Von Krieg zu Krieg
Kann Europa die USA noch aufhalten?
Von Peter Strutynski
Man braucht nicht allzu viel Phantasie, um sich die Risiken auszumalen, die in der Fortsetzung des US-"Krieges gegen den Terror" liegen. Der Afghanistan-Feldzug - der nach über fünf Monaten noch nicht zu Ende ist - dürfte ein Kinderspiel gewesen sein gegen das, was den US-Streitkräften und ihren Verbündeten im Irak bevorsteht. Anders als in Afghanistan stehen den USA diesmal keine "eingeborenen" Bodentruppen zur Verfügung, welche die Drecksarbeit für sie erledigen. Die verfeindeten kurdischen Parteien in Nordirak stehen dafür wohl nicht zur Verfügung, und wenn doch, dann verfügen sie längst nicht über die militärischen Kapazitäten und Kriegserfahrungen, die den Verbänden der "Nordallianz" in Afghanistan eigen waren. Ein Krieg gegen den Irak, in Washington offenbar schon beschlossene Sache und von Tony Blair unterstützt, würde den US-Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" auf eine gefährliche neue Stufe heben. Und zwar aus vier Gründen:
Erstens: Der Kriegsschauplatz selbst würde ein völlig neues Gesicht erhalten. Sowohl beim Golfkrieg 1991 als auch beim anglo-amerikanischen Vier-Tage-Krieg 1998 zogen es die USA und ihre Alliierten vor, dem Gegner möglichst große Verluste beizubringen, ohne sich selbst übermäßig zu gefährden. Diese Taktik wurde auch beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien beibehalten. Dem entsprach der Bombenkrieg aus gesicherter Höhe. Auch im Afghanistan-Krieg wurde diese Marschroute lange Zeit eingehalten - die Bodentruppen der USA kamen erst zu einem relativ späten Zeitpunkt zum Einsatz und führten prompt zu eigenen Verlusten an Menschen und Material. Da im Falle eines Angriffs auf den Irak das Kriegsziel darin bestehen würde, das Regime in Bagdad zu beseitigen - was die beiden Kriege und das elfjährige tödliche Embargo nicht bewerkstelligen konnten - kämen die USA an einer luftgestützten Bodenoffensive nicht vorbei.
Zweitens: Schon die Begleiterscheinungen des Afghanistan-Krieges haben eine Reihe von Staaten in der zentral- und südasiatischen Region hellhörig gemacht. Die Furcht vor einer US-Dominanz in der nach dem Nahen Osten zweitreichsten Ölregion der Welt hat in nur wenigen Monaten dazu geführt, dass die nach dem 11. September 2001 so eindrucksvoll zusammen geschmiedete "Allianz gegen den Terror" faktisch wieder zerbrach. So sind die Spannungen zwischen den "Verbündeten" Indien und Pakistan sehr schnell wieder aufgebrochen und haben sich im Dezember zu einer gegenseitigen Kriegsbedrohung gesteigert. Russland und China sind nach den anfänglichen Solidaritätsbekundungen mit den USA (der Kampf gegen den Terror verlieh ja auch eine Legitimation mit den eigenen "Terroristen", hier die Tschetschenen, dort die Uiguren, aufzuräumen) wieder auf Distanz gegangen, nachdem klar war, dass die USA neben Afghanistan auch die benachbarten zentralasiatischen Republiken zu Stützpunkten für ihre geopolitischen Ambitionen machen wollten. Auch im Nahen Osten steht das reaktionärste Regime der Region, Saudi-Arabien, längst nicht mehr hinter den USA - aus berechtigter Angst vor der mächtigen, mit den Taliban sympathisierenden Opposition, die ohnehin schon zahlreiche Anhänger im Herrscherhaus und im Staatsapparat hat. Es ist sehr unsicher, ob sich bei einem US-Angriff auf Irak die herrschenden Kreise Saudi-Arabiens für die Solidarität der arabischen Staaten oder für die Rivalität mit dem Konkurrenten Irak entscheiden wird.
Drittens: Möglicherweise hat der saudi-arabische Kronprinz Abdullah mit seiner jüngsten Nahost-Initiative schon das Feld für einen möglichen US-Krieg gegen den Irak bestellt. Dazu bedarf es nämlich der Ruhe an der israelisch-palästinensischen Front. Abdullah schlug Ende Februar vor, dass sich Israel auf die Positionen vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zurückziehen solle. Israel könne auch die Souveränität über die Klagemauer und das jüdische Viertel in der Altstadt von Jerusalem erhalten. Im Gegenzug würden die arabischen Staaten Israel anerkennen und dem Staat Sicherheitsgarantien geben. Ein diplomatischer Erfolg in der Nahostfrage würde Abdullahs Position im Inneren und gegenüber den anderen arabischen Staaten außerordentlich stärken. Er könnte dann ohne Gefährdung seiner eigenen Position den USA den Rücken frei halten bei ihrem Krieg gegen den Irak. Wenn indessen diese Rechnung nicht aufgeht, könnte der ganze Nahe Osten explodieren.
Viertens: Kritik an der US-Kriegsplanung kommt indessen nicht nur aus Russland, dem Fernen und dem Nahen Osten, sondern auch aus Europa. Hier werden die militärischen Risiken eines Krieges gegen den Irak offenbar wesentlich höher eingeschätzt als in Washington. Auch ist die europäische Abhängigkeit vom Öl aus der Region sehr viel stärker. Ein Krieg, der sich zu einem Flächenbrand ausweiten könnte, würde die Energieversorgung Europas ernsthaft gefährden. Zu erwarten wären in jedem Fall kräftige Preiserhöhungen beim Rohöl - Gift für die ohnehin angegriffene Konjunktur! US-Präsident Bush wird natürlich bestrebt sein, seinen Krieg auch in Europa akzeptierbar zu machen. Dazu werden die Geschichten von der irakischen Überrüstung und seinem Basteln an Massenvernichtungswaffen einschließlich der Atombombe aus der Schublade geholt. Durchaus möglich, dass die US-Geheimdienste zur rechten Zeit "Erkenntnisse" präsentieren, die auf eine Spur von Ossama bin Laden zum "Staatsschurken" Saddam Hussein hinweisen. Diese "Erkenntnisse" mögen noch so windig sein: Hat sich nicht vor einem halben Jahr die NATO auf sehr vage mündliche "Beweise" des US-Gesandten für die Täterschaft von Al-Qaida eingelassen und darauf ihren Bündnisfall-Beschluss gegründet? Es ist also längst nicht ausgemacht, dass die Védrines (der noch am ehesten), Fischers und Solanas ihren Widerspruch gegen einen Irak-Feldzug aufrechterhalten, wenn es ernst wird.
Und es wird ernst. Charles Krauthammer, konservativer Kolumnist der "Washington Post" mit großem politischen Einfluss auf das Weiße Haus, war schon Anfang Februar der Meinung, dass der interne Meinungsstreit in der US-Administration zwischen den reaktionärsten Hardlinern um Bush, Cheney und Rumsfeld und den bündnisorientierten Pragmatikern um Außenminister Powell zugunsten ersterer entschieden sei. Präsident Bush habe den "Krieg gegen den Terrorismus" in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar neu definiert und ihm eine klarere Zeitachse gegeben: "Wir werden uns beraten", sagte Bush vor dem Kongress, "aber die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Ich werde nicht auf Ereignisse warten, während die Gefahren zunehmen. Ich werde nicht untätig zusehen, während die Gefahr näher und näher kommt. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden es den gefährlichsten Regimes der Welt nicht erlauben, sie mit den zerstörerischsten Waffen der Welt zu bedrohen." Krauthammer meint nun, Bush werde seine Popularität für einen weitaus größeren und riskanteren Krieg nutzen. Wohin gehen die USA "nach Phase eins, Afghanistan", fragt Krauthammer. Seine Antwort: Phase zwei beginnt jetzt mit der Terroristenjagd von den Philippinen über Bosnien bis nach Somalia. Und Phase drei, der Sturz Saddam Husseins, werde in aller Ruhe vorbereitet, während Phase zwei noch wochenlang Schlagzeilen macht. Einen groß angelegten Feldzug gegen Irak sagt Krauthammer innerhalb von 12 Monaten voraus.
Der Afghanistan-Krieg hat die Menschen in Europa noch weitgehend kalt gelassen. Nicht dass die große Masse diesen Krieg befürwortet hätte. Zumindest für die Bundesrepublik Deutschland lässt sich feststellen, dass sich die Kriegsbegeisterung in engen Grenzen hielt und eher in ehemals grün-pazifistischen Kreisen angesiedelt war. Mussten sie doch dem Krieg jene höhere Sinnstiftung geben, an der es ihm ansonsten ermangelte. Und auch im Nachhinein sind es vor allem die Grünen, welche die Erfolge der Militäraktion in den schönsten Farben malen: Der Fall der Burka und die Wiederzulassung der Mädchen zum Schulunterricht werden als die wichtigsten Ergebnisse verkauft. Dass die "Befreiung der Frau" aber keineswegs das Kriegsziel - nicht einmal ein Nebenziel - war, darüber wird geflissentlich hinweg gesehen. Dieser mehr oder weniger zufällige Kollateralnutzen wird zum eigentlichen zivilisatorischen Inhalt des Krieges deklariert. Seinetwegen mussten neben der Terrororganisation Al-Qaida die Taliban vertrieben werden. Den Einwand von Landes- und Geschichtskundigen, dass die Ganzkörperverhüllung nicht erst mit den Taliban eingeführt wurde und dass die Mädchen und Frauen schon unter dem Regime der Mujaheddin aus den Bildungseinrichtungen und dem öffentlichen Raum verjagt worden waren, kann ein Kriegsbefürworter nicht gelten lassen, weil sonst sein letzter Legitimierungs-Strohhalm zerbräche.
