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Bleibt der Frieden auf der Strecke?

Anmerkungen zur Bundestagswahl 2009

Von Peter Strutynski

Nach dem Ergebnis der Bundestagswahl 2009 kann man nur froh sein, dass die Friedensbewegung keine Partei ist und demnach auch nicht zur Wahl stand. Ihr Ergebnis nämlich wäre nicht sonderlich gut ausgefallen. Warum? Weil außen- und sicherheitspolitische Fragen bei bundesdeutschen Wahlen so gut wie nie ins Gewicht fallen. Von dieser allgemeinen Feststellung gibt es in den letzten 60 Jahren nur zwei Ausnahmen. Einmal war es einer breiten außerparlamentarischen Bewegung für die Ostverträge (Warschauer und Moskauer Vertrag zur Anerkennung der Nachkriegsgrenzen) zu verdanken, dass Willy Brandts SPD 1972 gegen den Putsch der Barzels & Co. die Oberhand behielt. Dies war damals, nachdem der innenpolitische Lack der ersten sozialliberalen Koalition weitgehend abgebröckelt war, das einzige Thema, mit dem Brandt punkten konnte. Und 2002 rettete sich die angeschlagene rot-grüne Koalition in letzter Minute mit der Entdeckung des Irak-Themas über die Runden. Schröders eindeutige Absage an einen von den USA vorbereiteten Krieg gegen Irak gab nach allen einschlägigen Analysen den Ausschlag für den neuerlichen Wahlsieg von Rot-Grün.

2009 versuchte die Friedensbewegung das Thema „Afghanistan“ in die Auseinandersetzung der Parteien und Wählerstimmen und Sitze einzubringen. Der Versuch war nicht umsonst und dürfte auch nicht folgenlos bleiben. Zunächst einmal ist jedoch zu konstatieren, dass das Thema weniger wegen der Anstrengungen der Friedensbewegung, sondern mehr wegen des verheerenden Luftangriffs bei Kundus vom 4. September in die Schlagzeilen geriet. Ausgerechnet auf deutschen Einsatzbefehl hin fand eines der größten Massaker des Afghanistankriegs statt, bei dem selbst nach Eingeständnis der afghanischen Regierung mehr als 30 Zivilpersonen ums Leben kamen. Wo doch die Bundesregierung bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit ihren Ansatz der „vernetzten Sicherheit“ und das Konzept der zivil-militärischen Kooperation (CIMIC) in höchstem Maße lobte und gegen das „robuste“ Vorgehen der US-Truppen in Anschlag brachte. Ausgerechnet ein deutscher Kommandeur, der nach Aussagen des Ministeriums eher „besonnen“ und „kein Hasardeur“ sei (diese Erklärung muss man sich im Mund zergehen lassen, bedeutet sie doch im Umkehrschluss, dass es ansonsten jede Menge unbesonnener Truppenführer mit „Hasardeurs“-Eigenschaften gibt), gab den Befehl zu einem Angriff, der erstens nicht zu verantworten war und zweitens selbst nach NATO-Kriterien gar nicht hätte gegeben werden dürfen! Ein Verteidigungsminister, der um seinen (guten) Ruf besorgt sein müsste, hätte den (un)verantwortlichen Kommandeur umgehend von seinem Posten abberufen. Ein demokratisches Parlament, das diesen Namen auch verdient, hätte den Verteidigungsminister zur Verantwortung ziehen müssen. Dass beides nicht geschah und dass stattdessen innerhalb weniger Tage eine Welle falsch verstandener Solidarität mit dem Soldaten und seinem obersten Dienstherren durch die Reihen der Politik und durch den Blätterwald schwappte, gehört wohl zu den Urinstinkten deutschen Korpsgeistes: Oberst Klein ist einer von uns, der „seine Pflicht“ getan hat, und der zuständige Minister verdient den Schulterschluss aller demokratischen Parteien (die LINKE gehört selbstredend nicht dazu). Deutlich wurde dies bei einer auf Antrag von Grünen und der LINKEN einberufenen Sondersitzung des Bundestags am 8. September 2009, in dessen Verlauf vier Fraktionen das hohe Lied auf das Vaterland, das in Afghanistan verteidigt würde, gesungen haben und nur die Schmuddelkinder aus der Reihe tanzten. Es war ein Tiefpunkt der deutschen Parlamentsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich der FDP-Vorsitzende Westerwelle als „Oppositions“-Vertreter zu der Bemerkung veranlasst sah: „Hier geht es nicht um Parteien, hier geht es um unser Land“. Ob der künftige Außenminister so weit in der deutschen Geschichte bewandert ist, dass er den Ausspruch kannte: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“? (Kaiser Wilhelm II am 4. August 1914 im Reichstag, nachdem alle Fraktionen den Kriegskrediten zugestimmt hatten.) Nehmen wir zu seinen Gunsten an, er wusste, woran er mit seinem Satz anknüpfte, dann hat er sich und die Bundesrepublik Deutschland bewusst in die Traditionslinie des deutschen Imperialismus von 1914 bis heute gestellt. Die FDP hat sich offenbar nie ganz von diesen Wurzeln befreien können, auch wenn der harte Kern des nationalen Flügels um den Eisernen-Kreuz-Träger Erich Mende Anfang der 70er Jahre die Partei verlassen hatte.

