Weder Organisation noch Bürgerinitiative:
Die Zukunft der Friedensbewegung liegt in ihrer Vielfalt und Politikfähigkeit
Von Peter Strutynski*
Vortrag auf dem Friedenspolitischen Kongress am 1. September 2002 in Hannover
Sozialwissenschaftliche Analysen tun sich regelmäßig schwer, wenn sie die Friedensbewegung zu einem Objekt ihrer analytischen Begierde machen. Offenbar aus einem Mangel an geeigneteren, das heißt dem Gegenstand angepassten theoretischen Zugängen wird sie häufig den "sozialen Bewegungen" zugeschlagen, die in den 70er und 80er Jahren die APO (außerparlamentarische Opposition) abgelöst und dem politischen Erscheinungsbild spätkapitalistischer Gesellschaften ihren eigenen Stempel aufgedrückt hätten. Seit dieser Zeit werden diese gern als "neue" soziale Bewegungen bezeichnet, um sie von den etablierten alten sozialen Organisationen (z.B. den Gewerkschaften) abzugrenzen. In Bezug auf die Friedensbewegung schrieb beispielsweise Jürgen Krysmanski in seinem Buch "Soziologie und Frieden": "Soziale Bewegungen sind der wichtigste Aspekt eines seit geraumer Zeit um sich greifenden außerparlamentarischen Demokratisierungsprozesses, der neben und z.T. quer durch die existierende Parteienstruktur neuartige, `alle´ Bürger (jenseits spezifischer Interessenlagen) gleichermaßen betreffende Probleme thematisiert und Lösungen exploriert." Damit unterscheidet sich die Friedensbewegung aber nicht nur von der "Bewegungsform" Gewerkschaft, deren Ausgangspunkt und Rahmen die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital ist, sondern auch von ebenfalls den neuen sozialen Bewegungen zugerechneten "Bürgerinitiativen", die auf aktuelle umwelt-, verkehrs-, kultur- oder sozialpolitische Probleme im lokalen/regionalen Umfeld reagieren und meist vorübergehender Natur sind.
Ich möchte im Folgenden versuchen, strukturelle Eigenheiten der Friedensbewegung herauszuarbeiten, wobei ich zum Vergleich die Verhältnisse in den Gewerkschaften als einer von der Friedensbewegung umworbenen gesellschaftlichen Großorganisation heranziehe. Im zweiten Teil möchte ich dann in Thesenform auf die Leistungen und Chancen der Friedensbewegung zu sprechen kommen. Ich betone ausdrücklich, dass ich beides nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern auch aus der Binnenperspektive der Friedensbewegung mache.
I Friedensbewegung und Gewerkschaften im Vergleich
Aus meiner Sicht existieren zahlreiche strukturelle Unterschiede zwischen Gewerkschaften und Friedensbewegung, die sich teils aus ihrem Entstehungs- und Entwicklungsprozess, teils aus ihrer unterschiedlichen sozialen Basis und teils aus ihrer politischen Aufgabenstellung ergeben. Für besonders wichtig halte ich die folgenden sieben Unterschiede:
(1) Die Unterschiede zwischen Gewerkschaften und Friedensbewegung beginnen schon bei ihrer Entstehungsursache, ihrem politischen Ausgangspunkt bzw. ihrem Gegenstand. Die Gewerkschaften verdanken ihre Existenz den Konflikten zwischen Kapital und Arbeit. Damit ist auch ihre hauptsächliche politische Arena, ihr "Kampfplatz" im eigentlichen Sinn des Wortes benannt: der Betrieb. Demgegenüber resultiert das Handeln der Friedensbewegung aus einem umfassenderen Verständnis von Politik. Ihr Ausgangspunkt ist ursprünglich ein moralisch-politischer, ihr Gegenstand relativ abstrakt.
