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Ostermarsch 2000 in Kassel

Rede von Dr. Ulrich Schneider (Zwischenkundgebung an der Synagoge)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
auch wenn der diesjährige Ostermarsch in besonderem Maße unter dem Motto der Erinnerung an den ersten Jahrestag des bundesrepublikanischen Kriegseinsatzes im Kosovo steht, so möchte ich doch auch daran erinnern, dass sich in diesem Jahr der Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg zum 55.Mal jährt.

Diese Befreiung von Faschismus und Krieg, die durch das gemeinsame Handeln der Kräfte der Anti-Hitler-Koalition möglich wurde, stellte für Deutschland die Chance für einen politischen Neubeginn in antifaschistischer Perspektive dar. Teil dieser Anti-Hitler-Koalition waren auch deutsche Antifaschisten, Frauen und Männer des Widerstandes und des Exils, deren politische Ziele sich in den klaren Losungen: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! zusammenfassen ließen. Das bedeutete konkret: Jegliche faschistische Betätigung sollte verboten, demokratische Grundrechte und soziale Gerechtigkeit sollten unaufhebbar verankert, der Mißbrauch von wirtschaftlicher Macht zur politischen Einflussnahme grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Wir alle wissen, dass diese Forderungen des 8.Mai 1945 in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unseres Landes noch lange nicht Realität sind, und werden fast täglich in dieser Einschätzung bestätigt.

Schon wieder marschieren Nazis mit offizieller Genehmigung durch das Brandenburger Tor. Antisemitismus gehört zur "Normalität" in unserem Land. Gleichzeitig erleben wir durch die etablierten politischen Kräfte einen Abbau demokratischer und Freiheitsrechte, rassistische Ausgrenzungen von Menschen ohne deutschen Pass. Wo sind die Grenzen des etablierten Rassismus, wenn ein CSU-Politiker von "durchrasster Gesellschaft" spricht, der jetzige Bundeskanzler sich populistisch die Losung "Kriminelle Ausländer raus" zueigen macht und sein Innenminister für eine Verschärfung der Asylgesetze verantwortlich ist? Auf die Spitze trieb es der Friedrich Merz, der jüngst in einem Interview mit der Zeitung "Die Woche" erklärte:
"Wir brauchen in Zukunft die Zuwanderung von Menschen, die wir haben wollen. Aber das setzt voraus, dass wir sagen, wen wir nicht haben wollen. Dazu hat die alte Bundesrepublik - aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus, die ich respektiere - nicht den Mut gefunden. Unsere Generation will sich nicht mehr derart in Haftung für unsere Vergangenheit nehmen lassen."

Der 55.Jahrestag der Befreiung fordert demgegenüber rechtzeitig die Stimme zu erheben, nicht nur, wenn - wie jetzt in Österreich - rassistische und neofaschistische Kräfte in politische Machtpositionen gelangen. Es geht um die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten auch in unserem Land.

Statt politischer Lehren aus der Befreiung von Faschismus und Krieg zu ziehen, hört man - bis hinein in die Regierungsparteien, nun müsse einmal endgültig ein "Schlussstrich" gezogen werden - besonders bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter. Noch haben die Unternehmen nicht einmal die Hälfte der zugesagten Mittel aufgebracht, da sollen die Opfer des faschistischen Sklavenarbeitsprogramms bereits bei der Antragstellung auf Entschädigung, so sie denn überhaupt in den Genuss von Leistungen kommen sollen, rechtsverbindlich auf alle weitergehenden Ansprüche gegenüber ihren Peinigern verzichten. Man gewinnt den Eindruck, dass es auch dieser Regierung nicht um finanzielle und moralische Wiedergutmachung, sondern in erster Linie um den Schutz der Profiteure geht, von denen wir auch in Kassel zahlreiche Beispiele namentlich benennen können, z.B. die großen Rüstungsproduzenten Bode, Fieseler, Henschel, Wegmann und andere. Wer - wie Vertreter der Industrie - heute fordert, dass nun endlich ein "Schlussstrich" gezogen werden müsse, muss erklären, warum es eine solche Entschädigung in den vergangenen 55 Jahren nicht gegeben hat. Darauf sollten wir Antworten fordern.

