"Das Kriegsgeschehen in Afghanistan nicht weiter verschleiern und verharmlosen!"
Rede von Peter Schönlein beim Nürnberger Ostermarsch *
`s ist Krieg! `s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
`s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
Matthias Claudius hat vor über 200 Jahren dieses Gedicht geschrieben und es ist auch heute wahr und gültig.
Es ist Krieg! Auch wenn unser Alltagsleben davon kaum berührt ist: Deutschland befindet sich im Krieg. Mehr als 10 Jahren dauert nun schon der Krieg in Afghanistan.
Und er nimmt noch immer kein Ende. Bundesregierung und eine breite Mehrheit des deutschen Bundestags haben erst im Januar eine Verlängerung des Kriegseinsatzes beschlossen. Noch bis 2014 soll er weitergeführt werden - mindestens, denn ein Abzug aus Afghanistan in 2014 ist ausdrücklich unter Vorbehalt gestellt.
Wir sagen ein klares und unmissverständliches Nein zum Krieg in Afghanistan und zur Fortsetzung des Krieges. „GENUG IST GENUG“. So fasste erst vor wenigen Tagen, wie die Washington Post berichtet, ein Sprecher des US- Militärs die Mehrheitsmeinung im amerikanischen Sicherheitsestablishment zusammen. „DER MILITÄREINSATZ IN AFGHANISTAN IST GESCHEITERT“. Dieses Urteil fällte vor kurzem der frühere Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat. „AFGHANISTAN IST EIN WEITERES BEISPIEL FÜR DAS SCHEITERN EINER MILITÄRISCHEN KONFLIKTLÖSUNG“. Dies sagte erst kürzlich der UN-Korrespondent Andreas Zumach bei den Mittelfränkischen Sicherheitsgesprächen vor Vertretern der Bundeswehr.
„DER VERSUCH, IN AFGHANISTAN DEMOKRATIE MIT MILITÄRISCHEN MITTELN ZU ETABLIEREN, IST GRÜNDLICH MISSLUNGEN“. Zu diesem Ergebnis kommen die NN in einem Kommentar vor wenigen Tagen. „DER KRIEG IST VERLOREN. ES IST AN DER ZEIT, DAS SCHEITERN DER MILITÄRMISSION EINZUGESTEHEN“. Diese Bilanz zog im vergangenen Monat die Wochenzeitung DIE ZEIT.
Wir fragen die in Berlin entscheidenden Politiker in Bundesregierung und Bundestag: Wie lange wollt ihr euch noch der Erkenntnis verweigern, dass die Kriegsstrategie gescheitert ist? Wie lange wollt ihr euch noch an die Hoffnung klammern, dass mit Krieg die Probleme in Afghanistan gelöst werden können? Wie lange sollen all die mahnenden und vor einer Fortsetzung des Militäreinsatzes warnenden Stimmen noch auf taube Ohren stoßen? Glaubt man etwa in Berlin, sich auf den im Dezember von der Bundesregierung vorgelegten „Fortschrittsbericht Afghanistan“ berufen zu können? Dieser Bericht kann gewiss einige Fortschritte vorweisen, Erfolge etwa bei der Sicherheitsvorsorge und beim Aufbau der Infrastruktur. Und es wäre daher verkehrt zu sagen: Alles ist schlecht in Afghanistan.
Auf den entscheidenden Feldern aber muss der Bericht einräumen:
„Die Zahl der zivilen Opfer hat 2011 zugenommen.“ (und zwar auf über 3000, allein im letzten Jahr!)
„Eine Korrektur der zum Teil sehr ambitionierten Erwartungen der Anfangsjahre ...war notwendig. Die Vorstellung einer Schweiz am Hindukusch wurde als Utopie erkannt.“
„Ein fehlendes staatliches Gewaltmonopol und willkürliche Entscheidungsprozesse beeinträchtigen weiterhin die effektive Ausübung der Staatsgewalt.“
„Ein großes Hindernis für gute Regierungsführung in Afghanistan bleibt die Korruption. Im Korruptionsindex von Transparency International liegt Afghanistan mit Rang 180 auf dem vorletzten Platz.“
„An der Korruption ist die illegale Drogenwirtschaft maßgeblich beteiligt. Weltweit bleibt Afghanistan mit einem Marktanteil von 90% der größte Opiumproduzent. Viele lokale und nationale Machthaber profitieren von der Drogenwirtschaft. Die Zahl der Drogensüchtigen nimmt weiter zu, und mit ihr die Ausbreitung von HIV und anderer Krankheiten.“
„Die Verwirklichung der Menschenrechte durch die afghanischen Institutionen und innerhalb der afghanischen Gesellschaft kann nur durch einen langfristigen Prozess der Aufklärung und Bildung verbessert werden“.
