Spontane Mobilisierung oder neue soziale Bewegung?
Die weltweiten Proteste gegen den Irak-Krieg
Von Lutz Schrader
Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, der sich aus wissenschaftlicher Sicht mit der Friedensbewegung, insbesondere den weltweiten Protesten gegen den Irakkrieg befasst. Der Autor hat den Beitrag für die Sommerakademie 2003 der ÖSFK in Stadtschlaining (Burgenland/Österreich) geschrieben. Über kritische Rückäußerungen würde sich Lutz Schrader freuen. Seine e-mail-Adresse lautet: lutz.schrader@fernuni-hagen.de.
1. Vorbemerkung
In einer der Jahrestagung der American Political Science Association 2002 vorgelegten Studie unter dem Titel "Der neue transnationale Protest: Organisationen, Koalitionen, Mechanismen" hat Sidney Tarrow im letzten Satz eine Prognose gewagt:
"Aber es ist eine vernünftige Hypothese, dass genau wie der Aufstieg des multinationalen Unternehmens (...) zu einer Gegenbewegung anti-neoliberaler Protestierer geführt hat, das Wiederaufleben des amerikanischen unilateralen Militarismus eine Ausweitung des Fokus transnationalen Protests von der globalen Gerechtigkeit bis zur Kriegsgegnerschaft produzieren kann" (Tarrow 2002: 32).
Wenn Tarrows Vermutung stimmt, haben wir es bei der Bewegung gegen den Irak-Krieg mit den Anfängen einer neuen transnationalen Friedensbewegung zu tun, die bald die Ausmaße und Handlungsfähigkeit der globalisierungskritischen Bewegung erreichen könnte. Um den Realitätsgehalt dieser Prognose zu überprüfen, werde ich versuchen, das Neue der transnationalen Mobilisierung gegen den Irak-Krieg zu beschreiben. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, mit Blick auf die zentrale Fragestellung - Strohfeuer oder Beginn einer neuen sozialen Bewegung? - Pro- und Contra-Argumente gegeneinander abzuwägen. Dies geschieht vor dem Hintergrund dessen, was wir heute über neue (transnationale) soziale Bewegungen wissen. Die Frage nach der Zukunft der Friedensbewegung wird natürlich auch durch diesen Beitrag nicht zu beantworten sein. Dies kann nur die Bewegung selbst tun. Vielleicht wissen wir aber am Ende dieses Beitrags ein Wenig mehr darüber, was wir tun können, um den Protest zu verstetigen, und was wir lassen müssen, um frühere Fehler zu vermeiden.
2. Genesis und Anatomie einer Protestbewegung - Die Anti-Kriegsproteste zwischen Sommer 2002 und Frühjahr 2003
Ehe ich mich der Gegenwart und Zukunft widme, ist zunächst ein Blick in die Vergangenheit angebracht. Die Mobilisierung gegen den Irak-Krieg kam nicht aus dem Nichts. Sie war so nur möglich, weil sie auf den langen Atem zahlloser Friedensaktivisten und die Vorarbeit vieler organisatorischer Kerne in den beteiligten Ländern aufbauen konnte. Es wäre aber auch nicht klug, die Vergangenheit im Lichte des aktuellen Erfolgs zu verklären. Die Krisen, Probleme und Konflikte der schwierigen 1990er Jahre werden wieder aufbrechen, wenn sie nicht angegangen werden. Einer der Vordenker und großen alten Männer der deutschen Friedensbewegung, Horst-Eberhard Richter, hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen:
"Die Friedensbewegung steht erst auf einem stabilen Fundament, wenn sie den Mut hat, nicht nur nach vorn, sondern auch selbstkritisch zurückzuschauen" (Richter 2002: 11).
Die Friedensbewegung ist mit der weltweiten Mobilisierung gegen den Irak-Krieg von einer mehr als ein Jahrzehnt währenden Krise in eine Chance gestürzt.
2.1. Die schwierigen 1990er Jahre
Wegen der Proteste gegen den 2. Golfkrieg machte sich das Ende des Kalten Krieges für die Friedensbewegung(en) erst mit zeitlicher Verzögerung bemerkbar. Für ein kurzes Intermezzo erlebten die Friedensbewegungen noch einmal einen begrenzten Aufschwung. Doch gleichzeitig kündigten sich einschneidende Veränderungen an. Der diktatorische Charakter des irakischen Regimes und die unmittelbare Bedrohung Israels ließen insbesondere linke (und jüdische) Intellektuelle "die Fronten wechseln"; sie wurden zu offenen Befürwortern des Krieges. Mit dem Ende der Blockkonfrontation gruppierten sich Befürworter und Gegner staatlicher militärischer Gewalt neu. Der "Minimalkonsens" innerhalb der Friedensbewegung(en), einen nuklearen Weltkrieg zu verhindern, trug nicht mehr. Das westliche Gesellschaftsmodell erlangte unter linken Intellektuellen eine neue Akzeptanz. Mit dem "Sieg" der liberalen Demokratien im Kalten Krieg wurde die Weltlage unübersichtlicher. Die Angst vor einem nuklearen Weltbrand wurde durch das Gefühl der Betroffenheit angesichts exzessiver Menschenrechtsverletzungen brutaler Diktatoren und Warlords in vorwiegend innerstaatlichen Krisen abgelöst.
Nun rückte die Frage in den Vordergrund, wie sich die westlichen Staaten gegenüber den "neuen Risiken und Bedrohungen" verhalten sollten. Dass die ehemaligen Kolonial- und führenden Wirtschaftsmächte für die Entstehung und Beilegung derartiger Krisen eine Verantwortung tragen, das war nach wie vor unstrittig. Sehr kontrovers wurde dagegen darüber diskutiert, ob und inwieweit dies den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertige. Die als "Bellizisten" etikettierte Strömung billigt den westlichen Demokratien eine ordnende und zivilisierende Rolle in den Weltangelegenheiten zu. Daraus wird die Pflicht abgeleitet, im Falle massenhafter Menschenrechtsverletzungen gegebenenfalls auch militärisch zu intervenieren. Die "Pazifisten" hielten dagegen an ihrer prinzipiellen Ablehnung staatlicher Gewalt fest. Sie kritisierten die westlichen Regierungen für ihr primär interessengebundes und reaktiv-militärisches Vorgehen. Die schmerzhafte Pazifismus-Bellizismus-Diskussion um die Berechtigung "humanitärer Interventionen" führte überall zu Austritten und Abspaltungen. Den Friedensbewegungen wurde durch den Wechsel grüner, sozialdemokratischer und liberaler Parteien in das Regierungslager zusätzliche Energie abgezogen (Becker 1992). Die 1990er Jahre wurden zu einer Geschichte des Abstiegs und der Trennungen.
