Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Soldaten der Bundeswehr müssten mitkämpfen, wenn es zu einem Krieg zwischen Israel und dem Iran käme"

Rede von Sönke Wandschneider beim Ostermarsch in Hamburg

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!

Am Mittwoch letzter Woche veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung im Feuilleton mit deutlichem Hinweis auf Seite eins ein Gedicht von Günter Grass mit dem Titel „Was gesagt werden muss“. Seitdem vergeht kein Tag in der veröffentlichten Meinung ohne Verachtung und Häme für den Schriftsteller, bis hin zu dem vernichtenden Urteil: Grass sei ein Antisemit. Ein Empörungswettbewerb scheint ausgebrochen bis hin zur Entscheidung der israelischen Regierung gestern, Günter Grass zur „persona non grata“ zu erklären, zur „unerwünschten Person“; in Israel ist er nicht nur unerwünscht, er würde an der Grenze zurückgewiesen, wenn er denn die Einreise begehrte. Nur wenige Promis scheren aus der Empörungs-Phalanx aus: Klaus Staeck (Plakatkünstler und Präsident der Berliner Akademie der Künste), der Schweizer Dichter Adolf Muschg, Jacob Augstein (Herausgeber des FREITAG), die israelische, seit 22 Jahren in Deutschland lebende Friedensaktivistin Felicia Langer und ihr Mann Mieciu.

Welch unerhörte Provokation hat sich der Dichter geleistet, welches Tabu hat er gebrochen? Wobei zum Wesen des Tabus gehört, dass es ein Stillschweigen über etwas gebietet, was zwar gewusst oder geahnt wird, aber unausgesprochen bleiben muss. Um welche Tabus geht es? Er hat behauptet: Die Atommacht Israel gefährde den ohnehin brüchigen Weltfrieden. Und: Ein weiteres deutsches U-Boot soll nach Israel geliefert werden, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist. Und Grass bekennt: Ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin.

Sicher kann man zur dichterischen Qualität dieses Poems unterschiedlicher Meinung sein, man kann sie ganz in Frage stellen, man muss die Behauptung kritisieren, dass es der israelischen Regierung um die „Auslöschung“ des Iranischen Volkes ginge, kurz das Gedicht gehört sicher nicht zu den großen Werken von Grass. Es geht Günter Grass auch nicht um eine Verharmlosung des iranischen Regimes, des weltlichen und religiösen Regimes, brutal und über Leichen gehend wie alle diktatorischen Regime. Aber er weist sehr klar darauf hin, dass nicht der Iran, sondern Israel über Atomwaffen verfügt, sehr viele sogar, dass es nicht der Iran ist, sondern Israel, das dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten ist und sich damit einer internationalen Kontrolle entzieht, dass Deutschland mit der Lieferung eines weiteren atomwaffenfähigen U-Bootes gegebenenfalls der Beihilfe eines von Israel öffentlich diskutierten Präventivkrieges gegen den Iran bzw. seine Atomanlagen schuldig macht. Atomwaffenfähige UBoote sollen auch die Zweitschlagsfähigkeit garantieren, frei nach dem perversen Motto: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.

Für uns Friedensbewegte ist das alles nichts Neues, wir wussten das auch schon vor dem 4.4.2012. Aber ein Prominenter wie Günter Grass, ein VIP, ein Literatur-Nobel- Preisträger, bisher eher als Freund Israels bekannt, sagt und schreibt so etwas nicht, auch wenn es die Wahrheit ist, nichts als die Wahrheit. Es ist wahrhaftig an der Zeit, wie Grass es formuliert, dafür zu sorgen, „dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird“. Das ist kein Antisemitismus wie es viele der hysterisch Empörten behaupten; dieser Vorwurf kommt fast reflexartig – es ist ein Totschlagargument, wir kennen es aus anderen Zusammenhängen, z.B. wenn es um die notwendige Kritik an der israelischen Regierungsund Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern geht.

Und was hat das alles mit dem Ostermarsch 2012 zu tun, mit unseren zentralen Forderungen:
  • Bundeswehr raus aus Afghanistan!
  • Kriegsvorbereitungen stoppen!
  • Atomwaffen abschaffen, Atomkraftwerke abschalten!
Wir wollen nicht in den nächsten Krieg mit hineingezogen werden, nachdem Angela Merkel 2008 in Jerusalem der israelischen Regierung öffentlich bekundet hat: Die Sicherheit Israels gehört zur deutschen „Staatsräson“, und „wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben“. Mit anderen Worten: Soldaten der Bundeswehr müssten mitkämpfen, wenn es denn zu einem Krieg zwischen Israel und dem Iran käme. Wir lehnen diese Kriegsbeteiligung ebenso ab wie die in Afghanistan, wo unsere Freiheit eben gerade nicht verteidigt wird. Wir protestieren gleichzeitig gegen jede Kriegsunterstützung, jede Kriegsvorbereitung oder auch „nur“ Kriegsdrohung.

