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Die zehn Todsünden in der Außen- und Sicherheitspolitik

Ein Flugblatt des Bundesausschusses Friedensratschlag zur Halbzeit der Bundesregierung

Die rot-grüne Bundesregierung war mit dem Versprechen angetreten: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik." Eine friedenspolitische Halbzeitbilanz kommt zu einem anderen Ergebnis: Deutsche Außenpolitik war Kriegspolitik.

Das mittelalterliche Kirchendogma kannte sieben "Todsünden": Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit. Heute leidet die Menschheit nicht nur unter solchen lasterhaften Eigenschaften. Die sündhafte oder kriminelle Energie erreicht heut-zutage noch ganz andere Dimensionen. Schon bei einem flüchtigen Blick auf die deutsche Regierungspolitik seit dem angeblichen Machtwechsel im Herbst 1998 reicht die heilige Zahl Sieben nicht mehr aus, das angerichtete Unheil zu beschreiben. Daher also die "zehn außen- und sicherheitspolitischen Todsünden" der Bundesregierung, bilanziert nach der Hälfte ihrer Amtszeit.
  1. "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen." (Art. 26,1 GG)
    Die Beteiligung der Bundesrepublik am NATO-Krieg gegen Jugoslawien war der schwerwiegendste Bruch mit der Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1949. Da es sich ganz eindeutig um einen Angriffs-krieg handelte, war diese Kriegsteilnahme gleichzeitig das schwerste Verbrechen, dessen sich eine politi-sche Führung eines Staates nur schuldig machen kann. Entsprechend klar und unerbittlich fällt auch die Strafvorschrift aus, die als Konsequenz aus dem oben genannten Grundgesetzartikel gezogen wurde: "Wer einen Angriffskrieg ... an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die BRD herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft." (§ 80 Strafgesetzbuch)
  2. "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes." (Art. 25 GG)
    Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien stellte unzweifelhaft nicht nur einen Bruch des geltenden Völker-rechts und damit des deutschen Grundgesetzes dar, sondern verstieß mit seiner Kampfführung zudem gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Hierfür gibt es erdrückende Beweise, z.B. die gezielten An-griffe auf die chinesische Botschaft, auf den Fernsehsender in Belgrad, auf einen Eisenbahnzug, auf ei-nen Flüchtlingstreck, auf zivile Fabriken, auf Brücken und andere Infrastruktureinrichtungen, auf Che-mieanlagen, Ölraffinierien und Düngemittelfabriken sowie die Verwendung von Streubomben und von Geschossen mit abgereichertem Uran.
  3. "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." (Art. 87a GG)
    Die Bundesregierung setzt mit erheblicher Energie fort, was die Vorgängerregierung mit Verteidigungsmi-nister Rühe begonnen hat: Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsar-mee. Das Konzept von Verteidigungsminister Scharping sieht vor, dass künftig rund 150.000 Soldaten für "Kriseneinsätze" bereitstehen, sodass gleichzeitig an zwei Kriegsschauplätzen operiert werden kann. Dies entspricht einer Aufstockung der bisherigen "Krisenreaktionskräfte" auf das Zweieinhalbfache. Die Bundeswehr, die nach dem Grundgesetz ausschließlich Aufgaben der Landes- oder der Bünd-nis"verteidigung" wahrzunehmen hat, verliert damit ihren ursprünglich "defensiven" Charakter.
  4. Die Herstellung einer strukturellen Angriffsfähigkeit bedarf einer anderen Ausrüstung und Bewaffnung als eine Armee zum Zwecke der Landesverteidigung. Folgerichtig werden von der neuen Bundesregie-rung jene Beschaffungsmaßnahmen vorrangig behandelt, welche die Bundeswehr, flexibler, transportfä-higer und schlagkräftiger machen sollen. Die Gesamtkosten für Forschung, Entwicklung und Beschaf-fung der genannten und noch weiterer Großwaffensysteme belaufen sich für den Zeitraum 2001 bis 2015 auf geschätzte 210 Mrd. DM.
  5. "Die Koalition unterstützt aktiv die Bemühungen um den Zusammenschluss der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie", versprach die Koalitionsvereinbarung 1998. Und tatsächlich: Die Bundesregierung betätigt sich engagiert als aktiver Förderer von Unternehmenskonzentration, noch dazu in einem so heiklen Bereich wie dem der Rüstungsindustrie. Verschiedene europäische Rüstungskonzerne fusionier-ten mit dem DaimlerChrysler-Unternehmen DASA: Die dabei entstandene EADS (European Aeronautic, Defense and Space Company) ist hinter dem US-Konzern Boeing zum zweitgrößten Luft- und Raum-fahrt-Rüstungskonzern der Welt aufgestiegen, etwa gleichauf mit dem zweiten US-Rüstungsgiganten Lockheed Martin. - Die Lobby ist zufrieden. Der Vorstandsvorsitzende des Rüstungskonzerns EADS stellte der Bundesregierung ein erstklassiges Zeugnis aus: "Mit der neuen Regierung ist es zu einer be-merkenswerten Richtungsänderung gekommen", meinte er anerkennend und belobigte insbesondere den Verteidigungsminister für dessen Absicht, den Investitionsanteil am Verteidigungshaushalt auf 30 Pro-zent zu erhöhen."
