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"Was hat eine humanitäre Intervention mit dem Töten von Menschen zu tun?"

Verteidigungsrede der Angeklagten Brigitte Gärtner-Coulibaly*

* Die Angeklagte wurde in zweiter Instanz von dem Berliner Gericht im Januar 2001 freigesprochen. Die Angeklagte habe sich mit ihrem Engagement "ehrenhaft" verhalten, urteilte der Richter. Gratulation, Brigitte! Gratulation, Herr Richter!

"Als der NATO-Krieg gegen Serbien am 24. 03. begann, war es nach offizieller Lesart gar kein Krieg, sondern es handelte sich angeblich um eine "humanitäre Intervention". Ich frage: was hat eine humanitäre Intervention mit dem Töten von Menschen, dem Einsatz von Cluster-Bomben, uranabgereicherten Bomben, der Zerstörung von Brücken, Fabriken, Elektrizitätswerken, Raffinerien, Rundfunksendern, Schulen (fast die Hälfte aller Schulen in Kosovo ist zerstört oder beschädigt), Krankenhäusern, Botschaften, Altenheimen, Wohnhäusern, Kindergärten, dem Luft-Angriff auf Flüchtlingskonvois zu tun? Sogenannte Kollateralschäden wurden, wenn nicht sogar beabsichtigt, so doch billigend in Kauf genommen. Bereits zu Beginn des Krieges wurde deutlich, daß die NATO und damit Deutschland sich Kriegsverbrechen schuldig machte.

Der Schutz der Menschenrechte ist unvereinbar mit solchem Tun. Wie sich im Laufe der Kriegs-Zeit und danach herausstellte - dies wurde auch von der NATO selbst erklärt - hat der Krieg die angegebenen Ziele nicht erreicht. Konnte er auch gar nicht. Die systematische Vertreibung der Bevölkerung wurde erst recht in Gang gesetzt, die Gewalt nahm zu. Das Land wurde verwüstet. Und die ökologischen Schäden einschließlich der Uran-Verseuchung und damit die Zerstörung der Lebensgrundlage der Menschen und Tiere sind heute noch längst nicht abzusehen. Inzwischen ist die fast vollständige Vertreibung der serbischen und anderer Bevölkerungsteile unter dem "Schutz" der internationalen Truppen erfolgt. Laut UNHCR sind 200.000 Serben und Angehörige anderer Minderheiten geflüchtet, ohne daß die Öffentlichkeit Notiz davon nimmt. Vergleiche mit Auschwitz seitens einiger unserer Politiker, allen voran Herr Scharping, waren nichts als eine Propaganda-Behauptung, gegen die sich Kriegsgegner gewehrt haben.

Auch wenn Regierungsvertreter zu Beginn der Luftangriffe das Wort "Krieg" nicht in den Mund nehmen wollten, handelte es sich doch sehr wohl um einen Krieg, und zwar um einen Angriffskrieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Ich verweise auf Anlage 1 - Auszüge Nordatlantikvertrag, Charta der Vereinten Nationen, SPD-Wahlprogramm 1998 und Koalitionsvereinbarung SPD und Grüne vom 20. 10. 98. - Hat je in der Geschichte der Menschheit eine Nation, die einen Krieg begann, zugegeben daß dieser nicht rechtens sei? Nein.

Bei diesem ersten Krieg, den die BRD seit ihrem Bestehen geführt hat, gingen große Teile der Bevölkerung den mehr oder weniger gleichgeschalteten Medien auf den Leim und echoten unreflektiert "wir hatten doch keine andere Wahl". Interessiert/e sich die NATO/BRD für den wie lange schon anhaltenden Mord an den Kurden? An das Morden in Ruanda? An das Morden im Sudan? Die Reihe ließe sich fortsetzen. Nein. Meine Schlußfolgerung ist, daß es der NATO nicht um die Menschenrechte ging, die sie zu schützen vorgab, sondern um ganz andere politische Interessen.