„Die Lage der Frauen in Afghanistan ist auch 10 Jahre nach dem Sturz der Taliban noch nicht zufriedenstellend. Dies liegt vor allem an einem überkommenen traditionellen Rollenverständnis, das in Afghanistan besonders auf dem Land noch weit verbreitet ist.“
Soweit der Fortschrittsbericht der Bundesregierung.
Und die zuletzt zitierte Feststellung über die Lage der Frauen in Afghanistan bestätigt der jetzt vorgelegte Bericht von Human Rights Watch über die aktuelle Situation der Menschenrechte in Afghanistan. Darin schildert die Menschenrechtsorganisation schockierende Zustände. Auch in letzter Zeit noch seien Hunderte von Frauen wegen angeblicher außerehelicher Beziehungen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Die geschilderten Umstände nach mehr als 10 Jahren Krieg stimmen uns tief traurig. Sie sind aber vor allem eines: ein eindeutiger und unwiderlegbarer Beleg dafür, dass Krieg nicht die Lösung des Problems ist. Und an einer Stelle wird dies sogar im Fortschrittsbericht der Bundesregierung selbst in verblüffender Offenheit zum Ausdruck gebracht: „Frieden und Sicherheit in Afghanistan erfordern eine politische Lösung. Sie kann nur durch Verhandlungen und einen Prozess der Versöhnung herbeigeführt werden. Diese Erkenntnis hat sich 2011 endlich durchgesetzt.“
Wann, so frage ich, wird im deutschen Bundestag aus dieser Erkenntnis Einsicht und aus Einsicht Beschlüsse zum definitiven Ausstieg aus dem Krieg ohne Vorbehalte und Hintertüren? Wir rufen die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag auf: Stoppt endlich die Kriegsmaschinerie! Fügt den schon viel zu vielen Jahren des Krieg Führens nicht noch weitere hinzu! Lasst euch ins Stammbuch schreiben: Der Einschlag von Bomben und Granaten erzeugt keine demokratische Gesinnung, erzieht nicht zur Achtung der Menschenrechte, wirbt nicht für die viel gerühmten Werte, auf die die westliche Welt so stolz ist.
Mit diesem Standpunkt sind wir keine Minderheit in der Bundesrepublik, wir vertreten die Mehrheitsmeinung des deutschen Volkes. Denn über alle Jahre hinweg – das haben die Umfragen Jahr für Jahr eindeutig gezeigt – haben sich 60 – 70% der Bundesbürger gegen den Krieg in Afghanistan ausgesprochen. Es ist ein für eine Demokratie bedenkliches Phänomen, dass die Entscheider in Berlin glauben, darauf keine Rücksicht nehmen zu müssen.
Diese breite Ablehnung des Kriegs durch die Bürger ist umso bemerkenswerter, als man sich lange Zeit große Mühe gegeben hat, das Kriegsgeschehen in Afghanistan zu verschleiern und zu verharmlosen. Von einem Mandat ist da die Rede, von einer Mission, von humanitären Einsätzen, von militärischen Sicherheitsmaßnahmen. Aber es erwies bisher sich als vergebliche Mühe, durch solche Sprachakrobatik mündigen Bürgern den Afghanistan-Krieg schmackhaft zu machen.