Natürlich hatte auch die Friedensbewegung ihren Anteil daran, dass Afghanistan im Wahlkampf wenigstens eine Rolle spielte. Die Kampagne „Truppen raus aus Afghanistan“ – ein sehr breites Bündnis der Friedensbewegung – entschloss sich zur Auflage eines „Massenflugblatts“, das zunächst in einer Auflage von 35.000 gedruckt und weitgehend auch verteilt wurde, und zwar gezielt bei Wahlveranstaltungen der konkurrierenden Parteien. Das Flugblatt wurde in der Regel gern genommen, wenn auch manchmal nur mit der Versicherung, dass es sich nicht um die Wahlwerbung einer Partei handelte. Über die inhaltliche Wirksamkeit des Flugblatts lassen sich keine verallgemeinerbaren Aussagen treffen. Persönliche Eindrücke sprechen dafür, dass es eher auf Zustimmung denn auf Ablehnung stieß. Neben dem Flugblatt der „Kampagne“ gab es weitere Materialien, mit denen Organisationen der Friedensbewegung in die Wahlauseinandersetzung gingen. Erwähnenswert ist die Postkartenaktion der DFG-VK („Schritte zur Abrüstung“), die das Afghanistan-Thema ebenfalls an prominenter Stelle enthielt und bei Veranstaltungen der Friedensbewegung und der LINKEN gut angenommen wurde. Inwieweit lokale Initiativen mit den Forderungen nach einem Truppenabzug mit eigenen Materialien arbeiteten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nach dem Kundus-Massaker hatte der Bundesausschuss Friedensratschlag, der zufällig am darauf folgenden Sonntag sich in Kassel traf, die Friedensbewegung spontan aufgerufen, nach Möglichkeit am Mittwoch der folgenden Woche überall im Land Aktionen durchzuführen. Trotz der Kurzfristigkeit des Ansinnens bewies die Friedensbewegung ihre Mobilisierungsfähigkeit. Innerhalb von drei Tagen wurden – meist nur über e-mails kommuniziert – in über 30 Städten Kundgebungen, Mahnwachen und andere Aktionen improvisiert. Der Erfolg dieser Aktionen lässt sich nicht an den Teilnehmerzahlen ablesen. Die waren eher bescheiden: Größenordnungen von 100 bis 200 waren schon Spitzenergebnisse. Entscheidender dürfte gewesen sein, dass die eigenen Aktivistinnen und Aktivisten und deren sympathisierendes Umfeld aktiviert werden konnten. Auch die Darstellung in der Öffentlichkeit war ausgesprochen positiv und wurde nicht selten mit entsprechenden Artikeln in den Lokalblättern honoriert. Und wem die Zahl 30 nicht besonders spektakulär vorkommt: Diese Aktionen fanden ja zusätzlich statt zu den sonstigen Aktivitäten, welche die Friedensinitiativen anlässlich des Antikriegstags wenige Tage zuvor auf die Beine gestellt hatten. Nach meiner Zählung auf der Grundlage des Veranstaltungskalenders des Netzwerks Friedenskooperative und der regionalen DGB-Websites waren dies über 200 Veranstaltungen – die Mehrheit von ihnen befasste sich schwerpunktmäßig mit dem Afghanistan-Krieg.