Die Drohkulisse nicht nur gegenüber dem Iran und seinem Regime wird ständig erhöht, auch Syrien wird immer stärker bedroht. So wie in den Kriegen gegen den Irak oder in Libyen ist immer häufiger von „Regime Change“ die Rede, Entmachtung der jeweiligen Regierung.

Die Rebellen werden immer stärker unterstützt, ideologisch, finanziell und militärisch; Saudi Arabien und Katar haben auf einer Konferenz der „Freunde Syriens“ am letzten Wochenende in Istanbul den bewaffneten oppositionellen Gruppen in Syrien für dieses Quartal gerade 100 Millionen US $ zugesagt für Waffen und die Bezahlung von Söldnern. Herr Westerwelle und Frau Clinton waren Teilnehmer dieser Konferenz. Es ist nicht bekannt, dass sie auf die Konferenzteilnehmer deeskalierend eingewirkt haben, auch wenn sie behaupten, militärisch nicht in den Bürgerkrieg eingreifen zu wollen.

Rüstungsexporte – wohin auch immer sie gehen, ob die sechs U-Boote nach Israel, ob die 270 Kampfpanzer Leopard II nach Saudi-Arabien oder Heckler und Koch- Sturmgewehre in alle Welt – dienen der Kriegsvorbereitung, der Kriegsführung, nicht der Verhinderung von Kriegen. Ein Verbot aller Rüstungsexporte gehört ins Grundgesetz. Die Richtlinien zum Rüstungsexport sind ja nicht einmal einklagbar, faktisch sind sie ohnehin nicht in Kraft.

Und in Bezug auf die mehr als 20.000 Atomwaffen, die von den USA, Frankreich, Grossbritanien, Russland, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea, absehbar sicher auch Iran angehäuft zum Einsatz bereit liegen oder bereit ge- macht werden können, kann nur die generelle Forderung lauten:ABSCHAFFEN ! ALLE ! VERSCHROTTEN !

Fangen wir damit mit den in Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen an, warum ist unsere Regierung hier so untätig?

Mit dem auch so entstehenden Atommüll wissen wir ohnehin nicht: Wohin? Dass auch deswegen die Atomkraftwerke abgeschaltet werden müssen, hat ja zumindest unsere Regierung inzwischen begriffen, allerdings erst ausgelöst durch die Katastrophe von Fukushima. Die Bundeskanzlerin und studierte Physikerin hätte auch schon vorher wissen können, dass es ein Restrisiko von Null nicht gibt. Eine Anmerkung: 1983 war es Günter Grass, der in Mutlangen das US-Raketenlager mit blockierte, hier sollten die Pershings stationiert werden, Raketen mit atomaren Sprengköpfen.

Aber es kommt bei der aufgeputschten veröffentlichten Kampagne gegen das Grass-Gedicht und seinen Autor noch ein wichtiges Moment hinzu: Es geht um den Nahen und Mittleren Osten, in dem sich ca. 60% der weltweit bekannten Erdöl- und Gasvorkommen befinden, auf die nach wie vor und immer mehr alle scharf sind. In dieser Region sind aber auch gleichzeitig etliche der Atommächte präsent: Die USA mit ihren atomar bewaffneten Marine- Einheiten, Russland, Indien, Pakistan, Israel. Statt weiter Aufrüstung zu betreiben, müsste es ähnlich wie seinerzeit in Europa die KSZE (Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) für diese spannungsgeladene Region eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten geben mit dem ersten Ziel, dort eine atomwaffenfreie Zone einzurichten. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie sich diesen Vorschlag zu eigen macht und ihn forciert vorantreibt. Das wäre eine nachhaltige Friedenspolitik, die diesen Namen verdiente. Die Regierung in Berlin hätte also viel zu tun, wenn es ihr wirklich um den Frieden ginge.

Und Hamburg, die heimliche Rüstungshauptstadt der Republik und einer der größten Umschlagsplätze für den Rüstungsexport? Mit fast 100 Rüstungsfirmen, allen voran EADS-Airbus und „Blohm und Voss“? Auch vor Ort gibt es viel zu tun, wir werden nachher auf dem Carl-von-Ossietzky- Platz während des Friedensfestes noch einiges dazu hören.

Wir sind leider noch nicht am Ende in unserem Kampf für
  • Frieden,
  • Solidarität,
  • soziale Gerechtigkeit,
  • Demokratie und ökologische Vernunft, in unserem Kampf
  • gegen Rassismus, Neonazismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit.
Packen wir es an und lassen uns nicht entmutigen, beginnen wir mit der Aufklärung: „Was gesagt werden muss“.

Rede zum Auftakt des Hamburger Ostermarsches am 9. April 2012.
Sönke Wandschneider sprach für das Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e. V.



Zurück zur Seite "Ostermarsch 2012"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage