Der neue Antikapitalismus
Ein Streifzug durch die Protestkulturen von New York bis London
Von Florian Schmid *
So viel wie im Moment wurde schon
jahrzehntelang nicht mehr demonstriert.
New York, Rom, Santiago
de Chile, Tel Aviv, Athen,
Madrid, London: Weltweit wird
zum Sturm gegen den krisenhaften
Kapitalismus geblasen. Mancher
fühlt sich deshalb an 1968 erinnert,
als es das letzte Mal eine zeitgleich
stattfindende globale Protestbewegung
gab.
Die aktuelle Protestwelle hat
bereits im Frühjahr begonnen, als
400 000 Menschen in London gegen
Sparmaßnahmen demonstrierten.
Auch Griechenland stellte
in diesem Jahr Mobilisierungsrekorde
auf. Mehrere tausend Aktivisten
erregten mit ihren Camps in
spanischen Städten, in Tel
Aviv und Athen international
die Aufmerksamkeit.
In Chile kam es zu tagelangen
Straßenschlachten
im Zuge von
Bildungsprotesten und
unweit des europäischen
Finanzzentrums in London
erlebte Europa diesen Sommer
die schwersten Ausschreitungen
seit langem.
Die Akteure, ihre Inhalte und
ihre Protestformen sind jedoch so
unterschiedlich, dass es kaum den
Anschein hat, als könnte daraus eine
politisch kohärente Bewegung
entstehen wie das 1968 der Fall
war. Die damaligen Proteste waren
stark von einem studentischen Milieu
geprägt, das sich als explizit
linke, außerparlamentarische Opposition
organisierte. Die Occupy-
Bewegung umfasst dagegen ein
weites politisches und soziales Panorama
unterschiedlicher Altersgruppen
vom bürgerlich reformorientierten
Lager bis hin zu linksradikalen
Gruppen. Geht es manchen
um die Rettung des Mittelstandes,
stellen andere das kapitalistische
System an sich in Frage.
Formal zeichnen sich »Echte
Demokratie jetzt« in Spanien und
»Occupy Wall Street« in den USA
durch ihren friedlichen Charakter
aus, der von Organisatoren stets
betont wird, um für möglichst viele
politisch Interessierte offen zu sein.
Wenngleich gerade einmal einige
hundert Menschen in Schlafsäcken
und Zelten im Zentrum der herbstlichen
Millionenmetropole New
York ausharren, so hat die USamerikanische
Protestszene dennoch
regen Zulauf. Sie ist mittlerweile
auf viele andere Städte im
Land übergesprungen. Ob aber die
Mobilisierungsbreite und -dauer
wie in Spanien erreicht wird, muss
sich erst noch zeigen.
Der Protest in der globalen Finanz-
und Kultur-Metropole New
York hat aber auf jeden Fall etwas
Besonderes. Hollywoodstars
schauen mal vorbei und versichern
ihre Solidarität; Kommunismus-
Guru Slavoj Zizek legt einen Auftritt
hin, der über Youtube und
Facebook weltweite Verbreitung
findet. Die republikanische Rechte
hetzt gegen die Wall-Street-Besetzer,
viele Politiker stehen dem medienwirksamen
Protest im Big
Apple aber auch aufgeschlossen
gegenüber. Die plakative Forderung,
die Macht der Banken einzuschränken,
ist in den krisengeschüttelten
Industriestaaten mehrheitsfähig.
Das Tableau der Krisenproteste
ist aber weitaus vielschichtiger und
komplizierter – hinsichtlich Entstehung,
inhaltlicher Ausrichtung
und Erscheinungsbild. Die gemäßigten,
friedlichen Proteste sind nur
eine Seite der Medaille.
Als es 2005 in den französischen
Banlieues nach dem Tod eines
Jugendlichen zu schweren
Krawallen kommt, kann sich erst
niemand die eruptive soziale Gewalt
erklären. Aber bald berichten
Medien ausführlich über die soziale
Schieflage und die mangelnde
politische Teilhabe in den französischen
Vorstädten. Als 2008 ein
Jugendlicher in Athen von einem
Polizisten ermordet wird, kommt es
zu einem dreiwöchigen Aufstand.
Auch hier wird schnell auf die sozialen
Missstände, vor allem für
junge Menschen hingewiesen. Von
der »Generation 700« ist die Rede,
die egal welchen Abschluss sie hat,
nicht mehr als 700 Euro monatlich
als Lohn bekommt. Als es drei Jahre
später wieder – diesmal in London
– einen Toten nach einer Polizeikontrolle
gibt, brennen ganze
Stadtviertel. Auch wenn hier die
politischen Forderungen fehlen, die
ungebremste Wut gegen ein System
sozialer Ungleichheit – die mit
der Krise zunimmt und immer mehr
Menschen betrifft – lässt sich nicht
mehr durch den in Abwicklung befindlichen
Wohlfahrtsstaat einhegen.