Unter den wenigen Aktiven, auf die die Bewegung Ende der 1990er Jahre zusammengeschmolzen war, machte sich ein Gefühl der Resignation breit. Resignation und Frustration waren aber auch Anlass für ein Umdenken und Suchen nach neuen Wegen. Die Gruppen und Koordinationskreise wandten sich nun stärker der aktiven Friedensarbeit, z.B. in Ex-Jugoslawien und anderen Krisenregionen, zu. Kontakte zu in der Friedens- und Konfliktarbeit tätigen Nichtregierungsorganisationen wurden angebahnt und eine stärkere Vernetzung angestrebt. Ein Beispiel für die Suche nach neuen Wegen war z.B. die Anti-Personenminen-Kampagne im Jahr 1996 (für Österreich: Pecha 2002: 19/20). Es wurde viel unternommen, um die Strukturen zu erhalten und die Arbeit in kleineren, übersichtlicheren Zusammenhängen fortzusetzen.(1) Die Verschiebung des Schwergewichts von der Organisation von Protestbewegungen hin zur Bildungs- und Aufklärungsarbeit prägte auch die Aktionen während des Kosovo-Krieges. Auf den Straßen blieb es weitgehend ruhig; gleichzeitig fanden kriegskritische Diskussionsveranstaltungen großen Zuspruch.
2.2. Die Mobilisierung nach dem 11. September bis zum Ende des Irak-Krieges
Spätestens mit der Politik der Bush-Administration nach dem 11. September 2001 entstand eine neue Situation. Die neoliberale wirtschaftliche Globalisierung im Interesse der US-amerikanischen Konzerne wurde durch eine sich in ihren Konturen immer klarer abzeichnende militärische Globalisierung ergänzt. An die Stelle des vorwiegend politisch abgestützten Kurses der weltweiten Verbreitung demokratischer Herrschaftsverhältnisse ("democratic enlargement") und punktueller "humanitärer Interventionen" unter der Clinton-Administration rückte eine Strategie der politischen Vasallisierung und militärischen Eroberung geostrategisch relevanter Staaten. Herausgefordert durch die imperiale Wende in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik bildete sich zwischen den globalisierungskritischen und den Friedensbewegungen eine gemeinsame Schnittmenge in der Problemanalyse und Zielbestimmung heraus. Hinzu kamen immer mehr auch umwelt-, menschenrechts- und entwicklungspolitische Gruppen und Organisationen.
Möglicherweise wäre - wie schon im Falle des Afghanistan-Krieges - eine massenhafte Mobilisierung gegen den Irak-Feldzug ausgeblieben, wenn die Bush-Administration weniger arrogant zu Werke gegangen wäre. Erst die provozierende Kaltschnäuzigkeit, die sie bei den Bemühungen an den Tag legte, ihre Kriegsabsichten zu legitimieren, rief eine derart breite Ablehnungsfront auf den Plan. Menschen und Gruppen mit ganz unterschiedlichen Beweggründen gingen gegen den Krieg auf die Straßen. Auf der Großdemonstration am 15. Februar 2003 in Berlin reichte das Spektrum von Angehörigen von Friedensgruppen und Attac, Gewerkschaftern und Studenten über Künstler und Intellektuelle, Christen und Moslems bis hin zu ganz normalen Bürgern, ja Damen im Nerz. Nicht nur pazifistische Empörung und traditionell linke Überzeugungen brachten die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, sondern auch das realpolitische Kalkül, dass durch die amerikanische Politik wichtige "nationale" und europäische Interessen verletzt werden. Bezeichnenderweise war gerade in Ländern wie Großbritannien, Spanien und Italien die Mobilisierung am größten, deren Regierungen sich demonstrativ an die Seite der Bush-Administration gestellt hatten. Doch auch in Deutschland, wo sich die rot-grüne Regierung primär aus wahltaktischen Erwägungen vor der Bundestagswahl im September 2002 in die Phalanx der Kritiker des amerikanischen Kriegskurses eingereiht hatte, begünstigte diese Entscheidung die Mobilisierung.
Im Laufe des Jahres 2002 bildete sich eine Gelegenheitsstruktur (2) heraus, die sich in einem gesellschaftlichen und politischen "Großklima" (Rucht 2002) manifestierte. Dadurch wurde das Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Strukturen und Bewegungen erheblich begünstigt und z.T. sogar erst eigentlich möglich. Im Nachhinein ist es müßig, darüber befinden zu wollen, welche Faktoren einen größeren Einfluss gehabt haben - das Engagement der Protestgruppen und Organisationskomitees oder die konkreten politischen, sozialen, ideologisch-kulturellen Rahmenbedingungen vor und während des Irak-Krieges. Zu einer erfolgreichen Protestbewegung gehören unbedingt beide Momente.
2.3. Die Ergebnisse der weltweiten Bewegung gegen den Irak-Krieg
Die Anti-Kriegsbewegung gipfelte am 15. Februar 2003 in dem ersten wirklich globalen Protesttag in der Geschichte sozialer Bewegungen. An diesem Tag bzw. am 14. und 16. Februar 2003 demonstrierten in mehr als 665 Städten zwischen 10 und 13 Million Menschen. Damit kamen mehr Menschen zu Protesten zusammen als jemals zuvor in der Geschichte. Auch in den meisten der beteiligten Länder erreichten die zentralen Demonstrationen Rekordteilnehmerzahlen. Die Demonstrationen, Kundgebungen und Kampagnen zwischen dem Spätsommer 2002 und dem Frühjahr 2003 vereinigten Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen sozialen Bewegungen (Globalisierungskritiker, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, Bürgerinitiativen, Frauengruppen, Gewerkschaften, Kirchen usw.). Neben nun schon traditionellen Protestformen der neuen sozialen Bewegungen wie Märschen, Kundgebungen, Vorträgen, Diskussionsrunden, Teach-ins und verschiedenen Formen zivilen Ungehorsams (z.B. Blockaden von Kasernen) wurden neue originelle und medienwirksame Inszenierungen ausprobiert. Ein Beispiel dafür war der "Marsch von eMails" auf Washington.
Auch wenn die globale Protestbewegung den Krieg nicht verhindern konnte, hat sich doch wichtige Erfolge verbuchen können (vgl. z.B. Steger 2003; Davis 2003; Bennis 2003):
-
Sie trug zur Formierung einer globalen öffentlichen Meinung gegen den Krieg bei. Vielleicht kann man zum ersten Mal von einer globalen öffentlichen Meinung sprechen?
- Sie stellt ein gelungenes Beispiel für eine proaktive Anti-Kriegsbewegung dar, die bereits vor Beginn des Krieges ihre Macht entfaltet und trotz des Beginns des Kriegs nicht in sich zusammenfiel.
- Sie übte erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen und das Handeln der politischen Eliten in den USA, in den anderen Staaten und internationalen Organisationen aus. Sie sahen sich gezwungen, den Druck und die Argumente der Anti-Kriegsbewegung in Rechnung zu stellen.