(2) Entsprechend allgemein bzw. visionär sind auch die Ziele der Friedensbewegung. Es geht ihr - kurz gesagt - um die Herstellung einer Welt ohne Krieg und ohne Waffen. Damit soll jegliches kriegsbedingtes Leid von der Menschheit abgewendet und auf lange Sicht der Einsatz von Gewaltmitteln - nicht nur militärischer - minimiert werden. In der Regel bedarf es hierzu einer weitreichenden gesellschaftspolitischen und universalistischen Perspektive, die einen entsprechend "langen Atem" voraussetzt. Demgegenüber richtet sich gewerkschaftliches Handeln auf die Hebung der Lage der Arbeiterklasse, wie das früher immer so schön hieß, auf das Erreichen eines gewissen materiellen Wohlstands, die Herstellung gleicher Bildungschancen, eine Teilhabe am kulturellen Leben, kurz: auf die Sicherung der menschlichen Existenz.
(3) So können auch die Themen, mit denen sich die Gewerkschaften und die Friedensbewegung jeweils vordringlich beschäftigen, unterschiedlicher kaum sein. Zum Tagesgeschäft der Gewerkschaften gehören die Auseinandersetzungen um Höhe und Art der Entlohnung (um den Preis der Ware Arbeitskraft), um die Gestaltung der Arbeitsbedingungen (Fragen der Ergonomie, der Umgebungseinflüsse am Arbeitsplatz, der Dauer und Lage der Arbeitszeit usw.), betriebliche und überbetriebliche arbeitsrechtliche Fragen, Probleme der Sozialgesetzgebung (Renten, Krankenversicherung usw.) sowie eine Reihe von gesellschaftspolitischen Fragen, die unmittelbar auf die Lage der Lohnabhängigen zurückwirken (z.B. Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik, Infrastrukturpolitik, Regional- und Strukturpolitik). Die Friedensbewegung beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Themen aus der "großen Politik". Hierzu gehören außenpolitische Fragen im engeren Sinn, Fragen der Sicherheits- und "Verteidigungs"politik, der Rüstungs- bzw. Abrüstungspolitik oder der "Weltpolitik" insgesamt. Den Ursachen von Kriegen in der Welt auf den Grund zu gehen, gehört ebenso zu den Anliegen der Friedensbewegung, wie nach den ökonomischen, sozialen und psychischen Gründen für alltägliche Gewalt zu fragen.
(4) Sehr unterschiedlich sind auch die organisatorischen Strukturen von Gewerkschaften und Friedensbewegung sowie die ihnen zugrunde liegenden Organisationsprinzipien. Während die Gewerkschaften auf feste, klar strukturierte Organisationen mit einer im allgemeinen auf Dauer angelegten Mitgliedschaft angewiesen sind, zeichnet sich die Friedensbewegung durch eine Vielfalt verschiedener Organisationsansätze aus. So gibt es etwa auch Mitgliedsorganisationen wie die DFG-VK oder die IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs), nur können sie mit der Massenverankerung der Gewerkschaften auch nicht im Entferntesten mithalten. Andere Friedensinitiativen sind Expertengruppen oder den sog. Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) vergleichbar, die sich mit jeweils einer Spezialfrage der Friedensarbeit beschäftigen (z.B. mit Weltraumrüstung, Konversion, Wehrpflicht); manchmal schließen sie sich - im Verein mit anderen lokalen oder regionalen Initiativen - zu bundesweiten oder transnationalen Bündnissen auf Zeit zusammen (Beispiele: Landminenkampagne, "Atomwaffen abschaffen", Kampagne gegen Rüstungsexporte, Kleinwaffenkampagne). Politische Wirkung versuchen sie in erster Linie über parlamentarische Lobbyarbeit sowie über die Medien (einschließlich wissenschaftliche Fachpresse) zu erzielen. Und schließlich gibt es noch die vielen örtlichen Friedensinitiativen, die in der Regel über keinerlei formalisierte Strukturen verfügen und ihre Angelegenheiten im besten Sinne basisdemokratisch erledigen. Was zählt, ist einzig die Aktivität der "Aktivisten". Ehrenamtlichkeit also hier, Professionalität und ein effektiver hauptamtlicher Apparat dagegen bei den Gewerkschaften. Anders scheinen deren gewachsene Aufgaben - von der "Verwaltung" und Betreuung der Mitglieder über die Vorbereitung und Durchführung von Arbeitskämpfen bis hin zur Formulierung und Durchsetzung wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele in den parlamentarischen Vertretungsorganen des Staates - nicht mehr wahrgenommen werden zu können. Nicht selten allerdings sind die Machtpotenziale solcher Großorganisationen mit einer mangelnden Flexibilität und Spontaneität verbunden. Nicht die Aktivität der einzelnen Mitglieder steht im Vordergrund, sondern das Funktionieren des Gewerkschaftsapparats.