Und gerade weil das Kriegsgeschehen in Afghanistan oft verschleiert und verharmlost wird, ist es notwendig, die Wirklichkeit ins Auge zu fassen. Meist wird der Eindruck erweckt, als ob die ISAF-Truppen sich in ihren Stützpunkten verschanzt hätten und nur gelegentlich zu Patrouillen-Gängen ausrückten, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die hohen Verluste unter den alliierten – auch deutschen – Soldaten, die zahllosen Toten auf afghanischer Seite, darunter ungezählte Frauen und Kinder sprechen eine andere Sprache. Die Bombardierung der Tanklastzüge bei Kundus hat schlaglichtartig das tragische Kriegsgeschehen ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Doch auf amerikanischer Seite kommt noch eine andere Art der Kriegführung ins Spiel. Das sind zum einen die sog. nächtlichen Kommandoaktionen. Schwer bewaffnete Spezialeinheiten dringen bei Nacht überfallartig in afghanische Wohnhäuser ein, um dort vermutete Taliban-Kämpfer zu liquidieren und auszuschalten. Man nimmt es in Kauf, dass dabei Soldaten in die Schlafzimmer von Frauen eindringen und religiöse und kulturelle Tabuzonen einer islamischen Gesellschaft mit Füßen treten. Der afghanische Präsident hat gegen diesen Affront wiederholt protestiert und auf die verheerenden Folgen für das Verhältnis
von Afghanen und Besatzungstruppen hingewiesen. Und diese nächtlichen Kommandoaktionen sind nicht etwa Einzelfälle, sie werden seit langem systematisch durchgezogen, allein im letzten Jahr 2011 gab es 2500 Aktionen dieser Art.
Letzte Nacht kam jetzt übrigens die Nachricht im Fernsehen, dass man sich die bisherige Praxis doch nicht länger leisten will und zu einer Entschärfung des Vorgehens bereit ist.
Noch mehr hat der Einsatz von Drohnen den Charakter des Krieges verändert. Die SZ hat dies den „Tod per Fernbedienung“ genannt. Und das geht so: Geheimdienstagenten melden per Funk, dass sich Taliban-Kämpfer in ein bestimmtes Bergdorf zurückgezogen hätten. Irgendwo in der Ferne, in einem US-Militärstützpunkt, sitzt jemand am Computer und gibt die Koordinaten des Dorfes ein. Per Mausklick wird die mit Raketen bestückte Drohne gestartet, deren tödliche Fracht das angegebene Dorf dem Erdboten gleichmacht. Hellfire, also Höllenfeuer, nennen die Militärs die Raketen, die ins Ziel gebracht werden, ohne dass für eigenes Personal ein Risiko eingegangen werden muss. Ein Triumph technologischer Überlegenheit und militärischer Machtfülle – aber mit welchen Folgen?
Auch hier kann man nicht von Einzelfällen sprechen. Die Produktion solcher Drohnen ist in den letzten Jahren ständig gesteigert worden. Im letzten Jahr waren bereits über 800 solcher unbemannter Flugkörper im Einsatz. Wie viele Einsätze geflogen, wie viele Treffer erzielt, wie viele Menschen getötet, verletzt, verstümmelt oder traumatisiert wurden, ist unbekannt. Das Institut New America Foundation gibt als Ergebnis seiner Untersuchungen an, dass man unter den Opfern von wenigstens 20% Zivilisten, und das heißt: vor allem Frauen und Kinder, ausgehen muss. Das sind die von den Militärs als leider unvermeidliche Kollateralschäden bezeichneten Nebenwirkungen der Bombardements.
Schon ist zu beobachten, dass auch außerhalb von Afghanistan auf dem Gebiet anderer Staaten solche Drohnen zunehmend für gezielte Tötungen eingesetzt werden. Ist nicht zu befürchten, dass diese Möglichkeit, ohne Risiko für eigenes Personal Feinde auszuschalten, die Hemmschwelle herabsetzt, die Versuchung verstärkt, zu militärischer Gewalt zu greifen? Werden Kriege auf diese Weise nicht immer wahrscheinlicher?
Diese Entwicklung ist umso bedenklicher als in zunehmendem Maße der Geist des Interventionismus in Kreisen der Völkergemeinschaft grassiert. Schon spricht man davon, dass uns ein Zeitalter permanenter Einmischung bevorsteht und bisher unerschütterliche Grundsätze des Völkerrechts wie Souveränität und Integrität von Staaten, Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten durch neue Normen marginalisiert werden.
Bei jedem militärischen Einmarsch ist aber zu bedenken: Auf einen Sieg der Waffen folgt nicht automatisch auch ein Sieg der Werte, derentwegen man vorgibt einmarschiert zu sein. Immer häufiger würde es vermutlich nötig sein, für längere Zeit militärisch präsent zu sein, neokoloniale Zustände könnten die Folge sein.