- Sie ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Bush-Administration bei der Führung des Irak-Krieges nicht auf das Einverständnis oder gar die Unterstützung der sog. internationalen Gemeinschaft berufen konnte.
- Sie sorgte mit dafür, dass der Irak-Krieg in der Weltöffentlichkeit bis heute als völkerrechtswidriger Akt angesehen wird und sorgt mit ihren Initiativen (z.B. Einrichtung von Tribunalen) dafür, dass das Thema nicht aus der weltöffentlichen Wahrnehmung verschwindet.
- Sie initiiert und befördert unzählige Debatten auf ganz verschiedenen Ebenen über den Krieg, seine Ziele und Legitimation. Diese Verständigung führte zu neuen Einsichten im Hinblick auf die Komplexität von Kriegsursachen.
- Sie erhöht für die Bush-Administration und erst recht für die Blair-Regierung die Kosten bezüglich einer möglichen Fortsetzung der Strategie des "Präventivkrieges" und der "Zwangsdemokratisierung" gegenüber weiteren sog. Schurkenstaaten.
- Sie stellt nicht zuletzt ein wichtiges Initiationserlebnis für eine neue Generation von Anti-Kriegs- bzw. Friedensaktivisten dar. Auffällig in Deutschland war, dass sich besonders viele Schüler an Kundgebungen und anderen Aktionen beteiligten.
2.4. Friedensbewegung und globalisierungskritische Bewegung
Der Anstoß für die weltweite Mobilisierung gegen den Irak-Krieg ging vom Europäischen Sozialforum in Florenz (November 2002) aus und erfasste in der Folge die "traditionellen" Friedensbewegungen. Das Zusammengehen der Sozialforen- und der Friedensbewegung wurde dadurch erleichtert, dass viele Friedensaktivisten in nationalen Attac-Netzwerken bzw. in der Sozialforen-Bewegung engagiert sind. Beide Bewegungen rekrutieren ihre Aktiven aus demselben politischen Spektrum und stützen sich auf die gleichen sozialen Milieus. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass die Initiative von den globalisierungskritischen Bewegungen ausging, die auch der wichtigste Motor für die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten gewesen ist. Während die mitunter ein wenig verstaubt wirkende Friedensbewegung nicht nur aus einem anderen Jahrhundert, sondern aus einer längst vergangenen Epoche (Kalter Krieg) zu stammen scheint, präsentieren sich die globalisierungskritischen Bewegungen mit unverbrauchter Attraktivität und jugendlichen Strukturen. Dies erklärt in hohem Maße ihre große Mobilisierungsfähigkeit.
Die große Anti-Kriegsdemonstration vom 9. November 2002 am Rande des Europäischen Sozialforums in Florenz, an der zwischen 500.000 und einer Million Menschen teilnahmen, ist ein Beispiel für diese "ansteckende Wirkung". Nach der anfänglichen Zurückhaltung der Einheimischen wegen befürchteter Ausschreitungen - die Bilder von Genua waren noch präsent - demonstrierte schließlich "ganz Florenz". Menschen winkten aus den Fenstern und von den Balkonen herunter. Aus unzähligen Fenstern hingen weiße Leintücher als Zeichen des Friedens, Transparente mit Peace-Zeichen und die inzwischen zum Symbol der neuen Friedensbewegung gewordenen Regenbogenfahnen mit der Pace-Aufschrift. Die Solidarität der florentiner Bürger wurde von den DemonstrantInnen enthusiastisch begrüßt. Immer wenn Menschen auf den Balkonen und am Straßenrand ihre Anteilnahme bekundeten, wurde Beifall geklatscht. Die Demonstration wurden nicht zuletzt zu einem selbstbewussten und fröhlichen Protest gegen die Berlusconi-Regierung.(3)
Bei den Vorbereitungen der großen Demonstrationen arbeiteten die Strukturen der "alten" Friedensbewegung und der globalisierungskritischen Bewegung eng zusammen. Beide profitierten voneinander. Die "alte Friedensbewegung" brachte ihre inhaltliche Kompetenz, ihre organisatorische Erfahrung und ihr spezifisches Bewegungs-Know-how ein. Umgekehrt half die Zusammenarbeit und die insgesamt größere politische Offenheit und Pluralität der globalisierungskritischen Bewegungen, alte Meinungsverschiedenheiten und Grabenkämpfe innerhalb der Friedensbewegung abzuschwächen oder doch zumindest vorübergehend in den Hintergrund zu drängen. Attac und andere globalisierungskritische Zusammenhänge nutzten ihre große Mobilisierungsfähigkeit und ihre Anziehungskraft, insbesondere auf junge Leute. Angesprochen und motiviert durch die Proteste gegen den Irak-Krieg fanden etliche Teilnehmer an den Demonstrationen und Kampagnen den Weg zu den globalisierungskritischen Bewegungen, die so die Zahl ihrer Mitglieder weiter steigern konnten. Auf der inhaltlichen Ebene - und das sowohl bezüglich der Analyse der Kriegsursachen als auch der programmatischen Ausrichtung der Proteste - ist das um die weltwirtschaftliche Dimension erweiterte Problembewusstsein zu nennen: der Zusammenhang von Globalisierung und Krieg, die Nord-Süd-Perspektive sowie ökonomische und ökologische Kriegs- und Gewaltursachen (vgl. Staud 2003). Diesbezüglich hatte gerade Attac als "Volksbildungsbewegung mit Aktionscharakter" (Bernard Cassen 2003) wichtige Vorarbeit geleistet. Die Einbeziehung sozio-ökonomischer Analysen erleichtert das Verständnis neuer sicherheitspolitischer Themen wie des internationalen Terrorismus, der sog. neuen Kriege oder des Kurswechsels der Bush-Administration.(4) Schließlich haben die globalisierungskritischen Bewegungen maßgeblich zur proaktiven Ausrichtung der Proteste gegen den Irak-Krieg beigetragen. So konnten sie bereits im Vorfeld des Krieges Einfluss auf die öffentliche Debatte und Meinungsbildung nehmen.
Trotz ihres sicherlich auch in der Zukunft anhaltenden Friedensengagements werden die globalisierungskritischen Bewegungen, Attac eingeschlossen, nicht zur "neuen" Friedensbewegung. Dies entspräche weder den Tatsachen noch ihrer Absicht. Es wäre wohl auch strategisch unklug, ihre inhaltliche Palette noch weiter zu verbreitern. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch die Anti-Kriegsmobilisierung ihre eigentlichen Themen in den Hintergrund gedrängt werden.(5) Bewegungsforscher warnen bereits vor einem bewegungspolitischen "Gemischtwarenladen"(6). Die verschiedenen Bewegungen werden aller Voraussicht nach nicht ineinander aufgehen. Wahrscheinlicher ist, dass sie auch weiterhin nebeneinander bestehen bleiben. Zugleich werden sie gezielter Expertise in gemeinsamen bzw. überlappenden Themenbereichen (z.B. Globalisierung, Krieg, Ökologie, Menschenrechte, Demokratie) anreichern, ihre Koordinationsanstrengungen verstärken, künftig sicherlich häufiger und bewusster zusammenarbeiten und gemeinsame Aktionen durchführen.
Seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren werden die Äußerungsformen der neuen sozialen Bewegungen jeweils stark von der jungen Generation der Protestierenden geprägt. Bei aller Kontinuität werden so immer auch Innovationen in die Bewegungen hinein getragen (Nehring 2003). Die wichtigsten Veränderungen gehen heute von den noch jungen globalisierungskritischen Bewegungen wie Attac und den Sozialforen aus, die zudem den erfolgreichsten Aktionstyp verkörpern. Will man mehr über neue Trends in der Entwicklung sozialer Bewegungen erfahren, lohnt eine eingehendere Betrachtung. Angesichts der Vielgestaltigkeit ihrer Organisationen und Netzwerke scheint es ratsam, sich ein konkretes Beispiel - hier ist es Attac - genauer anzuschauen. Veränderungen lassen sich insbesondere in Bezug auf (1) die Struktur, (2) das Leitbild und die (3) die Strategie beobachten:
Was die Struktur angeht, springt bei Attac zuerst die enge Verknüpfung von lokaler Verankerung, nationaler Koordination und transnationaler Vernetzung ins Auge. Neu ist, dass sich die lokalen Gruppen unter einem gemeinsamen nationalen Dach konstituieren und dabei eine große Entscheidungs- und Handlungsfreiheit behalten. Auf der nationalen Ebene gewährleistet die offene und flexible Form der Koordination und Mitgliedervertretung eine vergleichsweise wirksame Integration der verschiedenen Strukturen und Strömungen. Als wirklich globales Netzwerk verzichtet Attac im Unterschied zu den großen transnationalen NGOs auf eine übergreifende Leitungsebene. Den nationalen Attac-Sektionen ist die Wahl ihrer Strukturen, Aktionsformen und thematischen Schwerpunkte freigestellt (Eskola 2004). Die transnationale Vernetzung wird durch eMail-Listen und die gemeinsame Homepage, einen wöchentlichen Rundbrief, regelmäßige kontinentale (alle zwei Monate) und internationale Treffen (mindestens einmal jährlich während des Weltsozialgipfels) sowie durch parallele und gemeinsame Demonstrationen und Kampagnen sicher gestellt.
Attac hat kein einheitliches Leitbild und bislang auch bewusst darauf verzichtet, ein solches zu formulieren (ebd.: 3). Identitärer und programmatischer Kristallisationspunkt ist die Kritik der neoliberalen Globalisierung, die in den bekannten Attac-Slogans wie "Die Welt ist keine Ware" und "Eine andere Welt ist möglich" formuliert wird. Charakteristisch sind eine große thematische Offenheit und eine strikte Unabhängigkeit von politischen Parteien. Neben der wissenschaftlich fundierten Kritik an der neoliberalen Globalisierung darf die Bedeutung der emotionalen Anziehungskraft von Attac nicht unterschätzt werden: "Was die Bewegung (und diese mit vielen anderen Bürgern) verbindet, sind Angst (vor einem ungewissen Prozess gesellschaftlichen Wandels, vor Orientierungs- und Identitätsverlust usw.), Wut (über soziale Ungerechtigkeit o.ä.) oder Scham (über den Reichtum der Industrieländer o.ä.) - Gefühle also" (Ehrke 2001: 2). Ein Geheimnis des Erfolgs von Attac ist zweifellos seine Eignung als Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Ziele und Gefühle.
Der ideologische Pluralismus von Attac geht durchaus mit der Verfolgung ganz konkreter Ziele wie der Einführung einer Devisenumsatzsteuer (Tobin-Steuer) oder der Schließung von Steueroasen zusammen. Diese Ziele sind die Spitze eines programmatischen Eisbergs. Die Einnahmen aus der Tobin-Steuer sollen nach den Vorstellungen von Attac z.B. für Entwicklungsprojekte und für die Armutsbekämpfung eingesetzt werden. Das Spektrum der Ziele bezieht sich nicht nur auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern auch auf die Außen- und Entwicklungspolitik sowie die Landwirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Die intensive inhaltliche und Programmdiskussion (7), die auch in den Basisgruppen aktiv geführt wird, macht aus Attac nicht nur ein riesiges Netzwerk von ExpertInnen in Sachen Weltwirtschaft und Globalisierung (Stichwort: "kollektiver Intellektueller"). Sie gewährleistet nicht zuletzt auch ein hohes Maß an symbolischer Binnenkommunikation und stärkt so den inneren Zusammenhalt.
Zusammengefasst besteht das Erfolgsrezept von Attac in der Fähigkeit, extreme Pole miteinander zu verbinden und in einer produktiven Balance zu halten: lokale Verankerung und flexible nationale und transnationale Strukturen; systematische Bildungsarbeit und emotional-libertäre Ausstrahlung; Fokussierung auf ausgewählte programmatische Ziele und politisch-ideologische Offenheit. Mit dieser auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Ausrichtung trägt Attac sowohl dem politisch-kulturellen Zeitgeist als auch dem grundsätzlich zyklischen Charakter sozialer und politischer Mobilisierung Rechnung. Vielleicht ist dies ja das Rezept, um sich wirksamer als frühere soziale Bewegungen gegen Rückschläge und Resignation zu immunisieren? Trifft die Analyse zu, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die transnationale Friedensbewegung dann größere Chancen auf Verstetigung hat, wenn es ihr gelingt, von den Erfahrungen der globalisierungskritischen Bewegungen zu lernen.
3. Chancen für die Entstehung einer neuen transnationalen Friedensbewegung.
Pro und Contra
Im zweiten Teil des Beitrages nähere ich mich der Frage nach den Chancen für ein Fortbestehen der Anti-Kriegsbewegung aus einer systematischen Perspektive. Zur Bestimmung von Status und Dynamik der Proteste gegen den Irak-Krieg im Spannungsfeld von punktueller Mobilisierung und (neuer) sozialer Bewegung, bedarf es einigermaßen belastbarer Kriterien. Um diese zu gewinnen, stütze ich mich auf neuere bewegungssoziologische Forschungsergebnisse (vgl. z.B. Tarrow 2002; Rucht 2002). Aus Platzgründen können jedoch nur drei ausgewählte Dimensionen neuer sozialer Bewegungen - Leitbild, Organisation und Durchsetzungsfähigkeit - untersucht werden. Zu jedem Stichwort werden jeweils Pro- und Contra-Argumente (für und gegen die Entstehung einer neuen transnationalen Friedensbewegung) abgewogen. Die Ergebnisse werden in einem Resümee bilanziert.