(5) Die unterschiedlichen organisatorischen Voraussetzungen sind bis zu einem gewissen Grad auch Ursache für das divergierende Politikverständnis von Gewerkschaften und Friedensbewegung. Ein gut funktionierender gewerkschaftlicher Apparat ist einerseits unerlässlich zur finanziellen, politischen und organisatorischen Vorbereitung von Arbeitskämpfen, den wichtigsten gewerkschaftlichen Äußerungsformen, andererseits befördert er auch eine Haltung, die sehr treffend mit dem Wort von der "Stellvertreterpolitik" bezeichnet wird - was übrigens wiederum Gift ist für Arbeitskämpfe. Das Mitglied delegiert sozusagen seinen Willen und seine - für sich allein genommen geringe - Macht an die Organisation, ohne über ausreichende Möglichkeiten zu verfügen, den Gebrauch der übertragenen Macht durch die Organisation zu kontrollieren. Die strukturelle Beschneidung demokratischer Partizipation durch die eingefahrenen Mechanismen des bürgerlichen Parlamentarismus (Abgabe des politischen Mandats bei der Wahl für die Dauer der Wahlperiode!) hat sich so auch in den Gewerkschaften eingenistet. Der Friedensbewegung ist eine solche partizipatorische Enthaltsamkeit fremd. Sie lebt von der unmittelbaren Beteiligung ihrer Mitglieder/Aktivisten an der Formulierung und praktischen Ausführung der in der Initiative beschlossenen Politik - es ist eine "authentische" Politik. Sie unterscheidet sich von der Politik der Gewerkschaften auch in der Form, im Gegenstand und im Adressaten. Gewerkschaften setzen in erster - und letzter - Instanz immer auf das Kampfmittel der kollektiven Arbeitsverweigerung, haben ihren Adressaten also sowohl im Arbeitgeber als auch in der eigenen Mitgliedschaft (die für den Kampf gewonnen und "mobilisiert" werden muss). Darüber hinaus gehende politische Ambitionen der Gewerkschaften erschöpfen sich meist in der Rhetorik von Delegiertenkonferenzen, Gewerkschaftstagen und besonderen kalendarischen Ereignissen (1. Mai). Die Friedensbewegung hat demgegenüber zwar den Vorteil, "von Anfang an" politisch zu sein, einen politischen Adressaten zu haben (meistens Regierung) und außerdem an die Öffentlichkeit in ihrer Eigenschaft als "politische Öffentlichkeit" zu appellieren. Sie muss sich auf der anderen Seite aber mit lediglich "symbolischen" Handlungen begnügen, mit politischen Aktionen und Kampagnen, die in erster Linie auf Aufklärung und Überzeugung von Menschen(gruppen) abzielen und kein unmittelbares politisches Ergebnis haben können.