  6. Dies alles kostet Geld, viel Geld. Im Mittelpunkt der Bemühungen Scharpings steht vor allem die Erhö-hung der "investiven" Mittel im Verteidigungshaushalt, d.h. es sollen mehr Waffen und moderneres Ge-rät beschafft werden. Entgegen der mittelfristigen Finanzplanung für den Verteidigungsetat, die ur-sprünglich für die Jahre 2000 bis 2003 eine leichte Senkung der Ausgaben vorsah, wird der Verteidi-gungshaushalt wieder ansteigen. Hinzu kommen Erlöse aus dem Verkauf von nicht mehr gebrauchten alten Waffen und von Bundeswehr-Liegenschaften.
  7. Eine "restriktive" Rüstungsexportpolitik versprach die neue Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt. Und in den Rüstungsexportrichtlinien vom Januar 2000 heißt es: "Der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland wird bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beigemessen." Doch immer noch ist aus Berlin kein end-gültiges NEIN zu den Panzerexporten in die Türkei zu hören. Stattdessen wurde Ende August 2000 bekannt, dass der Bundessicherheitsrat die Lieferung einer Gewehrmunitionsfabrik in die Türkei geneh-migt hat. "Beachtung der Menschenrechte"? Fehlanzeige!
  8. Im April 1999 stimmte die Bundesregierung dem neuen Strategischen Konzept der NATO zu. Dieses Konzept geht eindeutig über den Nordatlantikvertrag von 1949 hinaus, der das Bündnis auf reine Vertei-digungsaufgaben verpflichtet hatte (Art. 5). Die Mitglieder der NATO, so heißt es heute, "müssen bereit sein, nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze durchzuführen". Eindeutiger kann diese Ziel-bestimmung nicht sein: Ob mit oder ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats, die NATO kann, wenn sie es für opportun hält, in allen "Krisengebieten" der Welt zu jeder Zeit militärisch eingreifen. Die Bundes-regierung hätte dem nie zustimmen dürfen. Denn einmal verletzt eine solche Aufgabenerweiterung den NATO-Vertrag selbst (insbesondere Art. 5), zum anderen widerspricht sie der von der Bundesrepublik mit dem Beitritt zur NATO eingegangenen Verpflichtung, die sich ausschließlich auf die Verteidigung des Bündnisses im Fall eine äußeren Angriffs bezieht.
  9. Gegen jede politische Vernunft spielt die Bundesregierung eine aktive Rolle bei der Umwandlung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in ein Militärbündnis. Etappen auf dem Weg zur Militarisierung der EU waren die Ernennung des ehemaligen NATO-Generalsekretäre zum so genannten Mr. GASP, zum "Hohen Vertreter" für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" der EU, und der Beschluss auf dem EU-Gipfel in Helsinki, eine EU-Interventionstruppe von rund 50.000 bis 60.000 Soldaten aufzu-stellen. Die Bundesregierung bietet hierfür 20.000 Mann an.
  10. In der Koalitionsvereinbarung 1998 hatte sich die Bundesregierung ein wichtiges entwicklungspoliti-sches Ziel gesetzt. "Um dem international vereinbarten 0,7 % Ziel näher zu kommen, wird die Koalition den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes umkehren und vor allem die Verpflichtungsermächtigun-gen kontinuierlich maßvoll erhöhen." Das "0,7 % Ziel" ist eine Richtschnur, welche die Vereinten Nati-onen 1970 beschlossen haben. Danach sollen die entwickelten Industrieländer mindestens 0,7 Prozent ih-res Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklung der armen Länder aufwenden. In der 90er Jahren, noch unter der Regierung Kohl, schwankte der deutsche Beitrag zwischen 0,4 und 0,3 Prozent. Und unter der "roten" Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul sank der Entwicklungshilfeanteil auf das histori-sche Tief von 0,28 Prozent (im Jahr 2000)!
Noch einmal zur Erinnerung: Die sieben Todsünden nach dem Dogma der mittelalterlichen Kirche waren: Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn, Trägheit. Man sieht: Die Vergehen, für die man damals, im finstersten Mittelalter, auf ewig in der Hölle braten musste, waren harmlos gegenüber den Vergehen der Politik am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Bundesausschuss Friedensratschlag, 23. Sept. 2000

Nächster bundesweiter Friedensratschlag der Friedensbewegung am 2. und 3. Dezember 2000 in Kassel

V.i.S.d.P.: P. Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag, c/o DGB Kassel, Spohrstr. 6, 34119 Kassel

Eine Langfassung dieses Flugblatttextes ist ebenfalls auf unserer Homepage abrufbar: Die 10 Todsünden der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik

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