Und auch auf die Frage: warum bis heute Legendenbildungen über die angeblich "saubere Wehrmacht" das Selbstbild der Bundeswehr und die öffentliche Debatte um den Zweiten Weltkrieg beeinflussen, während die Ausstellung "Vernichtungskrieg", die die tatsächlichen Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in Serbien und an der Ostfront exemplarisch dokumentierte, als angeblich unwissenschaftlich und gefälscht dem politischen Druck weichen musste.

Aber es gibt auch positive Signale. Der Neubau der Synagoge hier in Kassel, an dem wir uns jetzt befinden, der am 7.Mai offiziell der jüdischen Gemeinde übergeben werden soll, ist ein wichtiges Symbol dafür, dass den Opfern - wenn auch nach über 60 Jahren - ein Stück Wiedergutmachung und gesellschaftliche Anerkennung zuteil wird. Das begrüßen wir, ebenso, dass in dieser Stadt nicht allein am 27.Januar, dem offiziellen Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft, der Verfolgten des NS-Regimes öffentlich gedacht wird. Doch ich möchte gerade mit Blick auf den kommenden 8.Mai betonen:

Erinnern wir nicht allein an die Opfer, sondern auch an diejenigen - leider viel zu wenigen - , die sich dieser verhängnisvollen Politik, oft unter Einsatz ihres Lebens entgegengestellt haben - auch hier in Kassel. Ich möchte exemplarisch nur einige Namen in Erinnerung rufen:
  • Max Mayr, als Angehöriger des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes verfolgt und im KZ Buchenwald inhaftiert. Er war lange Jahre Referent für Wiedergutmachung beim RP.
  • Georg Merle, tätig im kommunistischen Widerstand und ebenfalls im KZ Buchenwald inhaftiert. Er war nach 1945 für die KPD Mitglied im Überparteilichen Ausschuss und langjähriger Rechtsbeistand der VVN in Wiedergutmachungsverfahren
  • die Sozialistin Nora Platiel, die als Jüdin und Angehörige des ISK verfolgt vom französischen und schweizer Exil aus gegen das Naziregime arbeitete, der Kommunist Fritz Schmidt, Sachsenhausen-Häftling. Er wurde nach der Befreiung kommissarischer Stadtrat und Lizenzträger der "Hessischen Nachrichten".
  • der Sozialdemokrat Christian Wittrock, ebenfalls Sachsenhausen-Häftling. Er war wie Schmidt kommissarischer Stadtrat und gestaltete als Mitglied der verfasungsgebenden Landesversammlung die Hessische Landesverfassung mit. Sie alle brachten ihre politischen Überzeugungen in den gesellschaftlichen Neuanfang ein. Sie kämpften, wie es in dem oft zitierten Schwur der Häftlinge des KZ Buchenwald vom 19.April 1945 heißt, für die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln, für die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit. In ihrem Sinne die Erinnerung zu pflegen bedeutet, die damaligen politischen Ziele in heutiges politisches Handeln aufzunehmen.

Dabei müssen wir natürlich konkretisieren, was die Losungen von damals für heute bedeuten:
Nie wieder Faschismus! - d.h. keine Toleranz gegen Neonazismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Gegen Nationalismus und Abbau demokratischer Freiheiten im Innern.
Nie wieder Krieg! - d.h. keine bundesdeutschen Kriegseinsätze und Rüstungsexporte, Einsatz für nichtmilitärische Konfliktlösungsstrategien. Gegen eine Geschichtsrevision, die die Rehabilitierung der verbrecherischen deutschen Wehrmacht zum Ziel hat


In diesem Sinne bleibt historische Erinnerung gegenwarts- und zukunftsprägend. Und somit kann es und wird es eines für uns und mit uns niemals geben - einen Schlussstrich unter der Vergangenheit.

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