(6) Den Internationalismus haben sowohl die Gewerkschaften als auch die Friedensbewegung auf ihre Fahnen geschrieben. Internationale Arbeitersolidarität haben die Gewerkschaften schon in ihren Kinderschuhen geübt (z.B. bei grenzüberschreitenden Zuzugsverboten bei Streiks) und wichtige identitätsstiftende Ereignisse (z.B. 1. Mai) haben weltumspannende Ausstrahlung gehabt. Gleichwohl hat sich dieser Internationalismus in der Praxis der Gewerkschaften zunehmend verflüchtigt. Im Grundsatzprogramm des DGB von 1997 ist gewerkschaftlicher Internationalismus auf die Herstellung des "freien Welthandels" und auf die "Öffnung der Märkte" der Entwicklungsländer (wofür diese im Gegenzug "demokratische Freiheitsrechte bekommen" sollen) reduziert: Beides firmiert dann unter der leicht irreführenden Kapitelüberschrift "Für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung" Auch im Bewusstsein der Masse der Mitglieder dürfte eher nationales Standortwettbewerbsdenken vorherrschend sein, während internationale Klassensolidarität nur von wenigen gedacht wird. Selbst in der Europäischen Union mit ihren trotz aller nationalen Unterschiede doch vergleichbaren ökonomischen und sozialen Strukturen kommen die internationalen Gewerkschaftsbünde über ein Schattendasein von ein paar relativ abgehobenen Funktionärs- und Expertenbüros nicht hinaus. Den einzigen relevanten Versuch zu einer länderübergreifenden Interessenvertretung stellen die Europäischen Betriebsräte dar, die es mittlerweile in einer Reihe von Transnationalen Konzernen gibt. Natürlich tut sich die Friedensbewegung auch auf dem Feld des Internationalismus leichter. Schon allein aufgrund der Beschäftigung mit Themen und Problemfeldern der internationalen Politik ist ein Denken in internationalen Kategorien in der Friedensbewegung stärker verankert. Die Beschäftigung mit den globalen Folgen des Einsatzes von Atomwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen hat hierzu ebenso beigetragen wie die Kriegsursachenforschung, die den kapitalistischen Industrieländern des "Nordens" ein gerüttelt Maß an Schuld für Elend und (Bürger-)Kriege im "Süden" gibt. Außerdem hat auch praktische länderübergreifende Zusammenarbeit in der Friedensbewegung Tradition: Die Friedensgesellschaft war von Anfang an eine "Internationale" der Kriegs(dienst)gegner; die IPPNW wurde in den 80er Jahren - im Gefolge der Auseinandersetzung um die Raketenstationierung - als internationale Organisation gegründet mit einer deutschen "Sektion"; und zahlreiche politische Kampagnen der Friedensbewegung nehmen wegen ihres allgemeinen Charakters internationale Ausmaße an (z.B. die Landminen-Kampagne oder die Kampagne "Abolition 2000-Atomwaffen abschaffen"). Selbst lokale Initiativen verfügen häufig über direkte Kontakte zu Friedensgruppen im Ausland.
(7) Ein weiterer Unterschied zwischen Gewerkschaften und Friedensbewegung scheint mir bedeutsam: Beide Bewegungen stützen sich jeweils auf verschiedene soziale Träger. Bei den Gewerkschaften sind es nach wie vor überwiegend - industrielle - Arbeiter und Angestellte sowie Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes einschließlich ihrer inzwischen privatisierten Bereiche, wobei qualifizierte Facharbeiter aus Großbetrieben zahlenmäßig dominieren und politisch den "Ton angeben". Die Friedensbewegung rekrutiert sich vorwiegend aus den sog. "Mittelschichten". Lehrer, Sozialarbeiter, Studierende, Selbständige (mit akademischer Ausbildung), mittlere bis höhere Angestellte und Beamte, Ärzte, Wissenschaftler: Sie bilden das Rückgrat der lokalen Basisinitiativen, der "Expertengruppen" und Nicht-Regierungsorganisationen. Industriearbeiter oder "typische" Gewerkschafter gehören zu den umworbenen, aber selten gesehenen Gästen der Friedensbewegung.
II Aktuelle Aufgaben und Chancen der Friedensbewegung
Nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen zu den strukturellen Voraussetzungen von Friedens- und Gewerkschaftsarbeit möchte ich im zweiten Teil auf die spezifischen Leistungen und die politischen Aufgaben und Chancen der Friedensbewegung eingehen.
Seit den großen Massenaktionen Anfang der achtziger Jahre muss die Friedensbewegung damit leben, an ihnen gemessen zu werden. Dabei wird ihr dieser Vergleich nicht nur von außen aufgezwungen (v.a. durch die Medien: "Wo bleibt die Friedensbewegung?"). Die Friedensbewegung trägt durch ihre Orientierung auf massenhafte Aktionen (Demos, Kundgebungen, Unterschriftensammlungen usw.) selbst auch dazu bei, den Vergleich mit den glorreichen achtziger Jahren ständig zu provozieren. Diesem Dilemma wird sich die Friedensbewegung nicht einfach durch die Propagierung eines völlig neuen Politikverständnisses und -stils entziehen können. Gewiss: Es wird immer Zeiten geben, in denen politische und soziale Bewegungen kleinere Brötchen backen müssen. Am Anspruch aber, durch Überzeugung der Mehrheit der Gesellschaft und der Mobilisierung großer Menschengruppen verändernd in die Politik eingreifen zu können, das heißt politikfähig zu sein, wird sich nichts ändern.