In Europa bricht diese Wut
mittlerweile zyklisch unkontrolliert
aus.
Eine verbindliche Kategorisierung
der Krisenproteste ist damit
fast unmöglich. Für viele besitzt
Stéphane Hessels Text »Empört
euch!« programmatischen Charakter,
um demokratische Teilhabe
einzufordern. Andere sehen in
dem anarchokommunistischen
Manifest »Der kommende Aufstand
« ein Drehbuch für die dezentralen,
sozialen Konflikte, von
den schweren Zusammenstößen in
Rom vergangenes Wochenende bis
zu den aufstandsartigen Ereignissen
in Chile, London und Athen.
Während sich der friedliche
Protest an den Camps auf dem Kairoer
Tahirplatz orientiert und diese
in ein kompatibles Format für die
westlichen Großstädte überführt,
ähneln die militanten Auseinandersetzungen
eher den Ereignissen
in Tunesien im letzten Winter.
Aber so unterschiedlich die Proteste
auch sind, haben sie als formale
Gemeinsamkeiten ihre Organisierung
mithilfe sozialer Netzwerke.
Das gilt ebenso für die Aufrufe
zu Demonstrationen wie für die
kleinteiligen praktischen Informationen,
an welcher Straßenecke gerade
was für eine Aktion stattfindet:
sei es die Spontandemo in New
York, die Besetzung vor dem Berliner
Reichstag oder die Plünderung
eines Kaufhauses in London.
Die digitale Vernetzung der Akteure
ist aber nicht der einzige gemeinsame
Nenner. Alle Proteste
vom friedlichen Camp bis zur Zerstörungsorgie
im eigenen Ghetto
zielen auf eine temporäre Inbesitznahme
des öffentlichen Raums
ab. Es geht weniger um dauerhafte
Besetzungen wie bei der autonomen
Stadtbewegung Anfang der
80er Jahre, als gegenkulturelle Nischen
erkämpft wurden. Vielmehr
erinnern die aktuellen Besetzungen
und Vollversammlungen an das
»Reclaim-the-streets« der 90er
Jahre, als durch nicht angemeldete
Demonstrationen und partyartige
Platzbesetzungen gegen die fortwährende
Privatisierung des öffentlichen
Raums protestiert wurde.
Bei der versuchten Besetzung
vor dem Reichstag mögen auch die
Blockadeaktionen in Gorleben und
Dresden für den einen oder anderen
eine gute Schule gewesen sein.
Damit werden eigene, hierzulande
bereits anderweitig erprobte Protestformen
genutzt und gleichzeitig
in die neue weltweit vernetzte Bewegung
eingespeist.
Die Übertragung bereits bestehender
Formate konnte man auch
anderswo beobachten. Die Bürgerversammlungen
in Kairo passten
kongenial in die von einem regen
Sozialleben geprägten Innenstädte
Spaniens, wo zufällig vorbeikommende
Passanten die allabendlichen
»Asambleas« miterleben
konnten. In Italien sind es die
seit einigen Jahren immer wieder
stattfindenden Massendemonstrationen,
die jetzt mächtig als Teil
der Krisenprotestbewegung wahrgenommen
werden. Auch wenn die
Medien gerne den naiven Charakter
der Bewegung herausstellen,
wird sie in ihrer neuen Breite mehr
und mehr von Altpolitisierten unterfüttert.
Die Frage ist, wie wirkungsvoll
die derzeitigen symbolischen Besetzungen
überhaupt sein können.
Ins Stadtzentrum zu ziehen, ist für
einen Protestdiskurs, der medial
ernst genommen werden will, effizient.
Das Camp als Protestmittel
wird zur wirkungsvollen Marke der
neuen Bewegung. Die in den öffentlichen
Raum getragenen Wutausbrüche
wie in London oder Rom
tragen allerdings ebenfalls dazu
bei, dass das Bewusstsein um die
Tragweite der Krise bis ins bürgerliche
Lager hinein wächst. Auffällig
ist, dass sich das
hiesige konservative
Feuilleton nach den
Londoner Riots angesichts
des Schreckgespenstes
der sozialen
Implosion mit sorgenvollen
Kommentaren
gegenseitig überbot.
Frank Schirrmacher
fragte in der »Frankfurter Allgemeinen
Zeitung«, ob die Linken
nicht doch Recht hätten und Tissy
Bruns gab im Berliner »Tagesspiegel
« zu bedenken, dass durch
den Kapitalismus Ideale und Stärken
der Demokratie untergraben
werden könnten. Vielleicht ist es
auch die Angst vor Krawallen, die
Politiker und Medien jetzt so positiv
auf die friedliche Occupy-Bewegung
reagieren lassen.
* Aus: neues deutschland, 22. Oktober 2011
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