Gegen die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und die völkermordenden Kriege
Rede von Ulrich Sander am 1. April 2013 in Dortmund zu Abschluss des Ostermarsches Ruhr
Liebe Ostermarschiererinnen und Ostermarschierer, liebe Friedensfreundinnen
und Friedensfreunde!
Ich möchte hier im Namen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes,
Bund der Antifaschisten, ein Grußwort halten und danke für die Gelegenheit.
Unsere Organisation wurde 1946 in Nordrheinwestfalen von 50.000 Überlebenden
der Verfolgungen durch die Nazis als überparteiliche Organisation gegründet.
Sie ist eine der ältesten Friedensorganisationen unseres Landes, und wir
waren von Anfang an bei den Ostermärschen dabei.
Zunächst eine erschreckende Nachricht. Nazis durften am Ostersamstag in
Dortmund ungestört Volksverhetzung betreiben. Nachdem sich die Medien, vor
allem die "Ruhrnachrichten", und zeitweilig viele Lokalpolitiker seit zwei
Jahren in "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", so der Titel einer
Studie aus dem Hause von Prof. Wilhelm Heitmeyer, übten und arme Menschen
aus Osteuropa, Prostituierte und vor allem Roma und Sinti angriffen, hielten
es nun Nazigruppen für angebracht, vor einem Haus in Dorstfeld, in dem
angeblich Roma wohnen, aufzumarschieren und gegen die Errichtung von
"Ekelhäusern" (ein Begriff der Dortmunder Medien) und "Überfremdung" zu
hetzen. Dies war eine Aktion der Volksverhetzung mit Unterstützung der
Polizei. Denn diese hatte den Aufmarsch zugelassen, obwohl es seit dem
Verbot von Neonazigruppen in Dortmund im August vorigen Jahres immer wieder
Versprechungen der Polizei und des Innenministers gab, man werde die Nazis
nicht zur Ruhe kommen lassen und ihnen auf den Füßen stehen.
Heute sind es 80 Jahre her, da der große Judenboykott der an die Macht
gelangten NSDAP begann. Vor 80 Jahren haben die Nazis noch bis zu ihrer
"Machtergreifung" gewartet, bevor sie vor dem Haus des "Feindes fremden
Blutes " aufmarschierten. Heute dürfen sie es schon im laufenden
demokratischen Betrieb.
Die Medien unserer Stadt haben nicht vor diesem erschreckenden Vorgang
gewarnt. Sind die vielen Ankündigungen und antinazistischen Programme, die
in Dortmund dankenswerter Weise aufgelegt und ausgesprochen wurden, alle nur
Makulatur? Ich hoffe nicht. Allerdings eins ist geschehen: Die
Medienlandschaft hat sich nach rechts entwickelt. Seit dem 1. Februar gibt
es nur noch eine Lokalzeitung, es gibt die von der CDU gegründete
Monopolzeitung "Ruhrnachrichten", die alle Blätter mit Nachrichten aus
Dortmund versorgt. Die Anti-Roma-Haltung in der Öffentlichkeit
durchzusetzen, das war der große Versuch der "Ruhrnachrichten" und der trägt
nun Früchte. Dank an das Bündnis Dortmund Nazifrei, die Grünen und den
Dorstfelder Runden Tisch, die am Samstag handelten, - sonst wären nur ein
paar Versprengte wie ich dort gewesen, um den Nazis entgegenzutreten.
(Nebenbei, die Nazis nutzten unsere Beschäftigung mit dem Friedensthema und
mit dem Ostermarsch, und deshalb haben wir ja die Losung ausgegeben, dass
das Vorgehen gegen Nazis auch immer ein Vorgehen gegen Militaristen ist.
Dank also den Grünen, die ja leider sonst nicht mehr gegen den Militarismus
antreten, dass sie am Samstag handelten.)
Die Situation erfordert den "Aufruf gegen die Gleichgültigkeit ", wie ich
ihn nennen möchte. Elie Wiesel, der Auschwitzüberlebende und
Friedens-Nobelpreisträger, hat gesagt - und ich fand es auf einem
Gedenkstein für Naziopfer in Minden: "Das Gegenteil von Liebe ist nicht
Hass, sondern Gleichgültigkeit." Wir haben hier in Dortmund - und auch das
muss ja gesagt werden, um die Widersprüchlichkeit der hiesigen
Stadtgesellschaft aufzuzeigen - am Karfreitag wieder an das Schicksal derer
erinnert, die kurz vor Kriegsende ermordet wurden. Diesmal hat sich ganz
ausgezeichnet Borussia Dortmund an dieser Manifestation beteiligt. Die rund
300 Opfer, die in der Dortmunder Bittermark beigesetzt sind, waren Teil
jener 700.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Häftlinge und
Kriegsgefangenen und Deserteure, die im Frühjahr 1945 bei Todesmärschen,
Erschießungen und Massakern sterben mussten, weil die Nazis noch über ihr
Ende hinaus bestimmen wollten, wer nach dem Krieg in der Gesellschaft
mitwirken durfte und wer nicht.