Die Friedensbewegung der achtziger Jahre speiste sich aus vielen Quellen. Ausschlaggebend für ihren Aufschwung zur bis dahin größten außerparlamentarischen Protestbewegung der Nachkriegszeit waren vor allem:
-
erstens die bevorstehende, als unmittelbare existenzielle Bedrohung empfundene Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen;
- zweitens die sich abzeichnende (und im Westen öffentlich wahrgenommene) Bereitschaft der Warschauer-Pakt-Staaten zu weitreichenden Abrüstungsverhandlungen einschließlich hierfür in Aussicht gestellter einseitiger Abrüstungsschritte;
- drittens waren viele Menschen des jahrzehntelangen Kalten Kriegs mit seinem nervenaufreibenden Atompoker, den zunehmenden heißen "Stellvertreter"-Kriegen, der als pure Vergeudung empfundenen Rüstungsspirale und des staatlich verordneten Feindbildes überdrüssig geworden;
- viertens waren mit der Umwelt- und Antiatombewegung und anderen neuen sozialen Bewegungen nicht nur neue Protestformen sondern auch eine neue Art, über Politik zu reden und zu verhandeln, entstanden.
Eine neue Radikalität im Denken (Atomwaffen ganz abschaffen, einseitig abrüsten u.dgl.) verband sich mit einer demonstrativen Toleranz und Duldsamkeit gegenüber Andersdenkenden und einem unbedingten Einigungswillen innerhalb des harten Kerns der Friedensbewegung. Diese faszinierende Mischung erreichte und überzeugte Millionen von Menschen.
Die Friedensbewegung der achtziger Jahre war keine Jugendbewegung. Der größte Teil ihrer aktiven Kerne hatte bereits einschlägige politische Erfahrungen aus außerparlamentarischen Bewegung, sei`s der "alten" Ostermarschbewegung, sei`s der Gewerkschaftsbewegung oder eben der schon erwähnten Umweltbewegung bzw. anderer "Alternativ"bewegungen einschließlich der mittlerweile zu Unrecht in Verruf geratenen "Achtundsechziger". Das Durchschnittsalter der Friedensaktivisten dürfte zwischen 30 und 40 Jahren betragen haben. Die Attraktivität der Bewegung für junge Menschen, sich an größeren Aktionen (Demos, Aktionen des "zivilen Ungehorsams") zu beteiligen, ergab sich zum Teil aus den unkonventionellen Protestformen selbst, zum Teil aus der generationsübergreifenden politischen Betroffenheit: der Angst vor einem Atomkrieg. Es gehört zu den größten Leistungen der damaligen Friedensbewegung, diese Angst, die ja auch hätte lähmen können, produktiv in politischen Massenprotest umgesetzt zu haben.
Angst war auch ein weit verbreitetes Motiv, das Anfang 1991 massenhaft junge Menschen gegen den drohenden Golfkrieg auf die Straße trieb. Befürchtet wurde vor allem, dass es sich bei diesem Krieg um den Beginn eines globalen Krieges zwischen Erster und Dritter Welt handeln könnte, um eine Krieg, in dem es um die (Neu-)Verteilung von Ressourcen zulasten der Dritten Welt und um einen "Umweltkrieg" ging, bei dem alle verlieren würden. Entsprechend hoch war das Engagement von Schülern und Studierenden, die von der Lehrer- und Eltern-Protestgeneration der 70er und 80er Jahre für solche Themen hinreichend sensibilisiert worden waren. Hier erwies sich die flächendeckende Existenz der schon etwas in die Jahre gekommenen Friedensbewegung als wichtige Voraussetzung dafür, diese spontanen Proteste politisch zu strukturieren, bundesweit zu koordinieren und ihnen eine gewisse Kontinuität zu verleihen. Im Hofgarten in Bonn fand damals die letzte große Friedenskundgebung (mit rund 100.000 Menschen) statt. - Weitgehend von Schülern getragen war auch die - allerdings nur sehr kurze - Protestwelle gegen die französischen Atomwaffentests im Südpazifik 1995.