Ich glaube, dieser Krieg war ein Testfall. Nicht nur für das Testen von Waffen, sondern auch dafür, wie weit Politik gehen kann, ohne daß die Bevölkerung "Nein" schreit.

Hat sich der Großteil der deutschen Bevölkerung dafür interessiert, was die neue NATO-Doktrin - Selbstmandatierung für internationale Militäreinsätze - für uns alle bedeuten wird? Die erfahrene Gleichgültigkeit vieler Menschen hierzulande macht mich umso verzweifelter, als ich sehenden Auges erkennen muß, daß wahrscheinlich dieser Krieg nicht der letzte gewesen sein wird, der auch von deutschem Boden ausgeht.

Die Juristenorganisation IALANA, die sich international gegen atomare, biologische und chemische Waffen einsetzt, hat den Kosovo-Einsatz der NATO als eklatanten Verstoß gegen die UN-Charta und damit als völkerrechtswidrig bezeichnet. Die IPPNW hat sich gegen den Krieg gewandt und zu Protesten aufgerufen. Der Berliner Justizsenator Ehrhart Körting hat in einem Gastbeitrag in der FR (26. 05. 99) das tägliche Bombardement in Serbien und Montenegro, in Belgrad und Novi Sad als völkerrechtswidrig bezeichnet. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie rief zum Protest gegen den NATO-Angriff auf Jugoslawien auf. Ich verweise auf Anlagen 2 - 6. Mit meiner Unterschrift unter den inkriminierten Aufruf wollte ich niemand zu Straftaten aufrufen, sondern im Gegenteil davon abhalten.

Übrigens hat die NATO jugoslawische Soldaten dazu aufgerufen, die Truppe zu verlassen. Allerdings unter Androhung von militärischer Gewalt. In dem inkriminierten Aufruf wird an das Gewissen der Soldaten appelliert. Ich verweise auf Anlage 7. ("Am Abend des 24. 03. 99 ...")

Wie viele andere fühlte ich mich gelähmt, unter Schock stehend, konnte/wollte zuerst nicht glauben, daß das, was da geschieht, Wirklichkeit ist. Deutschland war zum erstenmal nach Ende des zweiten Weltkrieges an einem Angriffskrieg beteiligt. Die Sorge um die bombardierten Menschen paarte sich mit der Angst, dieser Krieg könnte sich zu einem weiteren Weltkrieg ausweiten. Ich konnte kaum noch schlafen und begann fieberhaft nach Möglichkeiten zu suchen, dem etwas, wie bescheiden auch immer, entgegenzusetzen. Meine berufliche Tätigkeit war nur noch mit größten Mühen verantwortlich aufrechtzuerhalten. Spontan habe ich meine Kandidatur (als Nichtmitglied) für die Partei der Grünen zurückgezogen, weil ich mich schämte, mit Kriegsbefürwortern in einen Topf geworfen zu werden.

Seit dem 24. 03. habe ich mein Fernsehgerät abgeschaltet. Und die Zeitungen kritischer, d. h. bewußter auch zwischen den Zeilen gelesen. Mir wurde immer klarer, wie sehr wir alle durch die Massen-Medien belogen wurden und werden. Und von der Regierung, von der wir immer noch regiert werden und die bisher - noch - nicht vor Gericht stehen muß. Nach meinem Kenntnisstand ist nach geltendem internationalem Recht auch die Androhung von militärischer Gewalt strafbar. - Viel schlimmer aber: Das Rambouillet-Abkommen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Inhalt des Annex B, (Festschreibung eines Besatzungsstatus) wurde sogar den Bundestags- Abgeordneten vorenthalten. D. h. die an der Abstimmung über Krieg und Frieden beteiligten Mitglieder des Bundestages WUSSTEN gar nicht, worüber sie abstimmten. Angelika Beer (Grüne) äußerte damals öffentlich, daß sie ihre Zustimmung zu dem Krieg nicht erteilt hätte, wenn sie um den Inhalt dieses Anhanges gewußt hätte. Ähnliche Aussagen habe ich von SPD-Bundes-Politikern gehört bzw. gelesen.