Der geringen Kriegsbegeisterung stand leider aber auch nur ein - relativ - schwacher Anti-Kriegs-Protest entgegen. Dabei konnten sich die Aktivitäten der Friedensbewegung durchaus sehen lassen. Sowohl dezentral als auch bei zentralen Kundgebungen (in Berlin und Stuttgart am 13. Oktober) konnte ein erhebliches Potential alter und junger Kriegsgegner mobilisiert werden. Was allerdings fehlte, war die breite Verankerung dieses Protestes in gesellschaftlichen "Großorganisationen" wie Kirchen oder Gewerkschaften (von den großen Parteien konnte man das auf die Schnelle ohnehin nicht erwarten). Auch die großen Bildungseinrichtungen der Gesellschaft, Schulen und Universitäten, in früheren Zeiten häufig Ausgangs- und Kristallisationspunkt politischen Protestes, haben in der Masse eine eher verhalten-uninteressierte Rolle gespielt. Es scheint so, als müssten wir uns auf eine noch längere Phase einstellen, in der zentrale politische Themen - und was könnte zentraler sein als die Frage von Krieg oder Frieden? - an zumal jungen Menschen haarscharf vorbei gehen. "Mag doch Scharping mit seinen Kommando Spezialkräften am Hindukusch seinen Krieg spielen, mit uns hat das doch herzlich wenig zu tun." Wer so denkt - und ich bin sicher, so denken viele - wirkt mit an dem beharrlichen Streben der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Vorgängerin nach einer Enttabuisierung des Militärischen. Waren früher Militär und Krieg eher der gesellschaftliche Sonderfall und die Ausnahme, so gehören sie heute zum alltäglichen Erscheinungsbild. Daran kann man sich entweder gewöhnen, oder man ignoriert es, weil es einem anderen Milieu und einem anderen Erfahrungshintergrund angehört. Der Krieg sucht uns heute nicht heim, und die Kollateralschäden, die er anderswo verursacht, werden achselzuckend zur Kenntnis genommen.
Wenn dieser Befund auch nur annähernd stimmt, dann sind wir umso mehr darauf verwiesen, die drohende Fortsetzung des US-Krieges und die mögliche militärische Unterstützung der Bundesrepublik rechtzeitig aufzudecken und ihre ganze Tragweite darzustellen. Der Krieg rückt nicht nur geografisch näher an uns heran (das allein ist es nicht, wie der NATO-Krieg gegen Jugoslawien gezeigt hat), er stellt eine unmittelbarere Bedrohung für den Weltfrieden und damit auch für uns dar. Wenn das Pulverfass Naher Osten explodiert, regnen die Funken und die Asche auch auf Europa herunter. Wer dieser Gefahr entgegentreten will, muss als erstes dafür sorgen, dass die im Zuge der "uneingeschränkten Solidarität" dem US-"Krieg gegen den Terror" zur Verfügung gestellten 3.900 Bundeswehrsoldaten aus Somalia, dem Golf von Aden, aus Kuwait und aus Afghanistan zurückbeordert werden. Und zum zweiten muss der europäische Chor jener Stimmen verstärkt und unüberhörbar gemacht werden, der die USA vor einem Krieg gegen Irak warnt. Dies ist auch noch keine Garantie für ein Einlenken der einzigen Weltmacht, aber es ist wenigstens eine Chance. - Der kritische Geist der Friedens- und Konfliktforschung und der Protest der Friedensbewegung werden dringend gebraucht.
Dieser Beitrag erscheint demnächst in der ersten Ausgabe des "FriedensJournals", einer neuen Zeitschrift, die aus der Fusion der Vorgängerzeitungen "Pax Report" und "Friedenspolitische Korrespondenz" hervorgegangen ist. Als Herausgeber fungieren der Deutsche Friedensrat e.V. und der Bundesausschuss Friedensratschlag. Die erste Nummer soll vor Ostern ausgeliefert sein.
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