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die politischen Rahmenbedingungen für die Friedensarbeit grundlegend verändert. Der Kalte Krieg war (zumindest in Europa) überwunden, in der Welt schienen sich prinzipiell bessere Chancen auf eine friedlichere Zukunft herausgebildet zu haben, die Gefahr eines Atomkriegs zwischen den Supermächten schien ein für allemal überwunden zu sein, die weltweiten Rüstungsausgaben sanken erheblich. Auf der anderen Seite wurde die Welt von einer zunehmenden Welle regionaler, meist innerstaatlicher Kriege und Gewaltkonflikte heimgesucht, Regionen wie der Nahe Osten oder Südostasien rüsteten weiter auf, die Probleme in großen Teilen der unterentwickelten Welt und in den sog. Transformationsländern (Massenarbeitslosigkeit, Armut, Umweltzerstörung, Migration, innergesellschaftliche Gewalt) nahmen zu und die hochentwickelten Staaten der Ersten Welt begannen Vorkehrungen zu treffen, sich vor den negativen Folgen dieser Prozesse zu schützen (Stichwort "Festung Europa"). Innergesellschaftlich setzten sich die Segmentierungs- und Entsolidarisierungsprozesse weiter fort und begünstigten eine scheinbare Entpolitisierung insbesondere jüngerer Menschen (Stichwort "Spaßgesellschaft"), die sich bei genauerem Hinsehen als eine höchst problematische Anfälligkeit für die ideologischen Versatzstücke des Neoliberalismus (shareholder value, Globalisierung, Privatisierung, Entstaatlichung, Vermarktwirtschaftlichung) einschließlich ihrer in das Alltagsleben übertragenen Verhaltensweisen ("Ellbogenmentalität") entpuppte. Die in der neuen Shell-Jugendstudie vorgenommene Einteilung der Jugendlichen in "selbstbewusste Macher", "pragmatische Idealisten" und "robuste Materialisten" unterstreicht diesen Trend. Begreiflicherweise hatte es die Friedensbewegung (aber, was kein Trost ist, nicht nur sie) schwer, gegen den Mainstream der veröffentlichten Meinung ihre Mahnungen und Bedenken vorzubringen.
Radikal hatte sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der genannten (Welt-)Probleme und ihrer politisch-militärischen "Bearbeitung" durch die Regierenden. geändert. Die Teilnahme der Bundeswehr am NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurde u.a. auch deshalb nicht zum Gegenstand großer gesellschaftlicher Debatten und Auseinandersetzungen, weil sich die Gesellschaft in nur geringem Maße davon wirklich betroffen fühlte. Die soziale Segmentierung und Professionalisierung hatte ja auch dazu beigetragen, dass das militärische und Kriegshandwerk zunehmend als Job wie jeder andere angesehen wurde, für den sich junge Männer (ab 2001 auch Frauen) frei entscheiden können, während die große Masse der Jugendlichen andere Karrieren vorzieht. Da man sich seit der Liberalisierung des Kriegsdienstverweigerungsrechts kaum noch mit dem Kriegsdienst existenziell und politisch auseinandersetzen muss, wird er als eine unter vielen Möglichkeiten akzeptiert - auch wenn man ihn für sich selbst ausschließt. Auch die fortschreitende Privatisierung und Entstaatlichung des Krieges weltweit suggeriert eine grundsätzliche Wahlmöglichkeit für den Einzelnen. Hinzu kommen die geografische Ferne der Kriegsschauplätze und die zunehmende Technisierung der Kriegführung, die kaum noch den Menschen (ob Kombattant oder Zivilist) ins Blickfeld rückt.