(1) Leitbild und Ziele
Zur integrierenden Idee und thematischen Brücke der weltweiten Protestbewegung gegen den Irak-Krieg wurden die Empörung gegen die Politik der Bush-Administration und das Ziel, den unnötigen und ungerechten Krieg zu verhindern. Diese starke symbolische Integration begünstigte das Zusammengehen der verschiedenen nationalen Protestbewegungen und Strömungen und eine bislang nicht dagewesene Mobilisierung. Nach dem diese Klammer weggefallen ist, stellt sich die Frage, ob eine Weiterführung der Bewegung möglich ist oder diese ebenso schnell wieder verschwinden wird, wie sie entstanden ist.
Pro:
Es gibt wohl niemanden in der Friedensbewegung, der annimmt, dass das in den zurückliegenden Monaten angesammelte symbolische Kapital ausreichen könnte, um auch nach dem Irak-Krieg die Bewegung zusammen und in Gang zu halten. Viel wird davon abhängen, ob und inwieweit es gelingt, zumindest einen Teil der Menschen, die zwischen dem 14. und 16. Februar 2003 auf die Straße gegangen sind, für künftige Aktionen und Kampagnen zu mobilisieren.
Auf der symbolischen Ebene bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Fortsetzung der Bewegung. Die Ablehnung aller Formen von Krieg ist auch weiterhin ein wichtiger Mobilisierungshebel.(8) Zugleich reichen aber noch so engagiert und phantasievoll umgesetzte Anti-Kriegsproteste nicht aus. Darüber hinaus wird es darum gehen, das Friedensthema neu zu besetzen und mit aktuellen Forderungen aufzuladen, um die Menschenrechts-, Friedens- und Abrüstungsrhetorik der US-amerikanischen NeoCons und anderer Strömungen der Pro-Kriegsfraktion abwehren zu können. Dies wird nur gelingen, wenn die Friedensbewegung argumentativ wieder in die Vorhand kommt - weg von einem einseitigen, vorwiegend völkerrechtlich begründeten Antikriegs- und Stabilisierungsdiskurs, hin zu tragfähigen Konzepten für eine friedliche und demokratische Weltordnung und zu politisch glaubwürdigen Antworten auf die Frage nach der globalen Verantwortung der westlichen Staaten (z.B. im Falle massiver Friedensbedrohungen und Menschenrechtsverletzungen).
Contra:
Aus der Stärke des Leitbildes "Frieden" - d.h. seiner Breite und Integrationsfähigkeit - resultiert zugleich auch seine Schwäche: Es erscheint zu unspezifisch und für widerstreitende Definitionen zu offen, um als gemeinsame Problemdeutung sowie als Leitbild für die Ausbildung einer gemeinsamen Identität und die nachhaltige Mobilisierung einer globalen Bewegung hinreichend tauglich zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass nach dem Ende des Irak-Krieges die verschiedenen ideologischen, thematischen, nationalen und lokalen Strömungen wieder in ihr jeweiliges Bett zurückfließen. Die für den heutigen sozialen Protest charakteristische Fragmentierung der Interessen, ideologischen Begründungen, Formen und Schauplätze wird wieder die Oberhand gewinnen (Rucht 2003).
Diese Bewertung wird durch die Entwicklungen seit dem Ende des Krieges bestätigt. Soll das Mobilisierungsniveau auch nur annähernd beibehalten werden, bleibt den Vordenkern und Organisatoren keine andere Wahl, als sich auf Ziele zu konzentrieren, die in "ihren" jeweiligen Öffentlichkeiten ausreichende Resonanz versprechen. Das führt zwangsläufig zu einer breiten Auffächerung der Themenpalette von der Kritik an der Anti-Terrorgesetzgebung, die in den USA im Vordergrund steht, über die Auseinandersetzung mit den Bestrebungen zur Militarisierung der EU in Europa bis hin zu den Bemühungen um die Beilegung bewaffneter Konflikte in ganz verschiedenen Weltregionen. Hinzu kommen die je nationalen und lokalen Schwerpunktbildungen, so z.B. der Zusammenhang von Sozialabbau und hohen Rüstungsausgaben in europäischen Staaten oder der Teufelskreis von Ausbeutung, Armut und Gewalt in großen Teilen der sog. Dritten Welt und Osteuropas.
Schlussfolgerung:
Die Friedensbewegung kommt nicht umhin, endlich die heißen Eisen anzupacken und die schwierigen Kontroversen der 1990er Jahre zum Gegenstand kreativer Debatten zu machen. Eine wirkliche Massenbewegung kann nur entstehen, wenn eine ausreichende Offenheit auch für Positionen jenseits eines fundamentalen Pazifismus gegeben ist. Dies ist keineswegs mit Beliebigkeit zu verwechseln. Vielmehr wird sich die Attraktivität der Bewegung in dem Maße erhöhen, wie sie es versteht, (noch mehr) zum Ort der öffentlichen Debatten, der wissenschaftlich-konzeptionellen Arbeit, der Information und Weiterbildung zum Themenspektrum Frieden, Krieg und Gewalt zu werden. Die globalisierungskritischen Bewegungen haben vorgemacht, dass Auseinandersetzungen über strittige Positionen durchaus integrierend wirken können.
Um die Vielfalt der Interessen und Ziele der verschiedenen Bestandteile und Strömungen der Friedensbewegung unter einem programmatischen Dach zusammenzuführen, bietet sich eine stärkere Vernetzung zwischen den verschiedenen thematischen Bereichen und Ebenen an (z.B. Konfliktprävention, Abrüstung, Terrorbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit). Ein anderer erfolgversprechender Weg ist die Suche nach Bezügen zu den Zielen der anderen neuen sozialen Bewegungen. Ein Beispiel ist die Verdeutlichung des Zusammenhangs zwischen Kriegs- und Gewaltursachen auf der einen Seite und neoliberaler Globalisierung und Umweltvernichtung auf der anderen Seite. Ausschlaggebend für die Attraktivität und Mobilisierungsfähigkeit ist jedoch die emotionale Ausstrahlung der Bewegung.
(2) Organisations- und Aktionsformen
Die historisch beispiellose grenzüberschreitende Protestbewegung gegen den Irak-Krieg war keineswegs ein Selbstläufer. Um die verschiedenen nationalen Bewegungen und unterschiedlichen ideologischen Strömungen zusammenzuführen, bedurfte es leistungsfähiger organisatorischer Kerne und des Know-hows erfahrener Bewegungsaktivisten. Sie sind diejenigen, die über eine intensive Binnenkommunikation für die Klärung gemeinsamer Interessen, die Situationsdeutung und Orientierung, die Protestartikulation und Selbstlegitimation sowie nicht zuletzt für die Koordination der Bewegung gesorgt haben (vgl. Klein 1996: 196). Will die Bewegung gegen den Irak-Krieg ihre neue transnationale Qualität verstetigen, müssen ihre Organisationsformen ihre Funktionstüchtigkeit auch unter Bedingungen abnehmender Mobilisierung beweisen.
