"Sie hat gekämpft, gearbeitet, diskutiert, demonstriert, sich eingemischt, den Mund nicht gehalten"
Vor sieben Jahren starb Dorothee Sölle
Heute vor sieben Jahren, am 27. April 2003, starb die streitbare Theologin Dorothee Sölle. Ihr Name und ihr Leben stehen für den Kampf um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt, für Solidarität mit den Menschen in der Dritten Welt. Beim zweiten Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel begeisterte sie die Teilnehmer/innen mit einem Vortrag, den sie unter den Titel "Weltmarktökonomie" stellte. Sie wollte damit ein wenig zur "wirtschaftlichen Alphabetisierung" beitragen.
Im Folgenden dokumentieren wir ein "Nachwort zu ihrem Leben", das Fulbert Steffensky im Wintersemester 2005/06 an der "augustana", der Theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gehalten hat.
Nachwort zu einem Leben
Von Fulbert Steffensky *
Darf man Toten gegenüber das letzte Wort behalten? Kann es ein Nachwort, einen Epilog zu
Dorothee Sölles Sätzen und Worten geben? Aber diese Frau ist mir zu wenig tot, als dass ich
nicht weiter mit ihr redete, sie befragte und mit ihr stritte. Sie ist tot, und sie lebt. Sie ist
verstummt, und viele hören ihre Stimme. Wer war sie? Wie haben Menschen sie
wahrgenommen, und was hat man von ihr gesagt? Wie ein Mensch wahrgenommen wird,
welche Spuren er bei anderen hinterlassen und welche Vermutungen er in ihnen geweckt hat,
das sagt etwas aus über ihn selber. Was hat man von Dorothee Sölle gesagt und wie hat man
sie vermutet?
Die einen sagen, sie habe das Glaubensbekenntnis zertrümmert und Menschen in
ihrem Glauben irritiert. Die anderen sagen, ohne sie wären sie nicht in der Kirche geblieben
und hätten ihre Kinder nicht taufen lassen. Die einen sagen, sie hätte die Kirche verachtet und
die Trauerfeier für sie hätte nicht in einer Hamburger Hauptkirche stattfinden dürfen. Die
anderen sagen, sie habe ihnen geholfen, im Pfarrberuf zu bleiben. Die einen sagen, sie hätte
das Evangelium instrumentalisiert zu politischen Zwecken. Die anderen haben ihrer Mystik
und ihrer Frömmigkeit misstraut und sie für zu unpolitisch gehalten. Dorothee Sölle war ein
widersprüchlicher Mensch, und das war ihre Stärke. Sie konnte weder von den Frommen noch
von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz
eingefangen werden. Sie erlaubte sich, die jeweils andere zu sein -- den Frommen die
Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den
Entkirchlichten die Kirchenliebende. Das hat viele irritiert. Peter Bichsel hat einmal
geschrieben: "Der Satz, der mich in meinem Leben am tiefsten betroffen gemacht hat, ist der
Satz von Dorothee Sölle: ,Christ sein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden." Sie hat sich
das Recht herausgenommen, eine andere zu sein als die Vermutete. Ich habe oft zu ihr gesagt:
"Das Schönste an Dir ist deine Widersprüchlichkeit."
Widersprüchliche Menschen sind durstige Menschen. Es genügt ihnen nicht, der eine
Benennbare und in seinen Grenzen Erkennbare zu sein. Es dürstet sie nach mehr, sie sind sich
selber nicht genug in der einen Figur, sie beanspruchen das Recht, ein anderer zu sein und zu
werden. Und so sind sie in sich selber nie ganz zuhause. Sie sind schlechte Gesellen in den
Vaterländern, in denen sie jeweils wohnen, vaterlandslose Gesellen in sich selber.
Ich versuche nun anders zu benennen, was ich Dorothee Sölles Widersprüchlichkeit
nennen. Es ist die mystische Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Sachverhalte. Von Franz von
Assisi wird gesagt, dass er traurig und glücklich in einem war; es wird gesagt, dass ihm das
Bittere süß und das Süße bitter war. Die eingeteilten Welten werden überwunden und in den
Abgrund der Einheit Gottes gestürzt. Es gibt zwei Wächter gegen diese mystischen
Vermischungen, der eine ist die Angst der Menschen, die aufs höchste irritiert ist, wenn die
Sachverhalte nicht auseinandergehalten, kategorisiert und getrennt werden. Der andere
Wächter sind die Machthaber, die kirchlichen oder die weltlichen. Beherrschen kann man,
was eingeteilt, von einander abgeteilt und nicht miteinander in Verbindung gebracht werden
kann. Die beiden Wächter sind an Unterscheidungen interessiert. Männer sollen substantiell
von Frauen unterschieden sein, Herr von Knecht, Heiliges von Unheiligem, Reines von
Unreinem, Gott vom Menschen, Katholiken von Protestanten, Amor von Caritas. Der Glaube
schleift Grenzen, er legt Schlagbäume nieder. Er vertraut auf Gott und nicht auf die
künstlichen Horizonte der eingeteilten Welten.
Kürzlich wurde ich gefragt, ob es einen Punkt gäbe, von dem aus man solche
gegensätzliche Dinge wie das politische Engagement und die Mystik von Dorothee Sölle
verstehen könne. Ich vermute, es war ihre Gottesliebe, die ihr beides untrennbar werden ließ,
Frömmigkeit und politisches Nachdenken und Handeln. Gott und Mensch waren in dieser
mystischen Schau zwar nicht eins, aber sie waren nicht auseinanderzuhalten. Und so erkannte
sie ihren Gott, zerstückelt in arm und reich, in oben und unten, in Beherrschte und in
Herrscher. Sie vermisste ihn, wenn sie das Augenlicht der Blinden und den Gesang der
Stummen vermisste. In Gott leben hieß für sie, sich an der weitergehenden Schöpfung zu
beteiligen. In Gott leben, hieß, ihm helfen seine Welt zu heilen.
Sie war ein glücksfähiger Mensch. "Gott und das Glück" war das Thema ihres letzten
Vortrags. Staunen, loben waren Grundworte ihrer Theologie. In dem Vortrag zwei Abende
vor ihrem Tod sagte sie: "Staunen heißt, wie Gott die Welt nach dem 6. Tag wahrnehmen"
Also sagen können: Es ist gut! Die Musik stürzte sie in jubelndes Staunen, die Natur, das
Erwachen des Frühlings. Ein Mensch, der so des Lobens und des Staunens fähig ist, ist
zugleich des Schmerzes und des Zornes fähig, wo sie die Feinde des Lebens sah. Sie war kein
Mensch matter Gefühle. Ihr Zorn und ihre Ungeduld waren die Gaben eines gebildeten
Herzens, das fähig ist, das Unrecht zu sehen und das Recht herbeizuwünschen.
Weil sie eine aufgeklärte Frau war, war sie eine politische Frau. Es genügte ihr keine
Kirche, die sich zwar der unter die Räuber Gefallenen annahm, die aber kein Wort gegen die
Räuber und das Räuberunwesen fand. Sie konnte den politischeren Begriff Solidarität nicht
trennen und in Konkurrenz sehen zu der Nächstenliebe. "Die Liebe denkt nicht nur
interpersonal, sondern sie lebt in der strukturellen Beachtung von Wirklichkeit." So hat sie es
in diesem Buch formuliert. Beide, die Solidarität und die Nächstenliebe sind gefährdet. Wenn
kulturelle Welten ihre Selbstverständlichkeit verlieren, dann stürzen mit ihnen auch ihre
Schlüsselworte und mit diesen die Inhalte, die sie ausdrücken. Das Wort Solidarität ist über
die französische Revolution und die Geschichte der Arbeiterbewegung das Erkennungswort
des Sozialismus gewesen. Das Wort Liebe oder Nächstenliebe war die Parole des
Christentums. Diese beiden Wörter waren nicht nur irgendeine technische Benennung, sie
waren die Kurzformeln der Bewegungen, in denen sie hauptsächlich zuhause waren. Wer das
Wort Solidarität gebrauchte, vielleicht sogar in der Verbindung mit "international", roch nach
Sozialismus. Wer das Wort Nächstenliebe gebrauchte, roch religiös. Was aber, wenn die
kulturellen Heimaten verschwinden oder verblassen, in denen diese Wörter zuhause waren?
Können programmatische Wörter und Bilder herrenlos umherirren? Werden sie nicht mit
ihren Heimaten untergehen? Ist damit nicht auch die Sache gefährdet, die diese Wort-Bilder
einmal meinten? Menschheitliche Absichten werden nicht nur von einzelnen vertreten. Große
Lebensoptionen wie die von Solidarität und Liebe halten sich nur, wenn sie in Kulturen
eingebettet sind. Hier formuliere ich eine letzte politische und religiöse Angst von Dorothee
Sölle. Sie hat es in ihrem letzten Vortrag formuliert: sie hatte Angst, dass das nach sich selber
"süchtig gemachte Ego" das "Berührtwerden vom Gott des Lebens nicht mehr vermisst".
Man hat Dorothee Sölle nicht selten politischen Moralismus vorgeworfen. In einer
Zeit schwindender Moral ist der Vorwurf eher ehrenvoll. Man hat ihr vorgeworfen, sie
instrumentalisiere den Glauben und die biblischen Texte zu politischen Zwecken. In der Tat
hat sie nie einen religiösen Satz gedacht oder gesagt, den sie nicht auch abgetastet hätte nach
seinen politischen Konsequenzen. Aber es gab in ihrem Glauben eine Mitte, die nicht zu
verzwecken war; die so wenig auf Nutzen bedacht war wie das Spielen der Engel im
Angesichte Gottes. Kaum etwas liebte sie mehr als das "sunder warumbe" des Meister
Eckhart, und in ihrem Mystikbuch (S.87) schreibt sie dazu: "Was bedeutet dieses ,ohne
Warum', in dem wir leben sollen und in dem das Leben selber lebt? Es ist die Abwesenheit
von allem Zweck, aller Berechnung, allem quid pro quo, allem etwas für etwas Anderes, aller
Herrschaft, die sich das Leben zu Dienste macht. ... Das ,sunder warumbe' ist das, was aller
mystischen Gottesliebe zugrunde liegt." Auch in ihrem letzten Vortrag zwei Tage vor ihrem
Tod zitiert sie, wie so oft vorher den Vers von Meister Eckhart:
Die Ros' ist ohn' Warum,
sie blühet, weil sie blühet,
sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.
Dorothee Sölle hat gekämpft, gearbeitet, diskutiert, demonstriert, sich eingemischt, den Mund
nicht gehalten. Und doch hat sie nicht gelebt, um zu kämpfen und zu arbeiten. Sie war
zuhause im Spiel; in dem also, was sich nicht durch seine Zwecke rechtfertigt. Sie hat Klavier
gespielt bis zum letzten Tag. Sie hat im Kirchenchor gesungen bis zur letzten Woche. Sie hat
mit ihren Enkeln gespielt. Sie hat Gedichte gelesen und geschrieben. Sie hat gebetet und die
Gottesdienste besucht. Zuhause war sie in jenen nutzlosen Köstlichkeiten. Ihre Gelassenheit
in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: "Wir
beginnen den Weg zum Glück nichts als Suchende, sondern als schon Gefundene." Das ist die
köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen.
* Quelle: Website der augustana - Theologische Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern; www.augustana.de
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