Demgegenüber haben die Terroranschläge vom 11. September 2001 unmittelbare Betroffenheit in breiten Kreisen der Bevölkerung hier zu Lande hergestellt. Politik und Medien sind seither damit beschäftigt, sowohl die Angst vor dem internationalen Terrorismus aufrechtzuerhalten als auch Sicherheit zu suggerieren. Das erste geschieht durch die Dauer-Thematisierung der Allgegenwart terroristischer Gefahren in global vernetzten komplexen Gesellschaften, das zweite geschieht durch die Vortäuschung wirksamen Schutzes in Form von neuen Sicherheits- und Anti-Terrorgesetzen und von Krieg, der jetzt nicht mehr als "humanitäre" Intervention wie im Fall des Jugoslawien-Krieges, sondern als "Kampf gegen den Terror" deklariert wird. Es gehört zu den großen Leistungen der Friedens- und globalisierungskritischen Bewegung, dieser Propaganda durch eine plausiblere Argumentation die Schau gestohlen zu haben. Insbesondere zwei Argumentationsfiguren - die eine aus dem Arsenal der Friedensbewegung, die andere aus dem der globalisierungskritischen Bewegung - beherrschten die öffentlichen Diskussionen nach dem 11. September: Einmal die Behauptung, jede Art militärischen Vorgehens müsse als Vergeltung oder Rache aufgefasst werden und trage nur zur weiteren Eskalation der Gewalt bei ("Gewaltspirale"). Anschauungsunterricht kann man bis zum heutigen Tag vom (Bürgerkriegs-)Schauplatz Naher Osten beziehen. Zum anderen setzte sich erstaunlich schnell die Formel vom "Nährboden" des Terrorismus durch, den es trocken zu legen gilt, wenn man dauerhafte Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus erzielen will. Die Wirkung dieses Arguments war so durchschlagend, dass man ihm fast schon den Rang eines geistigen Allgemeingutes einräumen darf. Immerhin wurden nicht zuletzt deshalb auch dem Entwicklungshilfeministerium bei den Haushaltsberatungen 200 Millionen DM zusätzlich versprochen: Wer den Armen mehr gibt, muss sich vor deren Zorn weniger fürchten. Auf die argumentative Kraft und die Breitenwirkung der globalisierungskritischen Bewegung (v.a. Attac) wird es ankommen, ob dieses Argumentationsmuster an Tiefenschärfe gewinnt und auch künftig dem gesellschaftspolitischen Diskurs über die Ursachen von Terror und Gewalt seinen Stempel aufdrücken kann. Deshalb sollte auch der Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 zum Gedenktag der Friedensbewegung gemacht werden, damit er nicht zur weiteren Kriegspropaganda genutzt werden kann, sondern zum Frieden durch globale Gerechtigkeit mahnt.
Die beiden bundesweiten Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen am 13. Oktober 2001 und am 21. und 22. Mai 2002 bestätigen , dass die Friedensbewegung einen guten Schritt nach vorn gemacht hat. Erstmals seit dem Golfkrieg ist es ihr gelungen, über zentrale Aktionen (am 22. Mai auch dezentral mit dem "Bushtrommeln") nicht nur von sich reden zu machen und ihre organisatorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, sondern auch wieder zu einem Medienereignis zu werden. Überraschend an der Demo in Berlin war nicht ihre zahlenmäßige Größe, sondern ihr jugendliches und "kreatives" Erscheinungsbild. Die Friedensbewegung profitierte hier eindeutig von der Tatsache, dass der US-Präsident nicht "nur" für irgendwelche heißen Kriege in der Welt steht, sondern dass er auch die negative Symbolfigur für alle Schandtaten und Ungerechtigkeiten abgibt, die der globale neoliberale Kapitalismus und seine "Agenturen" (z.B. IWF) begehen. Trotz der beschriebenen Entsolidarisierungs- und Segmentierungsprozesse hat ein nennenswerter Teil der Gesellschaft nicht aufgehört, soziale Gerechtigkeit, interkulturellen Austausch und ökologische Nachhaltigkeit in globalen Zusammenhängen zu denken. Offensichtlich lassen sich Jugendliche nicht mehr so einfach mit den Kategorien der "Freizeit"- oder "Spaßgesellschaft" beschreiben. Eine ernst zu nehmende Minderheit von ihnen ist engagiert und macht sich ihre eigenen Gedanken über die Zukunft unserer Erde. Damit geraten sie unweigerlich in Widerspruch zur herrschenden Politik der Führungsmacht der westlichen Welt.