Pro:
Für die Herausbildung einer neuen sozialen Bewegung spricht die organisatorische Qualität der Friedensbewegung als Zusammenfluss der Friedensbewegung mit sozialen Bewegungen aus anderen Tätigkeits- und Politikbereichen (Umwelt, Globalisierungskritik, Menschenrechte sowie traditionelle soziale Bewegungen wie Gewerkschaften). Im Zuge der Entstehung der Protestbewegung gegen den Irak-Krieg ist eine grenzüberschreitendes, globale Netzwerk entstanden, das - wie das internationale Zusammentreffen vom Mai 2003 in Jakarta gezeigt hat - weiterhin handlungsfähig ist. Die Netzwerkstruktur garantiert ein Minimum an Zusammenhalt, auch wenn weder in den einzelnen Ländern noch auf der transnationalen Ebene eine zentrale Organisation existiert.
Die Herausbildung des Netzwerkes wurde in seiner globalen Ausprägung und großen Mobilisierungsdynamik vor allem deshalb möglich, weil für die Grenzen und Kontinente überschreitende Binnenkommunikation das Internet zur Verfügung steht. Dabei kann die Anti-Kriegsbewegung auf den Erfahrungen und Strukturen der globalisierungskritischen Bewegung aufbauen. Das Internet wurde zum wichtigsten organisatorischen Werkzeug für die Bewegung. Im Unterschied zu früheren sozialen Bewegungen kontrolliert die Friedensbewegung - wie andere transnationale neue soziale Bewegungen - "ihr eigenes qualitativ anspruchsvolles Kommunikationsmedium" (Bennet zit. nach: Tarrow 2002: 17).
Durch das Internet ist die transnationale Vernetzung zwischen den Gruppen und Aktivisten ohne große Kosten zu bewerkstelligen. Das Internet ermöglicht eine direkte und damit wirksamere Information und Mobilisation der Mitglieder und Teilnehmer. Hier besteht zudem der Vorteil der wirksamen Abschirmung vom Einfluss konventioneller Medien. Die Homepages der verschiedenen Ebenen und Gliederungen werden zu wichtigen symbolischen Orten, zu virtuellen Versammlungs- und Diskussionsräumen. Das Internet funktioniert nicht zuletzt als Gedächtnis und Ideenbörse der Bewegung.
Contra:
Die Selbstbeschreibung der Anti-Kriegs- bzw. Friedensbewegung als transnationales Netzwerk ist insofern unzutreffend, als keine tragfähigen Verbindungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten des Netzwerks bestehen, die das Fundament für eine Bewegung als eine funktionale Einheit bilden könnten. Im Vordergrund stehen nach wie vor die einzelnen nationalen und lokalen Bewegungszusammenhänge. Hinzu kommen die spezifischen Fach- und Aktionsnetzwerke (für Menschenrechte, Ökologie, Frauen etc.), die jedoch ihre Selbstständigkeit behalten haben. Diese verschiedenen Teilnetzwerke fügen sich nicht zur einer kompakten, aus sich heraus handlungsfähigen Bewegung zusammen (vgl. Ruchts Einschätzung zu den globalisierungskritischen Bewegungen: 2002: 19).
Auch in Bezug auf die positive Bewertung des Internets als zentralem Medium zur Gewährleistung der Binnenkommunikation der Bewegung erscheint Zurückhaltung angebracht. Das Internet suggeriert zwar Zusammengehörigkeit, aus der Nähe besehen zeigt sich jedoch, dass internetgestützte Netzwerke bzw. Bewegungen ideologisch weniger geschlossen und organisatorisch instabiler sind. Im Vordergrund stehen Kampagnen und nicht die politische Arbeit einer mehr oder weniger fest gefügten Organisation mit verlässlichen Verbündeten und einem klar umrissenen Gegner. Zudem wird durch das Internet die Autonomie kleiner Gruppen und ideologische Unschärfen begünstigt. Erfahrungsgemäß sind Treue und Loyalität der Mitglieder bzw. Aktivisten nachweislich geringer. Die Fluktuation ist vergleichsweise hoch Insgesamt verstärken sich also die zentrifugalen Tendenzen. Und dies gilt in noch erheblich stärkerem Maße für transnationale Bewegungen (Tarrow 2002: #).
Schlussfolgerung:
Mit dem Internet ist zweifellos eine adäquate Informations- und Medieninfrastruktur verfügbar, die sich eng an die soziale Struktur der Bewegung anschmiegt. Sie ist jedoch nur dann funktionstüchtig und effizient, wenn sie von einer vitalen sozialen Struktur getragen und gewissermaßen am Laufen gehalten wird. Deshalb bedarf die Gewährleistung eines hinreichenden Zusammenhalts möglichst stabiler persönlicher Kontakte zwischen den Aktivisten und Gliederungen. Ein Netzwerk ist in erster Linie eine soziale Struktur.
Auch wenn eine soziale Bewegung ohne ein Minimum an innerer Kohäsion und Kommunikation nicht existieren kann, haben doch die bisherigen Erfahrungen der globalisierungskritischen Bewegung gezeigt, dass ein transnationaler bzw. sogar globaler Bewegungszusammenhang durchaus als Zyklus von thematisch unterschiedlichen Kampagnen und Patchwork mehrerer dichter strukturierter Teilnetzwerke existieren kann. Mehr noch: gerade die ideologische Heterogenität und organisatorische Vielfalt scheinen den Zusammenhalt der Bewegung eher zu nützen als zu schaden. Die Kontinuität besteht eher auf der lokalen Ebene. Von hier aufsteigend fächert sich die Bewegung zunehmend auf.
(3) Durchsetzungsfähigkeit und Gelegenheitsstrukturen
Der Erfolg (neuer) sozialer Bewegungen bemisst sich an ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Wichtiger noch ist ihr Vermögen, den Werte- und Normenhaushalt "ihrer" Gesellschaften zu beeinflussen, um so mittel- und langfristig politische und wirtschaftliche Veränderungen zu bewirken. Dafür reichen attraktive Leitbilder und handlungsfähige soziale Netzwerke allein nicht aus. Eine machtvolle Mobilisierung wird erst Platz greifen können, wenn große Gefahren drohen und wenn förderliche Gelegenheitsstrukturen bestehen (Goldstone/Tilly 2001). Nach den schnellen Mobilisierungserfolgen gegen den Irak-Krieg spricht Einiges dafür, dass sich die Bewegung auf eine starke Anti-Kriegsstimmung in den Gesellschaften stützen kann. Fraglich ist jedoch, ob es gelingt, die aktuellen Gefahren ausreichend zu verdeutlichen und geeignete Gelegenheitsstrukturen zu nutzen, um diese Stimmung in (bewegungs-)politische Wirkung umzusetzen.