Es mag auch dem seit mehreren Jahren anhaltenden Drängen der Friedensbewegung geschuldet sein, dass die Afghanistanfrage auch im diesjährigen Aufruf des DGB zum Antikriegstag einen herausgehobenen Platz erhielt. Der DGB formulierte: „Wir fordern, den Bundeswehreinsatz schnellstmöglich zu beenden und Afghanistan beim Aufbau einer nachhaltigen Zivilgesellschaft zu unterstützen.“ Des Weiteren stellt sich der DGB demonstrativ an die Seite der Friedensbewegung, wenn es heißt: „Die alte Forderung der Friedensbewegung ist unverändert aktuell: Frieden schaffen ohne Waffen!“ Dass dies keine Lippenbekenntnisse sind, konnte man daran sehen, dass die meisten Antikriegstags-Veranstaltungen gemeinsam von Gewerkschaften und lokalen Friedensbündnissen getragen wurden.

Gleichwohl bleibt die Erkenntnis, dass über solche Aktionen hinaus das Friedensthema im Wahlkampf unterbelichtet blieb. Offenbar hat der Afghanistan-Krieg zwar die Köpfe der Menschen erreicht (wofür die konstant eindeutigen Ablehnungsquoten bei Umfragen sprechen), nicht aber ihre Herzen. Der Krieg wird politisch abgelehnt, er wird aber nicht als existenziell bedrohlich empfunden. Die Menschen fühlen sich nicht unmittelbar von ihm betroffen. Intellektuelle Einsicht und moralische Betroffenheit müssen aber zusammenkommen, um Massen in Bewegung zu bringen.

Hinzu kommt eine andere Erfahrung: Viele Menschen mögen den Krieg ablehnen, so wie sie Hartz IV und die Agenda 2010 ablehnen. Wahlentscheidungen werden häufig aber nach anderen Gesichtspunkten getroffen. Wenn bei der Bundestagswahl 2009 die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit weit oben rangierte, so musste sich das nicht im Wahlverhalten widerspiegeln. Hier zählte möglicherweise die Frage nach der größeren wirtschaftlichen Kompetenz. Gerade in einer Zeit der wirtschaftlichen Rezession (die keineswegs überwunden ist) und am Vorabend eines gigantischen Staatsbankrotts (der von kaum jemandem bestritten wird), wenden sich die Hoffnungen vieler Menschen denjenigen zu, die über die nächste Nähe zur „Wirtschaft“ verfügen. Da konnte Steinmeier noch so viele Millionen Arbeitsplätze versprechen: Die Unternehmer und ihre Verbände sind es – so die nüchterne Einschätzung der Wähler/innen -, die darüber entscheiden, wie viel davon realisiert wird oder auch nicht. Und über den besseren Zugang zum Industrie-, Handels- und Bankkapital verfügen nun einmal weder SPD (obwohl sie manchmal so tut), noch GRÜNE (obwohl sie gern möchten) noch gar die LINKE (die das für sich gar nicht in Anspruch nimmt). So haben wir im Ergebnis der Wahl die paradoxe Situation, dass zwar mit der SPD eine Partei abgestraft wurde, die für die sozialen Grausamkeiten der Schröder-Ära steht (die Grünen hatten das Glück der vierjährigen Opposition), dass aber diejenigen Parteien, die alles noch neoliberaler und unsozialer gemacht hätten, jetzt mit der Regierung beauftragt wurden. Und dass die kriegsskeptische Bevölkerung mehrheitlich jenen Parteien die Stimme gegeben hat, die die sicherste Garantie für die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan darstellen – weitere Kriegsbeteiligungen nicht ausgeschlossen.

Die Friedensbewegung – wenn ich das einmal so pauschal sagen darf – hatte ein Wahlziel: Es sollten in den 17. Bundestag mehr Abgeordnete einziehen, die NEIN zum Afghanistankrieg sagen. Dies ist gelungen. Nicht nur ist die LINKE mit bedeutend mehr Abgeordneten in Berlin vertreten (76 Sitze gegenüber 54), auch bei den Grünen dürften sich ein paar Kriegsgegner mehr auf den Landeslisten durchgesetzt haben. Die Grünen und die in die Opposition verbannten Sozialdemokraten werden gut daran tun, wieder etwas mehr auf die Stimmung ihrer Basis zu vertrauen als auf die Einflüsterungen der Herrschenden. Ob sich gegen Schwarz-Gelb, also unter erschwerten Bedingungen, etwas in Richtung Frieden und sozialer Fortschritt bewegen lässt, wird letztlich von den außerparlamentarischen Kräften abhängen - von den Gewerkschaften, den Demokratie- und Bürgerrechtsbewegungen bis hin zur Friedensbewegung und den anderen sozialen Bewegungen.

Kassel, 28. September 2009

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Das "schlechteste Wahlergebnis" aus Sicht der IG Metall


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