Und bei der Vielzahl der Krisenherde auf unserem Planeten ist es kein Wunder, dass die NATO für solche Aufgaben gerüstet sein will und deshalb so aufgestellt werden soll, dass sie nicht nur einen, sondern mehrere Militär-Interventionen gleichzeitig bewältigen kann. Der Afghanistan-Krieg ist so als Auftakt und Modell für eine Welt zu verstehen, in der Konflikte nicht durch beharrliche und entschiedene politische Schlichtung, sondern durch Waffeneinsatz gelöst werden sollen. Vor den damit heraufziehenden Gefahren können wir nur warnen.
Gegen eine Unterstellung müssen wir uns allerdings wehren. Es gibt bei denen, die gegen Krieg und für Frieden eintreten keine OHNE UNS MENTALITÄT, es gibt keine Gleichgültigkeit gegenüber den Schicksalen anderer Menschen und anderer Völker. Es ist nicht wahr, dass wir uns für andere Länder allenfalls dann interessieren, wenn wir dorthin in Urlaub fahren wollen. Im Gegenteil:Wir sehen es als unsere Aufgabe, ja unsere Verpflichtung an, uns den Menschen zuzuwenden, die in Not sind und unserer Hilfe bedürfen. Wir wissen, dass Millionen Menschen Opfer von Erdbeben, Flutkatastrophen, Dürre und Wassermangel sind. Mit Krieg ist ihnen nicht zu helfen. Wir wissen, dass Millionen Kinder verhungern aus Mangel an Nahrungsmitteln. Mit Waffen ist ihnen nicht zu helfen. Wir wissen, dass hunderttausende junger Mädchen auf schändliche Weise an den Genitalien verstümmelt werden und dringend unserer Hilfe bedürfen. Militärische Gewalt kann ihnen nicht Schutz und Unversehrtheit bringen. In allen Fällen sind zivile Hilfsmaßnahmen erforderlich. Wenn wir auch nur einen Teil all der Milliarden, die wir für Rüstung und Kriegführung ausgeben, hier einsetzen, können wir sicher sein, in wirksamer Weise internationaler und humaner Solidarität und zugleich dem Frieden auf dieser Welt zu dienen.
Wir wissen auch, dass in vielen, viel zu vielen Staaten Menschen Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt sind. Ihnen müssen wir mit unserer Solidarität einen Rückhalt bieten, mit politischer Einflussnahme und mit zivilen Hilfsprogrammen zu helfen suchen, im Falle ihrer Flucht ihnen bei uns Zuflucht gewähren. Ein verhängnisvoller Irrweg wäre es darauf zu setzen, weltweit mit Mitteln des Krieges eine Ordnung nach unseren Vorstellungen zu schaffen. Es geht nicht mit Krieg, es geht nur mit Frieden.
Ich komme zum Schluss. In der deutschen Nationalhymne haben Einigkeit und Recht und Freiheit einen hohen Rang. Unser neuer Bundespräsident hat sich diese Werte auf sein Banner geschrieben. Und es ist auch schön, wenn sich dieser Dreiklang zu einem festen Fundament unseres Staates zusammenfügt, wenn die Menschen in unserem Lande sich an der Einheit erfreuen, die Segnungen des Rechtsstaats genießen und mit Lust in Freiheit leben. Aber wir wissen alle: Der politische Auftrag unserer Verfassung ist damit noch nicht vollendet. Hinzu kommen müssen soziale Gerechtigkeit, Teilhabe, Toleranz – und Frieden. Beruhige sich niemand damit, dass der Krieg in fernem Lande geführt wird. Ganz schnell kann Krieg auch auf unser Land selbst zurückschlagen und nicht nur ökonomisch und ökologisch verheerende Wirkungen hervorrufen. Und gerade weil die Bemühungen hier und anderswo unverkennbar sind, Krieg wieder als Mittel der Politik zu legitimieren und gesellschaftlich salonfähig zu machen, müssen wir dagegen unsere Stimme erheben.
Daher sage ich auf dieser Kundgebung auf diesem Platz vor der Lorenzkirche, hier in Nürnberg – der Stadt des Friedens und der Menschenrechte:
Einigkeit und Recht und Frieden
sind des Glückes Unterpfand,
danach lasst und alle streben,
geschwisterlich mit Herz und Hand.
* Rede beim Nürnberger Ostermarsch am 9. April 2012, Abschlusskundgebung vor der Lorenzkirche.
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