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Resignation und Fatalismus überwinden: Den Krieg verhindern

Zu den Erfolgsbedingungen der Friedensbewegung

Von Peter Strutynski

Auch in den mageren Jahren brauchte sich die Friedensbewegung über mangelnde Ratschläge, welches denn ihr eigentliches Erfolgsrezept sei, nicht beschweren. Schon Mitte der 80er Jahre, als der Kampf gegen die Raketenstationierung verloren war, wurden erste Stimmen laut, die der Friedensbewegung eine vollkommene Umorientierung empfahlen: Massendemonstrationen, "Latschdemos", Ostermärsche und andere "Rituale" hätten ausgedient, die Friedensbewegung müsse "ganz neue", "unkonventionelle" Formen des Protestes kreieren oder andere Wege der direkten Einflussnahme auf die Politik einschlagen. Als Chiffren für diese Umorientierung dienten der "zivile Ungehorsam" und die "Lobbyarbeit". Nun war zwar beides nicht neu: Methoden des gewaltfreien zivilen Ungehorsams sind mindestens so alt wie die bürgerliche Gesellschaft und wurden - was häufig nicht gesehen wird - vorzugsweise von den gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen angewandt; und die Lobbyarbeit ist so eindeutig ein Kind der Parlamentarisierung des bürgerlichen Staates und dessen "Auslieferung" an die divergierenden Interessengruppen, dass es nicht lohnt, weiter darüber zu sprechen, wäre da nicht noch ein Missverständnis bzw. eine Illusion aus der Welt zu schaffen: Der Aushandlungsprozess zwischen den Interessen verschiedener pressure groups, der sich - versinnbildlicht - in der "Lobby" des Parlaments abspielt, bezieht sich lediglich auf die im Rahmen des herrschenden Konsensus zugelassenen Interessen. Wirkliche Alternativen zum mainstream der politischen Klasse, und seien sie noch so gut begründet, entwickeln kaum mehr als den Charme eines Mauerblümchens. Damit will ich nicht den Sinn von Lobbyarbeit gänzlich in Abrede stellen. Die Lobbyisten müssen sich nur der Begrenztheit ihrer Wirksamkeit bewusst sein. Eine Friedensorganisation, die alle Jubeljahre einen halbstündigen Termin bei einem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes oder des Verteidigungsministeriums oder bei einem Mitglied des Verteidigungsausschusses erhält, hat nur dann Grund darüber zu jubeln, wenn ein solches Ereignis mit einer entsprechenden Öffentlichkeits- und Mobilisierungsarbeit einhergeht.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa (ich behaupte, dass der alte Konflikt in Ostasien nicht aufgehört hat zu existieren), haben sich die Rahmenbedingungen für die Friedensbewegung zweifellos stark verändert. So stark, dass auch jetzt der Friedensbewegung eine völlige Umorientierung ihrer Arbeit anempfohlen wurde. Was hatte sich mit dem Einsturz des Realsozialismus, der deutschen Vereinigung, der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts noch geändert? Die relativ einfache und gut durchschaubare Weltordnung der Bipolarität und des Systemwettstreits zwischen einem gezähmt und attraktiv erscheinenden Kapitalismus auf der einen und einem ökonomisch ineffizient und demokratisch defizitär erscheinenden Sozialismus auf der anderen Seite gab es nicht mehr. An ihre Stelle trat - dies zeigte sich schlagartig beim Golfkrieg 1991 - eine neue Welt(un)ordnung, die seither gekennzeichnet ist durch
  • die relativ ungehemmte Ausbreitung und Barbarisierung regionaler, zumeist innerstaatlicher Kriege und bewaffneter Konflikte insbesondere in der Dritten Welt und der ehemaligen "Zweiten Welt",
  • die von der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfonds gestützte Durchsetzung neoliberaler Grundsätze in der Wirtschafts- und Finanzpolitik fast aller Staaten der Erde,
  • die zunehmende Differenzierung der ökonomischen und geostrategischen Interessen zwischen den führenden Staaten der "Triade" USA-Europa-Ostasien einschließlich der sich verschärfenden Konkurrenz zwischen den global operierenden Transnationalen Konzernen,
  • den in den letzten Jahren immer deutlicher zum Ausdruck kommenden Drang der USA zum "Unilateralismus", der von der komfortablen Situation einer uneinholbaren militärischen Stärke begleitet wird,
  • die Entsouveränisierung, Marginalisierung oder/und Radikalisierung von Staaten und Gesellschaften, die von der "Globalisierung" ausschließlich negativ betroffen sind oder die aus ressourcialen und geostrategischen Gründen zum Objekt der Begierde der USA und der anderen führenden kapitalistischen Staaten werden, und
  • die fortschreitende Umwandlung der Vereinten Nationen in ein Hilfsorgan der führenden Mächte, insbesondere der USA, das im wesentlichen nur noch auf zwei Funktionen reduziert sein soll: die Legitimierung militärischer Interventionen und die humanitäre Nachsorge in militärisch "befriedeten" Staaten und in den von jeder Entwicklung abgekoppelten Hunger- und Katastrophengebieten der Erde.
Ich habe in dieser Aufzählung bewusst auf den "Terrorismus" verzichtet, weil es sich dabei in meinen Augen um ein Phänomen handelt, das nicht eigentlich neu ist, sondern auf eine lange (und erfolglose) Geschichte zurückblicken kann. Neu sind indessen die staatlichen Reaktionen auf die verschiedenen Spielarten terroristischer Kriminalität. Man behandelt sie nicht mehr als kriminelle Handlungen, sondern als kriegerische Akte, was zur Folge hat, dass ein mittlerweile fast weltumspannender Truppenaufmarsch und verdeckter bis offener Krieg namens "Enduring Freedom" begonnen hat. Von Kolumbien über Tschetschenien bis ins chinesische Zentralasien oder in das philippinische Mindanao fällt inzwischen alles, was nach nationaler Unabhängigkeit oder Autonomie strebt, unter das tödliche Verdikt des "Terrorismus". Sieht man von den Machthabern im Irak und vielleicht noch von Nordkorea ab, so kann man beinahe von einer globalen Übereinkunft der Herrschenden sprechen, unter dem Mantel des "Kampfes gegen den Terror" die jeweils zu "Terroristen" gestempelten Dissidenten zu verfolgen, wobei häufig nicht einmal Ländergrenzen ein Hindernis darstellen. Das Erstaunliche ist nur, dass dies von einem großen Teil der Bevölkerung relativ leicht als Vorwand durchschaut wird, hinter dem sich die Verfolgung ganz anderer politischer und ökonomischer Interessen verbirgt. Dass es Bush und seinen Spießgesellen weder um die Unschädlichmachung der irakischen Massenvernichtungswaffen noch um die Herstellung demokratischer Zustände geht, sondern in erster Linie um die Kontrolle über die irakischen Ölreserven, ist zum Allgemeingut selbst der ansonsten nicht immer sehr aufgeklärten Stammtische geworden. Insofern hat die aggressive Bush-Politik in kurzer Zeit mehr geleistet als jahrzehntelange Schulungen und Seminare in Politischer Ökonomie. Wer dies nicht glaubt, sollte sich die Leserbriefspalten der letzten Monate in irgendeiner x-beliebigen Tageszeitung ansehen. Aufschlussreich sind auch zwei Umfrageergebnisse des Nachrichtenmagazins "Time Europe". Auf die Frage nach den Motiven für einen US-Krieg gegen Irak antworteten knapp 80 Prozent, es ginge um den Zugriff auf das Öl (nur 4 % meinten, es ginge um die Entwaffnung Saddams, 6 % sagten, damit sollte die Welt sicherer gemacht werden und 10 % nannten den Regimewechsel als Grund). Noch überraschender fielen die Antworten auf die Frage aus, welches Land 2003 die größte Gefahr für den Weltfrieden darstelle. Nordkorea nannten 10 Prozent, den Irak knapp 14 Prozent, die USA aber wurden von 76 Prozent der insgesamt über 100.000 Abstimmenden als Hauptunruhestifter identifiziert.