Pro:
Der Erfolg der Bewegung wird schon allein dadurch sinnfällig, dass es ihr gelang, die öffentliche Weltmeinung in einem bisher nicht dagewesenen Maße gegen die Politik der USA und der anderen den Krieg befürwortenden Staaten zu mobilisieren. Dies wurde in hohem Maße durch die z.T. hartnäckig erstrittene große Medienresonanz erreicht. Die Tatsache, dass sich die Argumente der Anti-Kriegsbewegung mittlerweile als richtig erwiesen haben und es den kriegführenden und Besatzungsmächten bisher nicht gelungen ist, ihre Ziele zu erreichen, dürfte ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz und damit ihre politische Wirksamkeit zusätzlich befördern.
Was die Möglichkeiten der neuen Friedensbewegung angeht, die Werte, Normen und Zwecksetzungen der westlichen Gesellschaften und darüber hinaus auf der internationalen Ebene in Bezug auf ihre Hauptthemen Frieden, Kriegsächtung und Antimilitarismus zu beeinflussen, sind die Chancen gar nicht so schlecht. Die Überwindung des "Systems" ist kein vorrangiges und realistisches Ziel. Im Vordergrund steht die Vermittlung der Gewissheit, dass eine Welt ohne Krieg möglich ist. In der nationalen und transnationalen Kampagnenarbeit geht es darum, die Regierungen immer wieder mit sichtbarer öffentlicher Gegenmacht zu konfrontieren und zur Veränderung ihrer Politik zu zwingen. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die alternative konzeptionelle und wissenschaftliche Arbeit.
Contra:
Die Bewegung gegen den Irak-Krieg war in ihren Forderungen so breit und konsensual angelegt, dass sich ihr jeder einigermaßen politisch helle Normalbürger fast vorbehaltlos anschließen konnte. In vielen Ländern deckten sich die Positionen der Friedensbewegung weitgehend mit denen der Regierungen. Die den Krieg befürwortenden Regierungen wurden in den meisten Fällen nur für eine kurze Zeit in Schwierigkeiten gebracht. Die Meinungsumfragen in den meisten Ländern und etwa auch der Ausgang der jüngsten Kommunalwahlen in Spanien zeigen, dass von der Bewegung keine spürbaren politischen Veränderungen - etwa zugunsten der Parteien, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten - ausgegangen sind.
Die Proteste gegen den Irak-Krieg haben historisch einmalige Gelegenheitsstrukturen nutzen können, die so nicht noch einmal zustande kommen werden. Nach dem Ende des Irak-Krieges werden die "Fronten" wieder unübersichtlicher. Die Bewegung wird deshalb zwangsläufig wieder in dem bekannten zyklischen Auf-und-Ab an Schwung, Sichtbarkeit und Einfluss verlieren. Überdies werden die politischen und Medieneliten aus dieser Niederlage lernen und künftig - z.B. bei der Vorbereitung eines neuen Krieges - geschickter agieren.
Schlussfolgerung:
Ein längst nicht ausgeschöpftes Potenzial für die Weiterführung der Friedensbewegung bildet die Ergänzung ihres Protestprofils durch eine Vielzahl konkreter Kampagnen und die Erarbeitung konstruktiver, d.h. politisch realisierbarer Alternativen, die dann auch aktiv in die öffentliche Debatte eingebracht werden müssen. Dabei wird es jeweils darauf ankommen, die konkrete Friedensbedrohung in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen, die Gegner friedlicher Lösungen deutlich zu benennen, einflussreiche Verbündete bis in die Regierungen und internationalen Organisationen hinein zu gewinnen (9) und nach geeigneten Ereignissen und Anlässen zu suchen. Letztlich geht es darum, die große transnationale Bewegung gegen den Irak-Krieg in viele kleine Bewegungen zu überführen, ohne den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Ebenen und Strängen aufzugeben. Dabei gilt die grundsätzliche Regel, dass Aktionismus den Tod jeder Bewegung bedeutet.
Mit Blick auf die politische Durchsetzungs- und Gestaltungsfähigkeit der nationalen und transnationalen Friedensbewegungen springt zudem der Nachholebedarf gegenüber der ökologischen Bewegung ins Auge, wo ein enges Zusammenwirken von sozialer Bewegung und Umwelt-NGOs längst zur Normalität gehört (vgl. z.B. Walk/Brunnengräber 2000). Eine stärkere Kooperation und Vernetzung mit in der Friedens- und Konfliktarbeit tätigen NGOs steht auf der Tagesordnung (vgl. z.B. Steinweg 2002; Wintersteiner 2002). Die Friedensbewegung "muss ihren berechtigten Ruf nach Konflikt-Prävention viel präziser formulieren als bisher. Dann könnte wachsen, wofür Massenproteste bestenfalls die Saat legen können: nachhaltiges zivilgesellschaftliches Wirken für friedliche Konfliktlösung".(10) Für eine solche Basisarbeit ist ein langer Atem notwendig.
Anmerkungen-
Ein Beispiel dafür sind die jährlichen Treffen von friedensbewegten Aktivisten und Wissenschaftlern auf dem Friedensratschlag in Kassel.
- Nach Tarrow (2002: 19) gehören zu den "Gelegenheitsstrukturen" (1) internationale Ereignisse wie die Vorbereitung auf den Irak Krieg oder Staatsbesuche des US-Präsidenten, (2) feindliche Staaten, gegen die sich die Proteste richten, bzw. Staaten, die die Anliegen der Bewegung unterstützen sowie (3) internationale Institutionen wie die UNO und die Weltbank usw., wo die Akteure aufeinander treffen.
- So eine österreichische Teilnehmerin. Marion Hackl, Sozialistische Jugend Alsergrund/Wien (http://www.derfunke.at/zeitung/f47/esf_f47.htm).
- "Die Leute von Attac haben der Friedensbewegung einiges zu bieten. Mit ihren ökonomischen Analysen organisieren sie den Protest in rationalen Kategorien - jenseits des traditionellen Pazifismus oder der reinen Kriegsangst. Umgekehrt bringt das Thema Irak-Krieg die manchmal durchaus etwas komplexeren Vorstellungen von Attac auf eine Ebene, wo fast jeder sie versteht" (SDZ, 8./9.02.03).
- Die Demo-Zeitung von Attac Deutschland für den 15. Februar 2003 zeigt z.B. das deutliche Bemühen, neben dem Irak-Krieg auch die weltwirtschaftlichen Themen präsent zu halten.
- Dieter Rucht in der Süddeutschen Zeitung, 8./9.02.2003.
- Innerhalb von Attac gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob die Formulierung eines Sets von Zielen ausreicht oder nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem stärker ausgearbeiteten Programm ist.
- Die internationale Zusammenkunft von Friedensbewegungen und -gruppen vom 19. bis 21. Mai 2003 in Jakarta hat z.B. eine bündnisorientierte "Verbreiterung" des Leitbildes "gegen den Krieg" vorgeschlagen (Jakarta Peace Consensus): "Wir widersetzen uns dem Krieg in all seinen Erscheinungsformen, ob er nun offen deklariert oder zwischen Staaten ist, ob er ein Krieg gegen soziale Bewegungen, ein wirtschaftlicher Krieg gegen die verarmten Völker der Welt ist oder ob es sich dabei um einen Krieg gegen politische Aktivisten und Gegner der herrschenden Ordnung handelt."
- Wie Dieter Rucht (2002: 21) schreibt, sind dabei weder "Kooperationsangebote der etablierten Politik" prinzipiell als "Kooptationsfalle" abzulehnen "noch sollte der Erfolg einer Bewegung daran gemessen werden, ob ihre Vertreter an den Konferenztischen sitzen dürfen. Bewegungen können sich der Frage nach konstruktiven Lösungen stellen, ohne deshalb die gewählten Politiker aus ihrer Verantwortung zu entlassen".
- Stephan Hebel in der Frankfurter Rundschau, 17.02.2003.
4. Literatur -
Becker, Johannes M., 1992: Stillstand in der Friedensbewegung, in: W&F, Heft 4 (http://www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-92/9241002m.htm).
-
Bennis, Phyllis, 2003: Bush Isolated, Launches Terrifying Attack, Millions Protest by (http://www.war-times.org/current/9art1.html, 5.7.03)
-
Cassen, Bernard 2003: On the Attac. Interview mit Bernard Cassen, in: New Left Review, 19. Jg., Januar/Februar.
-
Davis, Susan, 2003: Contain and Isolate, The New York Times and the Peace Movement (http://www.counterpunch.org/davis04092003.html (5. 7. 2003).
-
Ehrke, Michael, 2001: Was wollen die Globalisierungsgegner? (http://orae.fes.de:8081/fes/docs/AKTUELL/GLOBALISIERUNGSGEGNER_0.HTML).
-
Eskola, Kaisa, 2004: ATTAC als lokale, nationale und transnationale Freiwilligenorganisation, in: Nitschke, Peter: Die freiwillige Gesellschaft. Über das Ehrenamt in Deutschland, Berlin: Peter Lang Verlag.
-
Goldstone, Jack/Tilly, Charles, 2001: Threats (and Opportunity): Popular Action and State Response in the Dynamics of Contentious Action, in: Aminzade, Ronald R. et al.: Silence and Voice in the Study of Contentious Politics, New York, Cambridge: Cambridge University Press, Kap. 7.
-
Klein, Ansgar, 1996: Die Legitimität von Greenpeace und die Risiken symbolischer Politik. Konturen und Probleme einer medialen Stellvertreterpolitik im Bewegungssektor, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 9. Jg., Heft 1, S. 11-14.
-
Lau, Jörg, 2003: Der Griff zur Fahne. Die amerikanische Linke streitet: Kann man Patriot und trotzdem gegen den Krieg sein? Hausbesuche bei New Yorker Intellektuellen, in: Die Zeit, 13. 3., Nr. 12, S. 43.
-
Nehring, Holger, 2003: The Growth of Social Movements, in: Addison, Paul/Jones, Harriet (Hrsg.): Blackwell Companion to Contemporary Britain, i.E.
Nohlen, Dieter (Hrsg.), 1998: Wörterbuch Staat und Politik. Neuausgabe 1995, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
-
Pecha, Andereas, 2002: Die Friedensbewegung - eine Erfolgsstory? Ein Rückblick, in: Pecha, Andreas/Roithner, Thomas/Walter, Thomas (Hrsg.): Friede braucht Bewegung. Analysen und Perspektiven der Friedensbewegung in Österreich, Wien: Verlag Thomas Roithner, S. 18-25.
-
Raschke, Joachim, 1987: Zum Begriff der sozialen Bewegung, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. und New York, S. 19-29.
-
Richter, Horst-Eberhard, 2002: Friedensbewegungen und der Prozess der Sozialforen am Beispiel von Friedensbewegung und ATTAC, in: Widerstand dem globalen Krieg. Dokumentation des Österreich_Forum Frieden & Gewaltlosigkeit 1 vom 26. bis 27. Oktober 2002 an der Uni Graz, S. 10-14.
-
Rucht, Dieter, 1996: Multinationale Bewegungsorganisationen. Bedeutung, Bedingungen, Perspektiven, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 9. Jg., Heft 2, S. 30-41.
-
Rucht, Dieter, 2002a: Herausforderungen für die globalisierungskritischen Bewegungen, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 15. Jg., Heft 1, S. 19-21.
-
Rucht, Dieter 2002b: Wo ist das Volk? Ein Gespräch mit dem Berliner Protestforscher Dieter Rucht über die wachsende Empörung im Land und das Ausbleiben einer großen Protestbewegung, in: Die Zeit, 12. Dezember, Nr. 51.
-
Staud, Toralf, 2003: Beschaller voran, in: Die Zeit, Nr. 8.
-
Steger, Phil, 2003: Growing the Peace Movement Even Though the President "Won" His War (http://www.pperrpeace.us/Articles/GrowingthePeaceMovement.doc, 5.7.03).
-
Steinweg, Reiner, 2002: Friedensbewegung. Plädoyer für Initiativen zur Vorbeugung von Gewalt, in: Pecha, Andreas/Roithner, Thomas/Walter, Thomas (Hrsg.): Friede braucht Bewegung. Analysen und Perspektiven der Friedensbewegung in Österreich, Wien: Verlag Thomas Roithner, S. 10-17.
-
Tarrow, Sydney, 2002: The New Transnational Contention: Organizations, Coalitions, Mechanisms, Prepared for Presentation at the Panel on "Sozial Movements and Transnational Social Movements, APSA Annual Meeting, August 31st - Sept. 1, 2002, Chicago.
-
Walk, Heike/Brunnengräber, Achim, 2000: Die Globalisierungswächter. NGOs und ihre transnationalen Netze im Konfliktfeld Klima, Münster: Westfälisches Dampfboot.
-
Wintersteiner, Werner, 2002: Zwischen Institution und Bewegung. Zukunft der Friedenspädagogik, in: Pecha, Andreas/Roithner, Thomas/Walter, Thomas (Hrsg.): Friede braucht Bewegung. Analysen und Perspektiven der Friedensbewegung in Österreich, Wien: Verlag Thomas Roithner, S. 174-181.
Zur Seite "Friedensbewegung"
Zur "Pazifismus"-Seite
Zurück zur Homepage