Beim Parteitag der Grünen in Bielefeld habe ich selbst gehört, wie der Außenminister Fischer unmittelbar vor der entscheidenden Abstimmung sinngemäß sagte: ihr könnt beschließen was ihr wollt, ich werde mich nicht daran halten. So also funktioniert Demokratie.

Am 29. 03. 99 hörte ich im Radio (WDR 2), daß englische Streitkräfte ihre Bomben mit der Aufschrift "Frohe Ostern" versehen hatten. Welch ein Zynismus!

Wir organisierten vor Ort Mahnwachen, Diskussionsveranstaltungen u. a. Aktivitäten. Als endlich der Aufruf, um den es hier geht, bei mir eintraf, war ich froh und unterschrieb ihn ohne zu zögern. Ich verbreitete diesen Aufruf wo immer ich konnte. Weil für mich jeder Krieg gegen die Menschenwürde geht. Für die Opfer UND für die Täter.

Daß der Aufruf als Anzeige in der Tageszeitung taz erschien, wußte ich vorher nicht, billige dies aber im Nachhinein ausdrücklich. Ebenfalls bin ich Herrn Theisen, der den Aufruf an verschiedene Bundeswehr-Institutionen verschickt hat sowie anderen, die ihn öffentlich verteilt haben, dankbar.

Aus all den genannten Gründen konnte ich nicht davon ausgehen, daß ich mit der Unterschrift unter den inkriminierten Aufruf etwas Strafbares getan habe. Das sehe ich auch heute noch so. Differenziertere Überlegungen darüber, ob ein Soldat einzelne Befehle verweigern oder sich ganz von der Truppe entfernen sollte, habe ich nicht angestellt. Dieser Aspekt war mir auch gleichgültig, weil ich nur wollte, daß der Krieg beendet wird.

Daß sich die Berufssoldaten, die im Krieg eingesetzt waren, massenhaft von der Truppe entfernen würden, habe ich nicht erwartet, wiewohl ich es mir sehr gewünscht hätte: "Stell Dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin!"

Kurz hinweisen möchte ich auf die Mauerschützen-Prozesse. Den Angeklagten wurde vorgehalten, daß sie selbst hätten entscheiden müssen, ob ihr Tun rechtens war oder nicht. Dasselbe gilt, denke ich, für Soldaten der Bundeswehr.

Im April 1945 wurde ich in einem Luftschutzbunker geboren. Während meiner Kindheit war ich mit dem Trauma des Krieges und dessen Folgen konfrontiert gewesen - auch und insbesondere in meiner Familie. Mein Vater war mehrfach wegen seiner Kriegsgegnerschaft in KZ-Haft, ist gefoltert worden und trug körperliche und seelische Langzeitschäden davon. Dieses Trauma hat mich mein Leben lang begleitet. Ich sah mich mit neuer Auf-Rüstung und Atombombentests konfrontiert. Als die Bundeswehr als "reine Verteidigungsarmee" installiert wurde, behaupteten "böse Zungen" damals schon, daß es dabei nicht bleiben werde. Auch wenn öffentlich verkündet wurde, daß dem Deutschen, der je wieder ein Gewehr in die Hand nähme, der Arm abfallen solle.

Als Pädagogin habe ich gelernt, daß es möglich ist, Konflikte anders als mit Gewalt auszutragen. Bisher war ich froh, in einem Staat zu leben, in dem Krieg geächtet wurde. Mit dem Grundgesetz wurden Lehren aus der mörderischen deutschen Vergangenheit gezogen. Wenn sich die Politik darüber hinwegsetzt, wird Widerstand zur Pflicht."

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