Der Bevölkerung mangelt es an Einsicht auf einem anderen Feld. Die Herrschenden jenseits und diesseits des Atlantiks haben seit dem 11. September 2001 unisono behauptet, die dabei zum Ausdruck gekommene neue Qualität terroristischer Kriminalität sei nicht mehr mit den herkömmlichen rechtsstaatlichen Mitteln beherrschbar, sondern könne nur noch mit militärischen Mitteln bekämpft und ausgerottet werden. Wenn selbst ein vergleichsweise harmloser Vorfall wie der des durchgedrehten Frankfurter Hobbymotorseglers zu regierungsoffiziellen Überlegungen Anlass gibt, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen und dafür mal schnell das Grundgesetz zu ändern, dann ahnt man, zu welchen Zwecken solche Hysterisierungen eingesetzt werden: Neben der Militarisierung der Außenpolitik geht es um die Entdemokratisierung und "Entrechtlichung" der zivilen Institutionen des Staates und seiner Gesellschaft. Das Problem dabei ist, dass die Gesellschaft diese Gefahr kaum wahrnimmt. Ihr fehlt eine überzeugende bzw. auf überzeugende Art vermittelte Alternative zur antiterroristischen Kriegslogik. Auch die Friedensbewegung hat hierzu wenig beizutragen gehabt, auch wenn es ihr nach dem 11.09. gelungen war, den richtigen, aber noch sehr abstrakt bleibenden Gedanken zu popularisieren, dass der Terror langfristig nur bekämpft werden kann, wenn man ihn seines sozialen Nährbodens beraubt.