Wer vor dem Mai 1945 den Opfern, den Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen
half - und das taten zum Glück einige - wurde hart bestraft. Doch die
meisten halfen nicht. Sie hatten nichts dagegen, dass die Zwangsarbeiter
nicht in die Luftschutzkeller durften, dass sie hungerten und froren.
Ich hätte am Karfreitag in der Bittermark gern diese Worte gehört, und weil
sie nicht fielen, spreche ich sie hier aus: "Wir lesen und hören in diesen
Tagen ständig von Kriegen und von Gewalt. Auch von Kriegen, die mit
deutschen Waffen und von deutschen Soldaten geführt werden. Das sollte nie
wieder sein. Und was tun wir heute dagegen?"
Ist es uns wirklich egal, wie es den anderen geht? Wie es den Roma aus
Osteuropa hier ergeht? Wer nicht unter Hartz IV fällt, hat Glück gehabt. Wem
keine Bomben auf den Kopf fallen, dem sind die deutschen und die NATO-Kriege
in aller Welt egal? Wir produzieren Waffen für den Rüstungsexport, es geht
ja um unsere Arbeitsplätze. Bei anderen geht es um ihr Leben.
Wir müssen uns immer wieder das Wort der Geschwister Scholl in Erinnerung
rufen: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz
gelegt! Entscheidet Euch!"
Ja, viele entscheiden sich. Es ist gut, dass sich viele Menschen bei uns
immer wieder gegen die neuen Nazis entscheiden.
Jahr für Jahr kommen diese in unsere Gegend, nach Dortmund, und viel zu
viele Nazis haben sich hier bereits eingerichtet. Sie rufen "Nie wieder
Krieg" und fügen hinzu: "... nach unserem Sieg, dem Sieg des 'nationalen
Sozialismus'". Sie reden von Frieden, Antikapitalismus, ja Sozialismus. Das
taten Hitler und Goebbels auch. Es kam zum furchtbarsten aller Kriege. Zur
schlimmsten Form des Kapitalismus: Nicht nur Ausbeutung durch Arbeit,
sondern Vernichtung durch Arbeit. Es kam zur Versklavung und zum Holocaust.
Ich möchte an einem anderen Ausspruch von Elie Wiesel erinnern: "Man muss
Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer.
Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals dem Gepeinigten." Schweigen
wir nicht. Ergreifen wir Partei für die Flüchtlinge, für die Kriegsopfer in
aller Welt.
In diesem Jahr sind es 80 Jahre her, da Hitler und seiner Partei die Macht
übertragen wurde. Sofort nach dieser Machtübertragung an die
Naziverschwörer, so stellte das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal im
November 1945 fest, begann die geheime Aufrüstung. Schon vier Tage nach dem
30. Januar traf sich Hitler mit den Befehlshabern des Heeres und der Marine.
Man einigte sich darauf, die "Wiedergewinnung der militärischen Macht" und
deren Gebrauch anzugehen mit dem Ziel der "Eroberung von Lebensraum im
Osten" und dessen rücksichtslose "Germanisierung" als Hauptaufgabe. Mit
"Germanisierung" war die Ausrottung von Juden und Slawen umschrieben. Mit
den Rüstungsbossen der Industrie einigte sich Hitler am 20. Februar 1933
darauf, dass sie ihn unterstützen und er ihnen gewaltige Rüstungsaufträge
verschafft. Und so kam es zum grauenvollsten Krieg der Weltgeschichte.
Es ist gut, dass mit dem Fernsehfilm "Unsere Mütter, unsere Väter" einem
millionenfachen Publikum, vor allem auch jungen Menschen, deutlich gemacht
wurde, wohin diese Kriegspolitik führte und zu welchen Verbrechen der
deutsche Faschismus und Militarismus fähig ist. Rund 60 Millionen Tote und
Europa zerstört - das war das Resultat dessen, was am 3. Februar 1933 im
Gebäude der Reichswehrführung ausgeheckt wurde.
1945 schworen sich die Menschen: Es darf nie wieder soweit kommen! Krieg
darf nie mehr sein. Aber inzwischen wird mit deutschen Waffen wieder
weltweit Krieg geführt. Deutsche Soldaten stehen im Kriegseinsatz auf drei
Erdteilen.
Der Ostermarsch begann vor 53 Jahren als Marsch gegen die Bombe. Heute gibt
es noch immer die atomare Aufrüstung, stehen wir vor der Modernisierung der
auch in Deutschland lagernden Atombomben und vor der Neuausrüstung der
Bundeswehr mit Kampfdrohnen und neuen Raketen, mit denen vieltausendfach den
Menschen Tod und Vernichtung gebracht werden kann. So vom NATO-Kommando
Kalkar aus. Wir fordern: Schluß damit.
Hat es sich unser Kampf dennoch auch gelohnt? Ja, oft errangen wir die
Meinungsmehrheit. Die Kanzlerin Angela Merkel führte vor drei Jahren aus,
sie sei zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, "dass wir eine
repräsentative Demokratie und keine plebiszitäre Demokratie haben", denn:
"all die großen Entscheidungen" hatten "keine demoskopische Mehrheit (...),
als sie gefällt wurden": so die Marktwirtschaft und der Euro, "die
Wiederbewaffnung, der NATO-Doppelbeschluß (...) und auch die zunehmende
Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt - fast alle
diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt."
Merkels Äußerung macht ihr zynisches Verhältnis zur Meinung der Bevölkerung
deutlich. Demokratie? Keine Spur. Solchen Politikerinnen und Politikern geht
es nur darum, die Macht zu erringen und mit List und Täuschung ihre Politik
durchzusetzen. Jetzt erleben wir dieselbe Praxis. Die CDU will die
Entscheidung über die Beschaffung von Kampfdrohnen bis nach der
Bundestagswahl verschieben, denn derzeit ist eine übergroße Mehrheit in
unserer Bevölkerung gegen diese Massenmordinstrumente. Und nach der Wahl
soll dann "gegen die Mehrheit der Deutschen" (Merkel) gehandelt werden.
Die Politik dieser Regierung bringt den Völkern mit der Bundeswehr und mit
der NATO Tod und Vernichtung, zumindest aber mittels der EU Armut und noch
mehr Ausbeutung.
Und daher ist unsere Opposition unerlässlich. Keine wirkliche Veränderung im
Lande ergab sich ohne Kampf - und zwar nicht nur im Parlament. Neben den
bestehenden Bewegungen muss auch die Friedensbewegung wieder einen
Aufschwung erleben. Wir hier arbeiten daran.
Allerdings ist die Friedensbewegung infolge der Wirtschaftskrise ebenfalls
in Schwierigkeiten. Die Tatsache der anhaltenden Arbeitslosigkeit und
sozialen Not sogar jener, die in Arbeit stehen, macht es den
Rüstungsbefürwortern leichter, Soldatinnen und Soldaten fürs Kriegshandwerk
anzuwerben und die Rüstungsindustrie in Gang zu halten. Besonders die Jugend
ist den Anwerbeversuchen ausgesetzt. Dem stellen wir uns entgegen. Wir
brauchen Abrüstung und Konversion, statt immer mehr Rüstungsexport und
Entsendung von Truppen in alle Welt. Wer rüstet, kann auch daran zugrunde
gehen.
Wir brauchen eine Gewerkschaftsbewegung als Teil der Friedensbewegung und
keinen Kriegspakt des DGB mit der Bundeswehr. Wenn die Gewerkschaften nicht
aufpassen, dann werden sie schon bald an ihren sozialen Kämpfen durch
Streikbruch und bewaffnete Bundeswehreinsätze im Innern gehindert, die von
rechten Reservisten besorgt werden.
Wir sagen: Diesem Kriegssystem darf sich kein Kollege und keine Kollegin
beugen. Und hinsichtlich der Schulen und Hochschulen sagen wir: Kein Werber
fürs Töten und Sterben.
Zu den wirkungsvollen Bewegungen im Lande gehört Gott sei Dank die
antifaschistische. Überall treten die Menschen den Nazis und Rassisten
entgegen. Die Untätigkeit der Behörden im Umgang mit den gewalttätigen
Faschisten, wenn nicht Mithilfe der Behörden bei den Naziaktivitäten wie die
NSU-Verbrechen, empört uns alle sehr - und es entwickelt sich der Protest,
oft unter dem Motto "Bunt statt braun". Wie ich schon sagte: Wir sind jedoch
nicht nur Nazigegner, sondern auch Kriegsgegner. Wir fordern: Bunt statt
braun und olivgrün! Tragen wir dieses Motto auch am 1. Mai und am 1.
September wieder auf die Straße, und wehren wir uns gegen die Nazis und die
Kriegstreiber. Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! An dieser Losung
von 1945 halten wir fest.
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