es zu Wenige, die die drohende Gefahr erkannten und ihr widersprachen. Einer von ihnen- der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der später am Attentat auf Hitler beteiligt war und dafür kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde- hat sich schon 1933 öffentlich gegen den unheilvollen Führerkult ausgesprochen. 1934 – also genau vor 80 Jahre- hat er bei einer internationalen kirchlichen Konferenz auf der dänischen Insel Fanö etwas sehr Weitsichtiges zum Verhältnis von Frieden und Sicherheit gesagt, was für unsere Ohren sehr aktuell klingt. „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals ? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden. Friede ist das Gegenteil von Sicherheit. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg. “ Weiter fordert er, dass die Kirchen ein Konzil des Friedens einberufen sollen, bei dem sie, wie er sagt „ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nehmen und ihnen den Krieg verbieten“.

Erst sehr viel später nach dem 2. Weltkrieg fanden die Kirchen den Mut, dem Krieg endlich nach Jahrhunderten der Rechtfertigung eine eindeutige Absage zu erteilen. 1948 bekannten die Kirchen bei der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“.

Nie wieder Krieg - so haben es sich viele auch in unserem Land und sicher auch hier in Kassel nach diesen schrecklichen Erfahrungen geschworen. Viele haben sich deshalb in den 50 er Jahren gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und in den 70er Jahren gegen das Wettrüsten der beiden großen militärischen Blöcke – der Nato und des Warschauer Pakt- gewandt und sind dafür auf die Straße gegangen. Darunter auch viele aus den Kirchen, die in den 80er Jahren begannen, sich in einem gemeinsamen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu engagieren. Dabei beriefen sich sie sich auch auf Bonhoeffers Forderung nach einem Konzil des Friedens. Dieser sogenannte konziliare Prozess hat wie viele auch mich in meinem beruflichen und persönlichen Werdegang als Pfarrerin, als Beauftragte für kirchlichen Entwicklungsdienst, als Referentin bei der EKD in Hannover und nun auch als Leiterin des Ökumenedezernates meiner Landeskirche geprägt.

An einem Tag wie diesem schauen wir nicht nur zurück auf die Vergangenheit vor 75 Jahren, sondern wir schauen auch voller Sorge und Erschrecken auf das, was heute wieder in den vielen aktuellen Krisenherden unserer Erde geschieht. Die gewaltsamen Konflikte und militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine, in Syrien, in Israel und Palästina und insbesondere der Terror gegen Minderheiten im Irak treibt uns alle um. Es scheint so, dass die Welt wieder einmal aus den Fugen gerät.

Einige in Politik und Gesellschaft meinen, dass angesichts dieses Terrors nur noch Waffenlieferung und militärische Interventionen helfen können. Obwohl die Erfahrungen in den letzten 20 Jahren in vielen Ländern uns eindeutig etwas anderes lehren, denn in den allermeisten Fällen haben militärische Interventionen die Lage nur noch verschlimmert. Dennoch: ich kann auch die verstehen, die meinen, dass man mit militärischen Mitteln intervenieren muss, wenn Menschen Opfern von Gewalt und Terror werden. Auch Bonhoeffer hat sich für den gewaltsamen Widerstand gegen Hitler entschieden. Jedoch hat er diese Entscheidung zu keinem Zeitpunkt ethisch gerechtfertigt. Er war vielmehr der Überzeugung, dass man in solchen Extremsituationen nur die Wahl hat, zwischen Schuld und Schuld zu wählen. Angesichts des Schreckens und der brutalen Gewalt, die die islamistische Terrorgruppe Isis im Irak verbreitet, ist es für mich deshalb zwar einerseits verständlich, dass man meint, dem Treiben dieser Terrorgruppe auch militärisch Einhalt gebieten zu müssen. Dennoch bezweifle ich, ob dies sowohl politisch als auch ethisch der richtige Weg ist.

Für mich persönlich als Christin kann der Weg zum Frieden in der Nachfolge Jesu und nach der Botschaft der Bergpredigt nur der des Gewaltverzichtes sein. Frieden lässt sich nicht mit Waffen erzwingen. Frieden ist nach christlichem Verständnis ein Wagnis, dem Frieden Gottes zu vertrauen und mit diesem Vertrauen sich auf den Weg in die Nachfolge Jesu zu begeben. Frieden kann es nur geben durch aktive Gewaltfreiheit, durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Aggressionen, durch Schritte der Versöhnung und durch Schaffung gerechter Verhältnisse. Das ist aktive und konkrete Arbeit, Friedensarbeit, und hat mit Untätigkeit, feigem Heraushalten und naiver Träumerei nichts zu tun. Die weltweit über 360 Mitgliedskirchen im Ökumenischen Rat der Kirche haben im vergangenen Jahr einen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens ausgerufen. Ein Pilgerweg kann auch sehr mühsam und entbehrungsreich sein. Der Weg zum Frieden auf dieser Erde ist kein leichter Weg. Er ist und bleibt ein Wagnis.

Wir stehen hier zwischen zwei Figuren: der Trauer und der Hoffnung. Beide können uns leiten auf diesem schweren Weg zum Frieden. Die Trauer erinnert uns an die vergangenen Schrecken und mahnt uns: nie wieder. Die Hoffnung gibt uns die Kraft, die Gegenwart mutig zu gestalten, trotz allem für aktive Gewaltfreiheit, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten.

* Dr. Ruth Gütter, Oberlandeskirchenrätin; Dezernentin für Mission, Ökumene und Entwicklungsfragen der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Frau Gütter hielt die Rede bei einer Antikriegstagsveranstaltung des Kasseler Friedensforums am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Kassel am 1. September 2014, um 5 Uhr 45.


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