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Zensoren und Sanktionen des 21., des sogenannten neuen amerikanischen Jahrhunderts

Eine Nachbetrachtung zu den Ostermärschen von Sima Kassaie *

Von Sima Kassaie

Ein zeitgenössischer und couragierter Denker und Schriftsteller scheut sich nicht mittels eines Gedichtes dem breiten Spektrum gesellschaftlicher Akteure den Spiegel vorzuhalten - mit einer erstaunlichen Tragweite. Die dadurch hervorgerufene Implosion und Explosion geistiger und politischer Ergüsse sorgen für ein besseres Verständnis der unsichtbaren Grenzen unseres Kritikvermögens und nichtsdestoweniger für Besorgnis.

Allein der ausgelöste Denkanstoß und seine unermessliche Bedeutung sollte in einer Demokratie als ein unschätzbares Gut im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewürdigt werden. Erst durch solch eine nicht korrumpierbare Geisteshaltung eines Günter Grass und seinesgleichen findet die Demokratie ihre weltlichen und gesellschaftlichen Ankopplungsraster, Verankerungsmöglichkeiten und den Spielraum, sich mittels diverser Interaktionen und dialogischer Auseinandersetzungen zu entfalten und zu behaupten. Bei jedem Freiheitsliebenden und Demokraten sollte die Erschütterung und Ermahnung emporragen, wenn das Ausmaß der Verfälschung seiner Äußerungen und die Verfänglichkeit der artikulierten Willkür seiner Kontrahenten ins Auge gefasst und durch Vernunft - und nicht pures politisches Kalkül - zu beurteilen versucht wird.

Ein Mensch seiner Größe erhebt seine Stimme gegen den bevorstehenden Krieg und gegen die Einseitigkeit von undifferenziert etablierten Selbstverständlichkeiten und daraus abgeleiteten und verbreiteten Definitionen und Interpretationen in jenem Kontext. Er tut dies mit freiwilligem Eigenverantwortungswillen und im Gegensatz von manchem seiner Zeitgenossen, sowohl in seinem eigenen Wirkungskreis, als auch in den staatlichen bzw. den Nicht-Regierungs-Organisationen zugehörigen Verbänden, wie auch in den meinungsbildenden Denkfabriken. Er setzt sich über diese hinweg zur Öffnung neuer Perspektiven hinsichtlich der Aufarbeitung einer Thematik aus einer hochsensiblen Phase der menschlichen Geschichte in hoch bewegten Zeiten, um der Dynamik eines weltzerstörerischen Ganges einen Einhalt zum Nachdenken zu gebieten.

Der Holocaust war, ist und bleibt unbestritten das Symbol für das unermessliche Verbrechen an Menschlichkeit, Menschenrechten und Menschenwürde. Ein unumgehbares Sinnbild des systematischen und systemischen Mordens, Ächtens und der real fabrizierten Völkervernichtung. Ein ungeheuerlicher Akt systemischer Entmenschlichungsmaschinerie in der Geschichte der Menschheit. Aus diesen maßlosen Untaten zogen wir Lehren und Anhalte, die uns ein privilegiertes Leben in Frieden, zumindest in westlichen Ländern unserer Erde bisher ermöglichten. Aus jener Erfahrung lernten wir, dass ein Leben in Frieden doch möglich wäre. Als eine im Frieden heranwachsende Generation tragen wir nun die Verantwortung, den Krieg oder jegliche kriegerischen Akte in seiner vielfältigen Wesenserscheinung zu verneinen und zu verbannen.

Das ist kein Vermächtnis eines einzigen Volkes oder eines individuellen Werdegangs. Allerdings haben die Zeiten des Friedens für uns, bislang Elend und Krieg für andere Teile der Erdbevölkerung in Rechnung gestellt.

Richten wir unsere Wahrnehmung des Krieges und des Elends weiterhin bloß nach den Maßstäben der vergangenen Geschichtsperioden, werden wir fortan nicht in der Lage sein, die laufenden und künftigen Kriege in ihrem kolossalen Ausmaß an Menschen- und Umweltvernichtung realistisch und in deren Gewaltentfaltung erfassen, einchätzen und bewältigen zu können. Lassen wir das ungeheuerliche Beispiel der unvorstellbaren und jedoch real praktizierten Unmenschlichkeit und des unaufhaltbaren Mordens, wie jenes durch die Faschisten und deren Handlangern realisierte Verdammnis namens Holocaust weiterhin als einzigen Maßstab für die Messung von Vernichtung, Verachtung und des Zerfalls gelten, ignorieren und unterschätzen wir das Ausmaß der Destruktionskräfte des in vielfach geschehenen, aktuellen und künftigen Verbrechens. Die verdeckte Verschiebung unserer Wahrnehmung verliert die Sensibilität vor Verbrechensmethoden, Verbrechensakten, Verbrechensmechanismen und Verbrechensmodifikationen.

Und indem wir uns unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein selbst eindämmen oder unterbinden lassen, lenken und basteln wir an einem unvergleichbar massiveren Desaster beispielloser Gewalt und Zersetzung. Diese Art und Stellung unseres Verständnisses relativiert, verkennt, verharmlost und verniedlicht die Ausmaße der weltweit vorhandenen und kommenden Kriege. Somit unterschätzen wir die Bedrohungen, die durch die immer ausgedehntere und dichtere Militarisierung die Grundlagen unserer Existenz gefährden und ruinieren. Den Krieg als einzig wahre und berechtige Lösung im Namen des erwünschten Friedens, der Freiheit und Demokratie zu verherrlichen, zu verkaufen und durchzusetzen, führt uns in eine tödliche Falle der Selbstvernichtung. Mithin werden die für uns bisher schätzenswerten zivilisatorischen Errungenschaften auf die Stufe des Mittelalters zurückfallen.

Dieses Karussell muss jetzt und bedingungslos aufhören sich zu drehen! Jetzt und nicht später! Ohne weiteres und jegliches!

Laut Meinungsumfragen, trotz vermeintlich effektiv gebastelter Argumentationspaletten und Manipulationsfacetten, ist die Entscheidung des Großteils der Erdbevölkerung für ein Zusammenleben in Frieden gefallen. Nun wäre es die Pflicht ihrer Vertreter und Stellvertreter an den staatlichen und weltpolitischen Schalthebeln, sich auf die Seite der Mehrheitsbevölkerung zu stellen, deren Willen zu respektieren und die Entscheidung der symbolischen 99 Prozent anzuerkennen. Dies wäre ebenso und erst recht eine beachtliche Komponente des weltumfassenden Demokratisierungsprozesses. Die Welt ist unser aller gemeinsamer Lebensraum. Stoppen Sie jetzt und bedingungslos die Maschinerie des Todes, der Vernichtung und der Verwahrlosung. Jetzt und nicht später! Ihr Krieg ist mit Nichts zu rechtfertigen!

Ich hege die Hoffnung, die historische Botschaft von Herrn Grass richtig verstanden und wiedergegeben zu haben.

Di, 11.April 2012

* Von der jungen Autorin Sima Kassaie erschien zuletzt: Spuren der Zeit, oe-Offenbacher Editionen: Offenbach 2011 [eine Sammlung von Porträts und Texten persischer Schriftsteller.


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