"Soldaten der Bundeswehr müssten mitkämpfen, wenn es zu einem Krieg zwischen Israel und dem Iran käme"
Rede von Sönke Wandschneider beim Ostermarsch in Hamburg
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!
Am Mittwoch letzter Woche veröffentlichte die Süddeutsche
Zeitung im Feuilleton mit deutlichem Hinweis auf
Seite eins ein Gedicht von Günter Grass mit dem Titel
„Was gesagt werden muss“. Seitdem vergeht kein Tag in
der veröffentlichten Meinung ohne Verachtung und Häme
für den Schriftsteller, bis hin zu dem vernichtenden Urteil: Grass sei ein Antisemit. Ein Empörungswettbewerb scheint ausgebrochen bis hin zur Entscheidung der israelischen Regierung gestern, Günter Grass zur „persona non grata“ zu erklären, zur „unerwünschten Person“; in Israel
ist er nicht nur unerwünscht, er würde an der Grenze zurückgewiesen,
wenn er denn die Einreise begehrte. Nur wenige Promis scheren aus der Empörungs-Phalanx aus: Klaus Staeck (Plakatkünstler und Präsident der Berliner Akademie der Künste), der Schweizer Dichter Adolf
Muschg, Jacob Augstein (Herausgeber des FREITAG),
die israelische, seit 22 Jahren in Deutschland lebende Friedensaktivistin Felicia Langer und ihr Mann Mieciu.
Welch unerhörte Provokation hat sich der Dichter geleistet,
welches Tabu hat er gebrochen? Wobei zum Wesen
des Tabus gehört, dass es ein Stillschweigen über etwas
gebietet, was zwar gewusst oder geahnt wird, aber unausgesprochen
bleiben muss. Um welche Tabus geht es? Er
hat behauptet: Die Atommacht Israel gefährde den ohnehin
brüchigen Weltfrieden. Und: Ein weiteres deutsches
U-Boot soll nach Israel geliefert werden, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken
zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe
unbewiesen ist. Und Grass bekennt: Ich schweige nicht
mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig
bin.
Sicher kann man zur dichterischen Qualität dieses
Poems unterschiedlicher Meinung sein, man kann sie ganz
in Frage stellen, man muss die Behauptung kritisieren,
dass es der israelischen Regierung um die „Auslöschung“
des Iranischen Volkes ginge, kurz das Gedicht gehört sicher
nicht zu den großen Werken von Grass. Es geht Günter
Grass auch nicht um eine Verharmlosung des iranischen
Regimes, des weltlichen und religiösen Regimes,
brutal und über Leichen gehend wie alle diktatorischen
Regime. Aber er weist sehr klar darauf hin, dass nicht der
Iran, sondern Israel über Atomwaffen verfügt, sehr viele
sogar, dass es nicht der Iran ist, sondern Israel, das dem
Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten ist und sich damit
einer internationalen Kontrolle entzieht, dass Deutschland
mit der Lieferung eines weiteren atomwaffenfähigen
U-Bootes gegebenenfalls der Beihilfe eines von Israel öffentlich
diskutierten Präventivkrieges gegen den Iran bzw.
seine Atomanlagen schuldig macht. Atomwaffenfähige UBoote
sollen auch die Zweitschlagsfähigkeit garantieren,
frei nach dem perversen Motto: Wer zuerst schießt, stirbt
als Zweiter.
Für uns Friedensbewegte ist das alles nichts Neues, wir
wussten das auch schon vor dem 4.4.2012. Aber ein Prominenter
wie Günter Grass, ein VIP, ein Literatur-Nobel-
Preisträger, bisher eher als Freund Israels bekannt, sagt
und schreibt so etwas nicht, auch wenn es die Wahrheit
ist, nichts als die Wahrheit. Es ist wahrhaftig an der Zeit,
wie Grass es formuliert, dafür zu sorgen, „dass eine unbehinderte
und permanente Kontrolle des israelischen atomaren
Potentials und der iranischen Atomanlagen durch
eine internationale Instanz von den Regierungen beider
Länder zugelassen wird“. Das ist kein Antisemitismus wie
es viele der hysterisch Empörten behaupten; dieser Vorwurf
kommt fast reflexartig – es ist ein Totschlagargument, wir
kennen es aus anderen Zusammenhängen, z.B. wenn es
um die notwendige Kritik an der israelischen Regierungsund
Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern geht.
Und was hat das alles mit dem Ostermarsch 2012 zu tun,
mit unseren zentralen Forderungen:
-
Bundeswehr raus aus Afghanistan!
- Kriegsvorbereitungen stoppen!
- Atomwaffen abschaffen, Atomkraftwerke abschalten!
Wir wollen nicht in den nächsten Krieg mit hineingezogen
werden, nachdem Angela Merkel 2008 in Jerusalem der israelischen
Regierung öffentlich bekundet hat: Die Sicherheit
Israels gehört zur deutschen „Staatsräson“, und „wenn
das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung
keine leeren Worte bleiben“. Mit anderen Worten: Soldaten
der Bundeswehr müssten mitkämpfen, wenn es denn
zu einem Krieg zwischen Israel und dem Iran käme. Wir
lehnen diese Kriegsbeteiligung ebenso ab wie die in Afghanistan,
wo unsere Freiheit eben gerade nicht verteidigt
wird. Wir protestieren gleichzeitig gegen jede Kriegsunterstützung,
jede Kriegsvorbereitung oder auch „nur“ Kriegsdrohung.
Die Drohkulisse nicht nur gegenüber dem Iran
und seinem Regime wird ständig erhöht, auch Syrien wird
immer stärker bedroht. So wie in den Kriegen gegen den
Irak oder in Libyen ist immer häufiger von „Regime
Change“ die Rede, Entmachtung der jeweiligen Regierung.
Die Rebellen werden immer stärker unterstützt,
ideologisch, finanziell und militärisch; Saudi Arabien und
Katar haben auf einer Konferenz der „Freunde Syriens“
am letzten Wochenende in Istanbul den bewaffneten oppositionellen
Gruppen in Syrien für dieses Quartal gerade
100 Millionen US $ zugesagt für Waffen und die Bezahlung
von Söldnern. Herr Westerwelle und Frau Clinton
waren Teilnehmer dieser Konferenz. Es ist nicht bekannt,
dass sie auf die Konferenzteilnehmer deeskalierend eingewirkt
haben, auch wenn sie behaupten, militärisch nicht
in den Bürgerkrieg eingreifen zu wollen.
Rüstungsexporte – wohin auch immer sie gehen, ob
die sechs U-Boote nach Israel, ob die 270 Kampfpanzer
Leopard II nach Saudi-Arabien oder Heckler und Koch-
Sturmgewehre in alle Welt – dienen der Kriegsvorbereitung,
der Kriegsführung, nicht der Verhinderung von
Kriegen. Ein Verbot aller Rüstungsexporte gehört ins
Grundgesetz. Die Richtlinien zum Rüstungsexport sind ja
nicht einmal einklagbar, faktisch sind sie ohnehin nicht in
Kraft.
Und in Bezug auf die mehr als 20.000 Atomwaffen, die
von den USA, Frankreich, Grossbritanien, Russland, Israel,
Indien, Pakistan, Nordkorea, absehbar sicher auch
Iran angehäuft zum Einsatz bereit liegen oder bereit ge-
macht werden können, kann nur die generelle Forderung
lauten:ABSCHAFFEN ! ALLE ! VERSCHROTTEN !
Fangen wir damit mit den in Deutschland verbliebenen
US-Atomwaffen an, warum ist unsere Regierung hier so
untätig?
Mit dem auch so entstehenden Atommüll wissen wir
ohnehin nicht: Wohin? Dass auch deswegen die Atomkraftwerke
abgeschaltet werden müssen, hat ja zumindest
unsere Regierung inzwischen begriffen, allerdings erst ausgelöst
durch die Katastrophe von Fukushima. Die Bundeskanzlerin
und studierte Physikerin hätte auch schon vorher
wissen können, dass es ein Restrisiko von Null nicht gibt.
Eine Anmerkung: 1983 war es Günter Grass, der in
Mutlangen das US-Raketenlager mit blockierte, hier sollten
die Pershings stationiert werden, Raketen mit atomaren
Sprengköpfen.
Aber es kommt bei der aufgeputschten veröffentlichten
Kampagne gegen das Grass-Gedicht und seinen Autor
noch ein wichtiges Moment hinzu: Es geht um den Nahen
und Mittleren Osten, in dem sich ca. 60% der weltweit bekannten
Erdöl- und Gasvorkommen befinden, auf die
nach wie vor und immer mehr alle scharf sind. In dieser
Region sind aber auch gleichzeitig etliche der Atommächte
präsent: Die USA mit ihren atomar bewaffneten Marine-
Einheiten, Russland, Indien, Pakistan, Israel. Statt weiter
Aufrüstung zu betreiben, müsste es ähnlich wie seinerzeit
in Europa die KSZE (Konferenz zur Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa) für diese spannungsgeladene
Region eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
im Nahen und Mittleren Osten geben mit dem ersten
Ziel, dort eine atomwaffenfreie Zone einzurichten. Wir fordern
von der Bundesregierung, dass sie sich diesen Vorschlag
zu eigen macht und ihn forciert vorantreibt. Das
wäre eine nachhaltige Friedenspolitik, die diesen Namen
verdiente. Die Regierung in Berlin hätte also viel zu tun,
wenn es ihr wirklich um den Frieden ginge.
Und Hamburg, die heimliche Rüstungshauptstadt der
Republik und einer der größten Umschlagsplätze für den
Rüstungsexport? Mit fast 100 Rüstungsfirmen, allen voran
EADS-Airbus und „Blohm und Voss“? Auch vor Ort gibt
es viel zu tun, wir werden nachher auf dem Carl-von-Ossietzky-
Platz während des Friedensfestes noch einiges dazu
hören.
Wir sind leider noch nicht am Ende in unserem Kampf für
- Frieden,
- Solidarität,
- soziale Gerechtigkeit,
- Demokratie und ökologische Vernunft,
in unserem Kampf
- gegen Rassismus, Neonazismus, Antisemitismus und
Islamfeindlichkeit.
Packen wir es an und lassen uns nicht entmutigen,
beginnen wir mit der Aufklärung: „Was gesagt
werden muss“.
Rede zum Auftakt des Hamburger Ostermarsches am 9. April 2012.
Sönke Wandschneider sprach für das Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e. V.
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