In der Tat gehen die größten Gefahren für den Weltfrieden heute von den USA aus. Dies entschuldigt nicht die europäischen Staaten einschließlich der rot-grünen Bundesregierung, die den US-"Krieg gegen den Terror" politisch unterstützt und - je nach "Bestellung" der USA - militärisch mitgetragen haben bzw. noch mittragen. In Bezug auf die US-Kriegsvorbereitungen gegen den Irak (die Planungen sollen bereits sehr weit gediehen sein) hat die bisherige Allianz allerdings deutliche Risse bekommen. Ein Krieg gegen den Irak trifft weder auf die Zustimmung in der Bevölkerung (Umfragen sprechen von über 80 % Ablehnung), noch auf die ansonsten "uneingeschränkte Solidarität" der derzeitigen Bundesregierung und der meisten anderen europäischen Regierungen. Es gilt diesen transatlantischen Widerspruch auszunutzen und die Kampagne gegen das Kriegsabenteuer Irak weiter zu führen. Dabei ist ein Streit darüber irreführend, ob der Schwenk von Rot-Grün vornehmlich aus wahltaktischen Gründen vorgenommen wurde oder ob sich hierin erste Konturen einer Neupositionierung eines eigenständigen deutschen, vielleicht auch eines europäischen "Imperialismus" zeigen. Beides ist nämlich richtig. Für uns kommt es in jedem Fall darauf an, die Politik beim Wort zu nehmen und entsprechendes Regierungshandeln einzufordern. Beim drohenden Irak-Krieg, der schwieriger, größer und verlustreicher sein wird als alle vorhergehenden US-Kriege nach Vietnam, ist die US-Administration nicht so sehr militärisch, wohl aber politisch auf die Unterstützung aus Europa angewiesen. In Europa liegt demnach auch für uns der Schlüssel, diesen Krieg doch noch zu verhindern. Hierauf müssen alle Anstrengungen der nächsten Tage und Wochen gerichtet werden.
Es ist hier nicht die Zeit, die Palette der sonst noch wichtigen Themen, die auf der Agenda der Friedensbewegung stehen, aufzufächern. Wie bisher zieht die Friedensbewegung auch künftig einen Teil ihrer Stärke aus ihrer Vielfalt, einer Vielfalt an unterschiedlichen Projekten und Themen und einer Vielfalt verschiedener politischer Ansätze und Aktionsformen. Was dennoch vonnöten ist, ist das Zusammenführen möglichst aller Kräfte der Friedensbewegung in Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit. Solche Angelegenheiten wird es angesichts des erklärten permanenten "Kriegs gegen den Terror" in Zukunft immer häufiger geben. Aus diesem Grund plädiere ich - wo immer es geht - für eine Fortsetzung der bundesweiten "Achse des Friedens", die auch schon die Großdemonstration anlässlich des Bush-Besuchs in Berlin organisierte - allerdings auf einer sehr viel breiteren Grundlage, was die Einbeziehung bislang abseits stehender ("Groß"-)Organisationen betrifft. Ich bin zuversichtlich, dass das vor kurzem ins Leben gerufene "Gewerkschaftliche Netzwerk gegen den Krieg" gute Dienste leisten wird, wenn es darum geht, die in der Bevölkerung tief verankerte Kriegsresistenz in zielgerichtetes gewerkschaftliches Handeln umzusetzen. Der vom DGB-Kongress im Mai d.J. verabschiedete Initiativantrag bietet eine gute Grundlage, hier mehr Engagement einzufordern. Dieses Engagement brauchen wir jetzt dringend, um mit vereinten Kräften den drohenden US-Krieg gegen Irak vielleicht doch noch abzuwenden.
* Dr. Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler und Mitglied der Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel. Außerdem ist er einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag
Die Vorträge und Kongressergebnisse sollen in Kürze beim Verlag VSA (Hamburg) erscheinen.
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