Insgesamt jedoch kann die Friedensbewegung auf eine solide Antikriegsstimmung hier zu Lande bauen (in Frankreich und selbst in Großbritannien ist es nicht viel anders, wie neue Umfragen zeigen). Diese Haltung ist zweifellos auch Ergebnis des jahrzehntelangen Wirkens der Friedensbewegung. Das Problem ist jedoch, dass sich diese tief sitzende Kriegsunwilligkeit nicht in entsprechendes politisches, d.h. auch öffentliches Handeln umsetzt, wofür m.E. vor allem zwei Faktoren verantwortlich sind. Einmal wurde der west- und später gesamtdeutschen Bevölkerung in 16 Jahren Kohl- ("Aussitz"-Regime) und vier Jahren Schröder-Regierung ("Basta"-Regime) deutlich genug zu verstehen gegeben, dass sie sich in zentrale Angelegenheiten der staatlichen und internationalen Politik nicht einzumischen habe. Die kollektive Erfahrung des "Die da oben machen ja doch, was sie wollen!" hat zu einem dramatischen Rückgang außerparlamentarischer Initiativen und Bewegungen geführt und zuletzt auch diejenigen zur resignativen Verzweiflung getrieben, die sich mit dem Wahlsieg von Rot-Grün 1998 wenigstens einen Trippelschritt zu mehr Beweglichkeit und Partizipation erhofft hatten. Das zweite Problem ist der Gewöhnungseffekt, der sich aufgrund des langen Vorlaufs des angekündigten Krieges bei vielen Menschen eingestellt hat. Seit der Rede des US-Präsidenten zur Lage der Nation Ende Januar 2002 wird die Weltöffentlichkeit auf einen mit nichts zu begründenden, völkerrechtswidrigen und extrem gefährlichen Krieg vorbereitet, als handle es sich um die Spielart irgend eines sportlichen oder kulturellen Jahrhundertereignisses. Der Krieg gegen den Irak wird militärtechnisch hin und her gewendet, verharmlost ("Waffengang") und zum unabwendbaren Schicksal erklärt. Sich dagegen aufzulehnen sei noch wesentlich naiver oder - drastischer - idiotischer als Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen.

Dem lähmenden Gemisch aus Resignation und Fatalismus muss die Friedensbewegung im Verein mit den Gewerkschaften, kirchlichen und den in Gestalt von Attac wieder auferstandenen sozialen Bewegungen die Hoffnung auf die Macht massenhaften Widerstands entgegensetzen. Dieser Widerstand wird bei uns umso größer, als neben dem Adressaten Washington immer mehr auch die eigene Bundesregierung ins Blickfeld gerät. War doch - nach 20 Jahren politischer Entmündigung - der wahltaktische Schwenk von Rot-Grün sieben Wochen vor der Wahl ein Beweis für deren Druckempfindlichkeit. Im Boxsport muss bei einem angeschlagenen Gegner sofort nachgesetzt werden. Die Forderungen und der Aktionsfahrplan der Friedensbewegung liegen auf dem Tisch. Die Zeit zum massenhaften Protest ist wieder günstiger.

Der Beitrag erschien auch im Irak-Sonderheft der "Marxistischen Blätter": Special "Irak-Krieg. Das angekündigte Verbrechen", (Februar) 2003. S. 58-61


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